Sonntagsgeschirr. Anita Obendrauf

Sonntagsgeschirr - Anita Obendrauf


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bereits im Abstieg vom Gipfel befand? Bei dieser Hitze musste man früh sein, bevor der Schnee weich wurde. Oder war er zu Hause geblieben, alleine? Vermisste er sie? Und ihr Kind?

      Als sie sich umdrehte, stellte Angelina fest, dass Leni ein rechtes Stück zurücklag. Sie kam nur langsam vorwärts. Angelina wollte auf sie warten. Sie dachte ans Bergsteigen, wie manche Männer, von Kraft und Ehrgeiz vorwärts getrieben, ihr von weit oben aufmunternde Worte zuriefen. Und obwohl Angelina keinen Ehrgeiz hegte und ihr Ziel, das Tüfelsseeli zu erreichen, im Grunde unwichtig war, wartete sie nicht. Eine Unruhe drängte sie vorwärts. Als ob stillstehen aufgeben wäre.

      Kurze Zeit später hörte sie Leni ihren Namen rufen. Sie nahm sich vor, nur noch diese eine Stelle zu queren und am anderen Ufer im Schatten auf Leni zu warten. Ihre Füsse tasteten sich von einem Stein zum nächsten. In der Mitte hatte es eine kleine Stromschnelle und sie war tiefer, als Angelina vermutet hatte. Bis zur Hüfte stand sie im Wasser. Die Strömung riss an ihren Beinen. Sie hätte den Fluss besser an der seichten Stelle weiter oben gequert. Wenn sie fiele, würde die Strömung sie flussabwärts über ein, zwei Felsstufen mitreissen. Wäre es schlimm? Zu ertrinken?

      Dafür führte der Fluss zu wenig Wasser. Hastig setzte sie einen Fuss vor den anderen, rutschte, kämpfte ums Gleichgewicht, fing sich auf, stolperte vorwärts und fiel in den trockenen, weichen Kies. Ein Brennen am rechten Ellbogen durchzog ihren Körper. Sie spürte die Wärme des Bodens und schloss die Augen. Einfach liegen bleiben, dachte sie. Hier am Ufer der Urnäsch, für immer.

      «Angelina, hast du dir wehgetan?» Leni kniete neben ihr. Durch Tränen hindurch konnte Angelina verschwommen ihr besorgtes Gesicht sehen.

      «Mein Gott, hast du grosse Schmerzen?»

      Angelina öffnete die Augen und wollte etwas sagen. Doch es kamen keine Worte.

      Leni schüttelte sie sanft an der Schulter. «Angelina, wo tut es weh?»

      «Es ist gestorben, mein Kind ist tot.»

      Leni schaute sie verwirrt an.

      «Ich war schwanger und nun ist es tot. Ich hatte eine Fehlgeburt.»

      Schweigend legte Leni die Arme um ihre Schultern und drückte sie an sich. Tränen quollen aus Angelinas Augen.

      Welche Farbe hatte der Tod? Schwarz wie die Nacht, Grau wie der Fels oder doch ein tiefes dunkles Blau, so wie das Meer?

      «Das tut mir leid», hörte Angelina Leni leise sagen.

      «Es tut einfach nur weh. Unendlich weh.» Langsam setzte Angelina sich auf und stützte sich mit den Händen im Kies ab. Sie spürte das Brennen am Ellbogen.

      «Ganz schön aufgeschürft», sagte Leni, als sie die Wunde sah.

      «Hast du eine Apotheke dabei?»

      «Nein.» Leni schüttelte den Kopf.

      «Scheiss-Tag!»

      Leni nickte. «Ja, ein Scheiss-Tag.»

      Sie lachten beide.

