Sonntagsgeschirr. Anita Obendrauf

Sonntagsgeschirr - Anita Obendrauf


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Mein sechster Mord

      «Was?»

      «Milena Moser: Gebrochene Herzen oder Mein erster bis elfter Mord.» Leni legte das Buch auf den Tisch, schaltete das Licht ein und liess sich auf den Stuhl zurücksinken. Angelina nahm die dunklen Ringe unter ihren Augen wahr. Wie müde sie aussah.

      «Strenger Tag heute?», fragte Angelina. Sie selbst fühlte sich völlig erschöpft.

      Leni zuckte mit den Schultern. «Du meinst meine Arbeit auf dem Steueramt? Wir müssen die Steuern häufen, um Defizitberge abzubauen. Nur geben andere das Geld aus, das wir reinholen.»

      «Wie lange bist du schon dort?»

      «Ewig. Aber mehr dazu ein anderes Mal, ich bin todmüde. Du bleibst mir anscheinend noch eine Weile erhalten.» Sie zwinkerte Angelina mit dem einen Auge zu. «Da bleibt noch eine Menge Zeit für mörderische Pläne.»

       Gravensteiner

      Angelina konnte sich nicht dazu durchringen aufzustehen. Ein leerer Tag lag vor ihr. Im Bett des Gästezimmers liegend, hatte sie ihre Hände unterm Kopf verschränkt und betrachtete die Einrichtung. Ihr kam es so vor, als ob Leni ihr Jugendzimmer direkt von zu Hause in diese Wohnung gezügelt hatte. Über dem Bett hing ein grosses Poster, Sonnenuntergang am Meer, die Palmen als schwarze Konturen vor leuchtendem Rot. Gegenüber dem Bett stand der Schreibtisch, furniert, gelbliches Braun mit vier Schubladen, daneben ein Gestell mit Büchern, Federica de Cesco, Karl May, Die drei Fragezeichen, Tierlexikon, Weltatlas, ein Duden gelb-schwarz.

      Wusste Leni, dass nicht Maurice der Grund für ihr Kommen war? Dass etwas Verhängnisvolles geschehen war und sie Mühe hatte, es in Worte zu fassen? Warum konnte sie nicht darüber reden? Es Leni oder Vater einfach sagen? Ich habe mein Kind verloren, es ist tot.

      Warum konnte sie Vater nicht fragen: Wie lebst du? Ohne Mutter, alleine, alt? Was hält dich? Was lässt dich weitermachen? Und die letzte und einzige Frage: Wo ist der Sinn? Der Sinn in diesem Sterben?

      Angelina dachte an die Einsamkeit im Spital. Sie hatte geweint. Gerne hätte sie mit jemandem geredet. Doch für die Ärzte war sie ein technisches Problem gewesen und jener Tag ein leeres Datum, weder Geburts- noch Todestag ihres Kindes, sondern ein Arbeitstag von vielen. Zu dritt hatten sie um ihr Bett gestanden und wieder davon gesprochen, dass die Operation notwendig sei und die Vollnarkose kein Risiko. Es hatte sie, Angelina, immense Kraft gekostet zu widerstehen. Es könne Krebs entstehen, hatten die Ärzte gesagt, wenn das restliche Schwangerschaftsmaterial nicht operativ entfernt würde. Dies alles war so weit weg gewesen von ihrer eigenen Befindlichkeit, ihrem wahren Gefühl. Dieser Geruch nach perfekter Hygiene, diese unerlässliche Geschäftigkeit, diese aufgesetzte Fröhlichkeit, das gekühlte Müesli zum Frühstück und der halbwarme Kartoffelstock zum Abendessen, sie hatten nicht gepasst zu diesem unwiederbringlichen Verlust. «Jetzt schauen sie mal, das wird schon», hatte die Ärztin beim Spitalaustritt gesagt. Angelina aber wusste, es würde nicht werden.

      Hier in Lenis Gästezimmer fühlte sie sich geschützt. Es war lang und schmal, fast so, wie ihr Zimmer zu Hause bei Mutter und Vater gewesen war. Es vermittelte einen Hauch von Vergangenheit. Damals, als Jugendliche hatten sie die Wände mit Postern vollgepflastert, ihre Zimmer zu einem privaten Reich erklärt und angefangen, diese mit dem Schlüssel abzuschliessen, um ihre Eltern auszusperren. Sie hatten geglaubt, alles wäre möglich, wenn man sie nur liesse.

      Mit einem Ruck schlug Angelina die Bettdecke zurück und stand auf. Der grüne Bettbezug mit den orange-gelben Streifen war wohl das Einzige in diesem Raum, das nicht aus Lenis Jugend stammte. Mit einem Fuss schob Angelina die Reisetasche zur Seite und lehnte aus dem Fenster. Wie grün die Bäume waren. Die Buchenblätter, im Sommer kräftig, zartgrün im Frühling, rotbraun im Herbst.

