Luzy Bloom: Ab heute will ich S...x. Mizzi Malone
mich an.
„Ich kann ja verstehen, dass du schlecht drauf bist, Luzy, aber ‚Mord ist keine Lösung‘ geht einfach nicht.“
Wo er recht hatte, hatte er recht – also habe ich die Arbeit einer ganzen Woche vernichtet und mich wieder den hoffnungsvollen Seiten des Lebens zugewandt. „Findet mich das Glück?“ oder „Wo wartet mein Traumprinz?“
Bevor ich diese Serie meinem Chef geschickt habe, musste ich einsehen, dass sie vor Selbstmitleid nur so troff – also habe ich die Reißleine gezogen beziehungsweise ‚Delete‘ gedrückt. Danach ging es bergauf, mit meinen Sprüchen und meiner Zuversicht.
„Befreie dich von deinen Fesseln“, „Trau dich aus deinem Schneckenhaus“, „Sei offen für neue Erfahrungen“ – wahrscheinlich hat dieser Prozess wie eine Art Selbsttherapie gewirkt, auf jeden Fall hat er mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Glückskeks-Sprüche zu erfinden ist übrigens nicht meine einzige Einnahmequelle. Ich schreibe auch das Wochenhoroskop für eine Frauenzeitschrift. Und ab und zu verschafft mir Dina in ihrer Werbeagentur einen Job als Texterin. Aber mir verträumte Sprüche einfallen zu lassen und mir dabei vorzustellen, wie irgendjemand auf der Welt einen Glückskeks öffnet und mein kleiner Satz ihn oder sie zum Lächeln bringt, macht mir am meisten Spaß. Meine Freundinnen finden meinen Job cool.
„So würde ich auch gern mein Geld verdienen“, sagt Dina, die allerdings in ihrer Werbeagentur viel besser bezahlt wird. Unsere gemeinsame Freundin Elisa, die Pragmatikerin von uns, seufzt.
„Wenn es doch in meinem Job auch so einfach wäre, andere happy zu machen.“
Und die Vierte in unserem Bunde, Carmen – ehemals Carlos – findet: „Du bist selber ein Glückskeks!“
Meine Eltern sind allerdings der Meinung, dass ich unter meinen Möglichkeiten geblieben sei.
„Ist das nicht schrecklich anspruchslos? Warum wechselst du nicht in den Journalismus?“ Typisch meine Mutter.
„Willst du nicht wenigstens einen Roman schreiben?“, fragt mein Vater gern.
Aber mein älterer Bruder Vincent, der als Performance-Künstler in Paris mit anderen Künstlern irgendwelche Schrei-Videos produziert, ist der Meinung, dass Arbeit den Menschen glücklich machen soll und in der Welt etwas bewirken muss.
„Ist doch toll – irgendjemand steht vielleicht morgens auf, hat wieder einen total langweiligen Tag in seinem Bullshitbüro mit seinem Bullshitjob vor sich, überlegt schon auf dem Bahnsteig, ob er sich heute oder doch erst morgen vor die Bahn werfen soll, geht zufällig an diesem Mittag mit seinen Bullshitkollegen in ein Bullshitchinarestaurant, und noch bevor Nummer 114 auf der Karte ihm ein wenig Linderung in seinem Bullshitleben verschafft, liest er: ‚Es gibt einen Weg aus diesem Bullshitleben‘. Das kann alles verändern.“
Ich liebe dich, Vincent.
Gut, ganz so einflussreich bin ich wahrscheinlich nicht, aber ich mache mit meinen Glückskeks-Verheißungen auf jeden Fall niemanden unglücklich, und ich schade auch keinem.
Zurück zum Thema Joggen. Ich werde es vorerst nicht aufgeben, weil ich mich, wie gesagt, daran gewöhnt habe und weil ich mich für meine Abenteuerreise in Schuss halten will. Der kleine Schock neulich in der Umkleidekabine hat mir unmissverständlich klargemacht, dass man spätestens ab Mitte 30 anfangen muss, mehr für sich zu tun. Das heißt auch: Der abendliche Becher Schokoladeneis beim Binge-Watchen, wofür ich ja hoffentlich ab jetzt eh keine Zeit mehr haben werde, ist tabu, ebenso der Pizzaservice. Wobei, einer der Boten, der wohl Italiener ist – wieder so ein süßer Akzent – kommt immer total flirtiv rüber.
„Bella, ich habe halbe Stunde, willst du wirklich Pizza essen oder lieber mich vernaschen?“
Ich weiß zwar nicht, wie er heißt, aber ich könnte es im Rahmen meines Experiments mal drauf ankommen lassen. Dadurch würde ich mir nebenbei die eine oder andere Pizza Hawaii in die Wohnung schummeln. Gute Idee!
