Epistolare Narrationen. Margot Neger
des Aischines allerdings auf Latein zitiert wird: quanto…magis miraremini, si audissetis ipsum!67 Indem Plinius Aischines auf Griechisch sprechen lässt, scheint er insinuieren zu wollen, dass seine VersionPlinius der JüngereEpist. 2.3 höhere Authentizität besitzt.68 Die Ausführungen des Epistolographen über den stärkeren Effekt der actio gegenüber der recitatio in Epist. 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19 lassen den linearen Leser somit an den Anfang des zweiten Briefbuches zurückdenken und eine Parallele zwischen den Reden des Plinius und denjenigen des Demosthenes herstellen.
Nach den theoretischen Überlegungen zu actio und recitatio äußert sich Plinius zur stilistischen Ausgestaltung seiner Rede: sie sei pugnax et quasi contentiosa (5) sowie austera et pressa (6), was dem Geschmack des Publikums einer Rezitation, das dulcia et sonantia (6) vorziehe, nicht entgegenkomme.69 Ungeachtet dieser Schwierigkeiten, so fährt Plinius fort, können seine Rede vielleicht durch ihre Neuartigkeit bei den Römern (7: novitas apud nostros) Gefallen finden, da er hier in umgekehrter Analogie (7: quamvis ex diverso, non tamen omnino dissimile) eine Strategie aus der griechischen Gerichtspraxis adaptiert habe: Dort sei es üblich gewesen, Gesetze, die mit älteren Gesetzen im Widerspruch standen, durch Vergleich mit anderen Gesetzen zu widerlegen ‒ eine Anspielung auf die γραφὴ παρανόμων, wie sie etwa im Prozess zwischen Demosthenes und Aischines um den von Ktesiphon für Demosthenes vorgeschlagenen Kranz im Zentrum steht;70 DemosthenesDemosthenesOr. 18 argumentiert in seiner Verteidigungsrede für Ktesiphon u.a. durch den Verweis auf Präzedenzfälle, dass der Angeklagte den Kranz für ihn nicht gesetzeswidrig beantragt habe.71 In Anlehnung an diese griechische Praxis habe PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.19 nachzuweisen versucht, dass seine Anklage nicht nur durch das Repetundengesetz, sondern auch andere Gesetze gestützt würde (8).72 Eine Anklage wie diejenige gegen Marius Priscus wird somit zu einem Fall stilisiert, wie ihn die großen attischen Redner hätten behandeln können. Plinius’ Vorgehensweise, so erfahren wir, stelle innerhalb des römischen Gerichtswesens eine Neuheit dar, wie sie nur von wahren Kennern der Materie (8: apud doctos) goutiert werden könne. Neben den intradiegetischen Zuhörern, die Plinius für seine Rezitation vorschweben, dürfte auch der allgemeine lector doctus der Briefsammlung gemeint sein, der – hinreichende Bildung in griechischer Rhetorik vorausgesetzt – die Anspielung auf Rechtsfälle wie denjenigen um Ktesiphon zu erkennen und einen Bezug zu der in Epist. 2,3Plinius der JüngereEpist. 2.3 erzählten Demosthenes-Anekdote herzustellen vermag.Plinius der JüngereEpist. 2.19
Als Kontrastbild zur Senatsverhandlung des Priscus-Falles, die Plinius zufolge dem Ideal der antiquitas entsprechend abgehalten wurde, begegnen wir einer Szene im Zentumviralgericht, von der wir in Epist. 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14 lesen.73 Nur durch einen Brief – 2,13Plinius der JüngereEpist. 2.13 an einen Priscus (!)74 – sind die beiden völlig unterschiedlichen Schilderungen zeitgenössischer Gerichtspraxis getrennt. Wurde in Epist. 2,11–12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 von einem „Highlight“ aus Plinius’ juristischer Karriere erzählt, zeichnet der Brief 2,14 an Maximus75 ein Porträt vom tristen Alltag.76 Anders als der Aufsehen erregende Priscus-Fall (2,11,1: actum…personae claritate famosum, severitate exempli salubre, rei magnitudine aeternum), spielt sich im Zentumviralgericht nichts Spannendes ab (2,14,1): Die meisten Fälle (causae) seien parvae et exiles; raro incidit vel personarum claritate vel negotii magnitudine insignis; deutlich sind hier die Anklänge an den Beginn von Epist. 2,11. Durfte Plinius die Anklage gegen Priscus zusammen mit einem Redner wie Tacitus bestreiten, so gibt es im Zentumviralgericht kaum mehr Kollegen, mit denen er plädieren will (2: ad hoc pauci, cum quibus iuvet dicere). Die Anordnung der Briefe im Buch suggeriert dem Leser somit eine zeitliche Progression bzw. vermittelt den Eindruck von einer Art Verfall der Redekunst. Die in Epist. 2,14Plinius der JüngereEpist. 2.14 geschilderten Verhandlungen dürften jedoch vor dem Priscus-Fall anzusetzen sein: In Epist. 10,3aPlinius der JüngereEpist. 