      Sie sollte sich nicht gehenlassen, aktiv sein, zu den Drei Weieren spazieren und schwimmen. Wenn es schon wieder einer dieser hochsommerlichen Hitzetage war. Bald käme der Herbst.

      Angelina drehte sich um und blickte in ein Gesicht mit wilder Mähne: Rod Stewart. Das Poster war eine mehrmals aufgeklappte Doppelseite aus der Mitte eines Magazins. Auf dem Pult darunter waren Musikkassetten aufgereiht und daneben stand ein Radio mit Recorder. Wahllos nahm Angelina eine Kassette und schob sie hinein. Der Recorder funktionierte. Dieses Ding musste mindestens zwanzig Jahre alt sein. Eine tiefe, raue Stimme ertönte: «Oh the sisters of mercy, they are not departed or gone. They were waiting for me when I thought that I just can’t go on.»

      Alles hätte Angelina erwartet, ABBA, Kiss, Beatles, aber er? Dunkel und melancholisch, passte das zu Lenis Jugend?

      Angelina lauschte den Worten. Leonard Cohens Stimme war schwer und schleppend, fast wie Balsam. «you … must leave everything». Wie recht er doch hatte. Alles, alles loslassen.

      Angelina hatte die Badesachen eingepackt, aber ihre Beine entschieden selbst, wohin sie gingen. Sie führten sie am Mannenweier und weiter an den anderen Weihern vorbei, den Wald entlang, hinauf Richtung Freudenberg zum grossen Holzkreuz. Es tat gut, Distanz zu gewinnen zu diesem Zimmer und der Erinnerung an eine Zeit, als sie geglaubt hatte, das Leben vor sich zu haben und nichts könne dabei schiefgehen.

      Von hier sah man die Berge, den Alpstein mit dem Säntis. Es war schwül. Der Sendemast auf dem Gipfel ragte wie ein übergrosses Streichholz am Horizont auf. Dahinter hingen ein paar Wolken. Angelina ging an der Linde vorbei und setzte sich auf die Bank. Obwohl diese direkt am Wegrand stand, war sie auf drei Seiten von Hecken umgeben und bot ihr eine Art Schutz.

      Sie dachte an damals, als sie mit Meinhard zum ersten Mal auf den Säntis gestiegen war. Ohne Bahn. Weit war es ihr vorgekommen und steil. Mit dem Fahrrad waren sie auf die Schwägalp gefahren und dann losmarschiert. Ohne zu wissen, ohne sich zu kümmern, was käme. Dunkel war es geworden, bis sie wieder zu Hause ankamen. Mutter und Vater schimpften, weil es bereits spät war. Sie fragten nicht, wo sie gewesen seien. Und weder Meinhard noch Angelina sagten etwas. Stolz hatten sie ihr Geheimnis gehütet. Oben in den Bergen waren sie gewesen. Damals hatte sich für Angelina eine Tür geöffnet. Und vor drei Wochen war es so gewesen, als ob eine andere Tür, eine schwere stählerne, vor Angelina zugeschlagen sei.

      Ein Mann setzte sich, ohne zu fragen, ans andere Ende der Bank. Er störte.

      Soll er doch, soll er doch meine Tränen sehen, dachte Angelina trotzig. Nur nicht reden.

      Der Fremde sass da und schwieg. Angelina schaute wieder zum Alpstein, dem hellen Grau der Felsen und dem dunklen Grün der Wälder davor.

      Wolkengrau, Kalkgrau, Silbergrau – welche Farbe hatte die Ewigkeit?

      «Möchten Sie auch?» Der Mann sass immer noch auf der Bank keine zwei Meter neben Angelina und hielt ihr einen Apfel hin. «Gravensteiner. Aus dem Garten meines Nachbarn.»

      Angelina schaute wieder zum Gebirge, folgte mit den Augen den Konturen der zackigen Grate. Sie hörte, wie er in den knackigen Apfel biss und kaute.

      «Geklaut?», fragte sie.

      «Aber nein.» Er lächelte und nahm einen weiteren Apfel aus dem Beutel, der neben ihm lag.

      Der Apfel schmeckte süss und leicht säuerlich.

      Sie sassen schweigend und assen. Von der Stadt her drang fernes, gleichmässiges Rauschen und näher bei ihnen, aus einer anderen Richtung, ertönte Kuhgeläut.

      «Ihr Nachbar», sagte Angelina, als sie den letzten Bissen geschluckt und den Kern in die Wiese hinter sich geworfen hatte. «Wo steht dieser Baum?»

      Er lachte laut. «Wollen Sie etwa?»

      «Klauen, meinen Sie?»

      «Schmecken gut, nicht wahr.»

      Angelina nickte.

      «Ich komme in der Mittagspause oft hierher.» Kurz drehte er den Kopf zu Angelina, blickte dann wieder geradeaus. «Beruhigend, diese Landschaft.»

      «Ja, die Berge, friedvoll und doch erbarmungslos», erwiderte Angelina. Es tat gut, mit einem Unbekannten


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