Neuerdings ziehe ich zum Joggen jeden Tag mein neues Sportoutfit an, denn es ist Sommer und ich finde mich damit eindeutig anziehender als mit langen Leggings. Ich fahre mit meinem Mini etwa zehn Minuten zu dem Naturschutzgebiet. Erst geht es durch die Straße, in der ich wohne. Hier mischen sich sämtliche Baustile der Jahrzehnte nach 1900 – ich selbst wohne in einem modernen Neubau mit Holzfußboden, offener Küche, einem schicken, schwarz gefliesten Bad und viel Glas. Je näher man dem Naturschutzgebiet kommt, umso edler werden die Immobilien. Am Ende stehen einzelne Villen mit großen, prächtigen Gärten, in denen wahrscheinlich große, prächtige Gärtner arbeiten. Danach geht es rechts in einen schmalen Feldweg, wo ich in einer Allee mit wunderschönen Platanen parke. Ich klemme mein Handy an meinen Oberarmhalter, stecke meine Airpods in die Ohren, mache „The Weekend“ an – wobei ich am Anfang „Blinding Lights“ fünfmal und am Ende meiner Runde noch dreimal höre – und dann geht’s los. Nicht allzu schnell, zunächst vorbei an einer Wiese voller Wildblumen, die gerade anfangen zu blühen, dann durch ein längeres schattiges Waldstück aus Eichen und Kastanien, einen Hügel hinauf, auf dem ein kleiner Holzunterstand steht. Dort hängen immer ein, zwei Zettel mit Telefonnummern.
„Gay? Lust auf einen Fick? Ruf mich an!“ oder „Schwul und geil? Wähle diese Nummer!“
Ich frage mich, woran das liegt, dass schwule Männer so offensiv mit ihrer Sexualität umgehen. Ist es das Testosteron? Halten sich heterosexuelle Männer nur wegen uns Frauen zurück? Sind sie eigentlich wilde Tiere, die über die Jahrhunderte gezähmt wurden? Ich nehme mir vor, demnächst meinen Bruder Vincent dazu zu befragen. Der ist schwul und kennt sich aus. Jedenfalls ist das Naturschutzgebiet offenbar ein schwuler Sex-Treffpunkt, aber ich muss sagen: Die Jungs sind wirklich diskret. Ich habe bisher noch kein Pärchen gesehen, geschweige denn irgendwelche erotischen Aktionen zwischen den Bäumen beobachtet. Oder stammen die Aufrufe von Verzweifelten, die alles dafür tun, um endlich mal einen ab- beziehungsweise reinzukriegen? Sorry, der musste sein …
Die nächsten 200 Meter hasse ich mich für meine Überheblichkeit. ‚Du bist doch keinen Deut besser, Luzy. Du willst doch neuerdings auch nur Sex. Und wenn du dir noch so sehr einredest, das alles im Rahmen einer persönlichen Sozialstudie zu unternehmen. Am Ende geht’s dir doch auch nur um das Eine.’ Nach 200 Metern sage ich mir: ‚Ja, stimmt. Ich will Sex. Na und?‘
Hinter dem Hügel führt ein Weg nach links durch ein Mohnfeld – wenn ich den wähle, bin ich nach rund dreißig Minuten wieder bei meinem Auto. Biege ich nach rechts ab, bin ich zwanzig Minuten länger unterwegs, und die Strecke führt an einem kleinen See vorbei, an dessen Ufer eine uralte Trauerweide steht, die ich im Rahmen der David-Alexander-Verarbeitungswochen sehr in mein Herz geschlossen habe. Immer, wenn mich die Verzweiflung zu überwältigen drohte, habe ich mich an ihren kräftigen Stamm gelehnt und mich von ihrer rauen Schale trösten lassen, während ihre langen Weiden meine Arme gestreichelt haben.
Heute bin ich fit und übermotiviert, also entscheide ich mich für die längere Strecke. Ich wechsle die Musik zu meiner melancholischen Playlist – „Love Hurts“ – und schwöre mir, dass ich sie heute aus rein sentimentalen Gründen zum letzten Mal hören werde. Zum Abschluss, sozusagen. Als ich den See mit meiner Trauerweide erreiche, läuft gerade „Everybody Hurts“ von R.E.M. Bei diesem Song könnte ich immer heulen, ganz gleich, ob ich Liebeskummer habe oder nicht. Aber heute zwinge ich mich dazu, an Ramon zu denken, und statt Tränen des Selbstmitleids durchfahren mich hitzige Schauer. Ich schalte die Musik ab, stöpsele meine Airpods aus, lehne mich an meine vertraute Trauerweide und umarme ihren Stamm. Ich drücke meine Wange gegen die Rinde, schließe die Augen und denke an alles, was vor mir liegt – und manches, was hinter mir liegt. Stichwort Ramon. Dabei atme ich tief ein und aus. So stehe ich etwa fünf Minuten lang, als eine sehr ruhige und tiefe Stimme neben mir raunt:
„Darf ich mitmachen?“
Ich öffne die Augen und blicke in ein Paar warme braune Augen, die von dichten Wimpern umrandet werden. Darunter ein voller, sanfter Mund.
„Klar“, sage ich, nicht sonderlich überrascht.
Der Fremde lehnt sich an die gegenüberliegende Seite des Stammes und breitet seine Arme ebenso aus