10.3a lesen wir, dass Plinius die praefectura aerarii Saturni übernommen hat und für die Zeit seiner Amtsausübung – diese wird von Sherwin-White (1966: 75‒8) auf Januar 98 bis Ende August 100 n. Chr. datiert ‒ auf Tätigkeiten als Advokat verzichtet;77 lediglich für die Anklage gegen Marius Priscus bittet Plinius um eine Ausnahme beim Kaiser. In Brief 2,14 wiederum sagt Plinius von sich, dass er von Prozessen im Zentumviralgericht stark beansprucht werde (1: distringor centumviralibus causis), was sich dann eigentlich auf die Zeit vor der praefectura aerarii Saturni beziehen müsste.78 Die Platzierung dieses Briefes innerhalb des Buchkontextes suggeriert dem linearen Leser jedoch eine Antiklimax in Plinius’ Tätigkeit als Anwalt, wozu auch der lange otium-Brief 2,17Plinius der JüngereEpist. 2.17 sowie das negative Charakterporträt des Regulus in 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20 beitragen.79
Nachdem Plinius in Epist. 2,14 seinem Unmut über die unerfahrenen jungen Leute, die voller Selbstvertrauen im Zentumviralgericht agieren,80 Luft gemacht (2) und die althergebrachte Praxis des tirocinium fori dagegengehalten hat (3‒4: ante memoriam meam…nunc), geht er dazu über, in Manier eines Satirikers bzw. Scheltredners das zeitgenössische Claqueur-Wesen zu kritisieren (4‒13). Zunächst vergleicht er im Ton der Entrüstung (3: at hercule) das Eindringen der jungen Redner ins Zentumviralgericht mit dem Aufbrechen von Schranken (4: nunc refractis pudoris et reverentiae claustris omnia patent omnibus, nec inducuntur, sed inrumpunt),81 bevor er anschließend in einen knapperem Stil wechselt, wenn er das Gebaren der Claqueure skizziert (4): sequuntur auditores actoribus similes, conducti et redempti. Im Rahmen dieser chiastischen s- und a-Alliteration werden die auditores mit Schauspielern (actores) verglichen, da sie sich mieten lassen und den Applaus nur vorspielen,82 was auch durch den schleppenden Rhythmus in der Junktur conducti et redempti unterstrichen wird. Theatrale Elemente prägen auch die weitere Charakterisierung dieser Leute:83 Man bezeichne sie non inurbane als Σοφοκλεῖς bzw. als Laudiceni (5), ein Wortspiel, das auf ihr Bestreben, für Applaus zum Essen geladen zu werden, anspielt.84 Für die Choreographie des Beifalls ist ein mesochorus zuständig85, der den Claqueuren mit einem Zeichen den Einsatz des Applauses signalisiert (6) – die Ignoranz der Claqueure (7: non intelligentes) steht in deutlichem Kontrast zu der gebildeten Zuhörerschaft, die sich Plinius in Epist. 2,19Plinius der JüngereEpist. 2.19.9 wünscht (9: adhibituri sumus eruditissimum quemque).
Wie sehr sich die Zustände in der zeitgenössischen Beredsamkeit verschlechtert haben, illustriert PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.14 mit einer Anekdote, die einen Vorfall des Vortags behandelt (6): here duo nomenclatores mei (habent sane aetatem eorum, qui nuper togas sumpserint) ternis denariis ad laudandum trahebantur. Für drei Denare, die man etwa fünfzehnjährigen Jünglingen bezahlt, könne man bereits als disertissimus gelten. Plinius beschließt den Abschnitt über die gegenwärtige Krise mit der pointierten Formulierung scito eum pessime dicere, qui laudabitur maxime (8), bevor er zu einer Art aitiologischen Erzählung von den Anfängen dieser Unsitte übergeht (9‒11). Als primus inventor wird Larcius Licinus, ein Redner aus der julisch-claudischen Epoche,86 überliefert, so hat es Plinius zumindest von seinem Lehrer Quintilian gehört (9). Diesen lässt der Epistolograph sodann als intradiegetischen Erzähler ersten Grades auftreten87 und von einem Erlebnis mit seinem Mentor Domitius Afer88 berichten (10‒11):
narrabat ille: ‘adsectabar Domitium Afrum. cum apud centumviros diceret graviter et lente (hoc enim illi actionis genus erat), audit ex proximo immodicum insolitumque clamorem. admiratus reticuit; ubi silentium factum est, repetit, quod abruperat. iterum clamor, iterum reticuit, et post silentium coepit. idem tertio. novissime quis diceret quaesiit. Responsum est: “Licinus.” tum intermissa causa “centumviri”, inquit, “hoc artificium periit”’.
Das hier entworfene Bild von Quintilian, der Domitius Afer ins Zentumviralgericht begleitet, greift die zuvor von PliniusPlinius der JüngereEpist. 2.14 geschilderte altehrwürdige Praxis des tirocinium fori (3: ante memoriam meam)89 wieder auf. In der Basilica Iulia, wo die centumviri tagten, konnten vier verschiedene Verhandlungen gleichzeitig stattfinden, sodass offenbar auch die Geräuschkulisse entsprechend laut war.90 QuintilianQuintilianInst. 12.5.6