Epistolare Narrationen. Margot Neger

Epistolare Narrationen - Margot Neger


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an den Anfang zurück, indem hier erneut die Person des Adressaten ins Spiel kommt (habes res urbanas). Nachdem wir zusammen mit Plinius (und Arrianus – vgl. 11: imaginare) geistig den römischen Senat betreten haben, lenkt Plinius den Blick jetzt wieder aufs Land (invicem rusticas scribe – vgl. 1: secesseris), erkundigt sich nach arbusculae, vineae, segetes und oves und fordert Arrianus auf, mit einem ebenso langen Brief (aeque longam epistulam) zu antworten – andernfalls werde Plinius nur mehr kurze Briefe (brevissimam) schreiben.

      Dem Motiv der Kürze begegnen wir auch am Anfang des folgenden Briefes wieder, der die Fortsetzung zu 2,11 bildet und so den juristischen Briefroman über die Priscus-Verhandlung komplettiert.44 Das in 2,11,25 angekündigte λιτούργιον über den Fall des Firminus ist kürzer ausgefallen als erwartet (2,12,1: circumcisum tamen et adrasum)45, und auch der Brief an Arrianus ist diesmal deutlich weniger umfangreich als der vorhergehende Text46 – offenbar hat Arrianus noch nicht geantwortet (vgl. 2,12,7). Den zeitlichen Abstand zwischen diesem und dem letzten Brief deutet Plinius durch das Adverb proxime (1) an, womit ein Zeitraum von etwa drei Wochen gemeint sein dürfte;47 in 2,12,6 vermutet Plinius aus der mittlerweile verstrichenen Zeit (ex spatio temporis), dass Arrianus den Brief 2,11 schon erhalten hat, und bittet ihn abermals um eine ausführliche Antwort, diesmal auf beide Briefe (7: tuae nunc partes, ut primum illam, deinde hanc remunereris litteris, quales istinc redire uberrimae possunt).48

      Die eigentliche narratio über die Senatssitzung, in der über Firminus verhandelt wird, fällt relativ kurz aus: Wir erfahren, dass Cornutus Tertullus den Antrag stellt, Firminus aus dem Senatorenstand auszuschließen, und Acutius Nerva49 vorschlägt, ihn bei der Auslosung der Provinzen nicht zu berücksichtigen (2). Diesmal siegt der scheinbar mildere Antrag des Acutius Nerva, was Plinius dazu veranlasst, im Hauptteil des Briefes seiner indignatio über diese Entscheidung Ausdruck zu verleihen (3‒5): In einer Reihe von quid-Fragen (3‒4)50 argumentiert er, dass es in Wahrheit die härtere Bestrafung sei, zwar Mitglied des Senatorenstandes zu bleiben, aber von den Privilegien dieses ordo abgeschnitten zu sein. Zum Schluss wird der Ton wieder etwas ruhiger, wenn Plinius in Anlehnung an den Staatsphilosophen CiceroCiceroRep. 6.4 pointiert resümiert, dass in der gängigen Abstimmungspraxis die Stimmen zwar gezählt, jedoch nicht gegeneinander abgewogen würden (5: numerantur enim sententiae, non ponderantur)51 und in einer öffentlichen Versammlung nichts so ungleich sei wie die Gleichheit (nihil…tam inaequale quam aequalitas ipsa).52

      Im Unterschied zu Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 fällt auf, dass Plinius in 2,12 überhaupt nicht als Akteur in der Verhandlung über Firminus auftritt; stattdessen begegnet er uns als Prozess-Beobachter und -Kommentator. Zumindest aus dem positiven Bild, das Plinius in 2,11,19 und an anderer Stelle von Cornutus Tertullus zeichnet53, können wir schließen, dass er zu der Gruppe von Senatoren gehörte, die in der Abstimmung auf der Seite des Tertullus standen und unterlagen. Begegnet uns in Epist. 2,11 der erfolgreiche Plinius, thematisiert das companion piece 2,12 seinen Misserfolg.54 Hat Epist. 2,11 die Form einer langen narratio, ist der folgende Brief wieder stärker im loqui-Stil gehalten, und Anspielungen auf Werke wie Ciceros De re publica rufen die Theorie vom Brief als Hälfte eines Dialogs ins Gedächtnis.

      Obwohl Plinius schon vor dem Prozess gegen Marius Priscus im Repetundenverfahren gegen Baebius Massa (vgl. 1,7Plinius der JüngereEpist. 1.7 und 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33) aufgetreten war und der Prozess gegen Caecilius Classicus (vgl. 3,4Plinius der JüngereEpist. 3.4 und 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9) etwa zur selben Zeit stattfand wie derjenige gegen Priscus55, verteilt der Epistolograph die betreffenden Briefe über diese Ereignisse auf verschiedene Bücher ohne Rücksicht auf die Chronologie.56 Wir bekommen hier – natürlich in sehr selektiver Weise – Hintergrundinformationen zu den Reden, die Plinius bei diesen Anlässen hielt: „Pliny becomes, in effect, a sort of commentator, his own Asconius“ (Mayer 2003: 230). Die Kommentierung eines Autors ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu seiner Kanonisierung; indem Plinius epistolare Kommentare zu seinen eigenen Reden liefert (dazu lassen sich auch Briefe über stilkritische Fragen zählen) und diese als nur für den betreffenden Adressaten bestimmte Neuigkeiten aus der Stadt (res urbanae) „tarnt“, betreibt er indirekt seine Selbstkanonisierung als Redner.Plinius der JüngereEpist. 2.11/12

      Wie schon zuvor erwähnt, geht Plinius in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 mit keinem Wort auf den Charakter seiner Rede ein, wohingegen der Redestil des Tacitus sowie der gegnerischen Anwälte zumindest kurz umrissen wird (2,11,17‒18). Erst die Lektüre des Briefes 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19, in dem Plinius von einer Rede, die er in einem Repetundenprozess gehalten hat (8), berichtet, suggeriert dem Leser einen Zusammenhang mit Epist. 2,11.57 Der Brief 2,19 ist an einen Cerialis gerichtet, bei dem es sich um den in 2,11,9 erwähnten Konsular Tuccius Cerialis handeln könnte58, sodass auch über den Adressatennamen ein Rückbezug zu dieser Epistel bestünde. Cerialis hatte Plinius aufgefordert, eine Rede vor Freunden zu rezitieren (1: hortaris, ut orationem amicis pluribus recitem), was den Epistolographen dazu veranlasst, den Unterschied zwischen vor Gericht gehaltenen und im Rezitationssaal vorgetragenen Reden zu erörtern59 und auf die Beschaffenheit seiner Gerichtsrede näher einzugehen. Der Brief steht innerhalb des Buches an vorletzter Stelle und behandelt zum ersten Mal innerhalb des Korpus Plinius’ Rolle als Rezitator seiner eigenen Reden,60 was wohl nicht zufällig wenige Briefe nach der Schilderung des spektakulären Priscus-Prozesses erfolgt. Zudem verweist das Brief-Incipit hortaris ut verbal zurück auf den Beginn der ersten EpistelPlinius der JüngereEpist. 1.1.1 (1,1,1: frequenter hortatus es, ut), sodass Buch 1 und 2 durch das Motiv des Aufforderns zum Publizieren bzw. Rezitieren gerahmt sind.61 Auch der Anfang von Epist. 2,5Plinius der JüngereEpist. 2.5 wird aufgegriffen (1: actionem et a te frequenter efflagitatam et a me saepe promissam exhibui tibi), wo Plinius als Lobredner auf seine Heimat Comum in Erscheinung tritt und seinen Adressaten Lupercus um Emendation dieser Rede bittet.62 Das Briefpaar 2,11‒12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 über den Priscus-Prozess wird also von zwei jeweils durch fünf bzw. sechs Briefe getrennten Episteln über theoretische Fragen zu Stil, Lektüre und Rezitation von Reden eingerahmt.

      In Epist. 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19 legt Plinius dar, dass sich eine vor Gericht gehaltene Rede durch folgende Faktoren gegenüber einer vorgelesenen auszeichne (2):

      iudicum consessus, celebritas advocatorum, exspectatio eventus, fama non unius actoris diductumque in partes audientium studium, ad hoc dicentis gestus, incessus, discursus etiam, omnibusque motibus animi consentaneus vigor corporis.

      Neben den hier aufgezählten63 Rahmenbedingungen, die eine bestimmte Atmosphäre im Gerichtssaal erzeugen (Versammlung der Richter, große Zahl der Anwälte, Neugierde auf den Ausgang, Berühmtheit der Redner, geteilte Sympathien der Zuhörer) sind es vor allem der Körperausdruck und die Bewegungen des Redners, die den Unterschied zu einer im Sitzen vorgetragenen Rede (3) ausmachen.64 Bei letzterer seien die wichtigsten Hilfsmittel des Redners, seine Augen und Hände, stark eingeschränkt (4). Ähnliche Ausführungen zur stärkeren Wirkung einer gehaltenen bzw. gehörten Rede gegenüber einer gelesenen oder vorgetragenen hatte Plinius in Epist. 2,3Plinius der JüngereEpist. 2.3 im Rahmen des Porträts vom Redner Isaeus65 gemacht (9): altius tamen in animo sedent, quae pronuntiatio, vultus, habitus, gestus etiam dicentis adfigit. Um dies zu exemplifizieren, bringt Plinius im selben Brief die berühmte Anekdote von AischinesAischinesOr. 3.167, der bei den Rhodiern unter großer Bewunderung die Kranzrede des Demosthenes vorgelesen hatte66 und dann zugestehen musste (10): τί δέ, εἰ αὐτοῦ τοῦ θηρίου ἠκούσατε; et erat Aeschines si Demostheni credimus λαμπροφωνότατος.


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