      Und sie gingen nicht bis zum Tüfelsseeli. Leni mochte nicht mehr weitergehen und Angelina hatte keine Lust mehr. Auf dem groben Kies neben einer kleinen Feuerstelle liessen sie sich nieder. Sie suchten Holz, und als genügend beisammen war, schichtete Angelina es auf. Bei einer Fichte brach sie die unteren feinen Zweige ab und machte daraus ein Bündel. Nun zündete sie das Reisig an, und als es aufflammte, schob sie es unter den Holzstapel. Schnell fingen die Äste darüber Feuer. Leni hatte ihren Cervelat auf einen Stock gespiesst und hielt ihn über das lodernde Feuer.

      «Du musst warten, bis es Glut hat», sagte Angelina.

      «Ich habe aber Hunger.»

      «So verbrennt die Wurst.»

      «Das ist mir egal.»

      «Leni, du bist stur.»

      «Nein, aber ich habe Hunger. Ausserdem ist es meine Wurst.»

      Angelina legte ihren Cervelat zur Seite und nahm stattdessen eine Gurke aus dem Rucksack. Sie schnitt diese in der Mitte entzwei und biss in die eine Hälfte. Die Schale war fest. Ich hätte sie schälen sollen, dachte sie. Eigentlich mochte sie Gurken nicht besonders, hatte aber ebenfalls Hunger.

      «Vielleicht bin ich stur», sagte Angelina auf der harten Schale herumkauend.

      «Wie meinst du das?»

      «Weil ich warten muss, bis das Feuer heruntergebrannt ist, obwohl ich Hunger habe.»

      Leni lachte.

      «Ich hasse Regeln.»

      «Ach komm», sagte Leni, «du hast doch immer gemacht, was du wolltest.»

      «Wann?»

      «Früher schon. Bist einfach ins Ausland abgehauen.»

      «Bin ich abgehauen?»

      «Wie würdest du es denn nennen?»

      «Die weite Welt entdecken.»

      «Beschönigend.»

      Angelina überlegte. «Zugegeben, es könnte als eine Flucht angesehen werden. Ich wollte weg, wieso auch immer.»

      «Vielleicht wollten wir alle auf irgendeine Art weg.»

      «Ich bin oft abgehauen», sagte Angelina nachdenklich. «Jetzt bin ich weg aus Genève, fort von Maurice. Lebendig macht es mein Kind nicht mehr.» Sie starrte ins Feuer. Langsam zerfielen die Äste zu Glut. «Denkst du, es kommt darauf an, wann jemand stirbt?»

      Leni blickte sie an. «Du meinst, ob es darauf ankommt, ob ein Kind stirbt oder ein alter Mensch?»

      «Verändert die Länge des Lebens etwas im Tod?»

      «Denkst du an die ungetauften Kinder bei den Katholiken? Daran, dass diese nicht in den Himmel kommen?»

      Angelina schüttelte den Kopf. «Nein, nicht wirklich. Ich glaube nicht mehr an die Kirche. Warum sollen die Ungetauften bestraft werden und nicht ins Paradies gelangen? Weil sie nicht leben durften?»

      «Glaubst du an ein ewiges Leben?», fragte Leni nachdenklich.

      «Weiss nicht», antwortete Angelina.

      «Gerne hätten wir Sicherheit darüber, was nach dem Tod kommt. Doch uns bleibt nur der Glaube.»

      «Der Gedanke ist tröstlich, meinem Kind irgendwann wieder zu begegnen. Es in meine Arme zu schliessen.»

      «Angelina, das wirst du.»

      «Meinst du?»

      «Schau dich um. Es gibt mehr als dieses kümmerliche Leben.»

      Angelina blickte zum Fluss. Das Wasser war leicht grünlich, fast klar. Ja, kümmerlich, dachte sie.

      Das Holz war heruntergebrannt. Die Glut hatte ein leuchtend helles Rot und am Rand flammte das Feuer nochmals kurz bläulich auf. Blauorange, dachte Angelina.

      Sie griff nach dem Cervelat, spiesste ihn auf eine mit dem Messer zugespitzte Astgabel und hielt ihn über die Glut.

       Grosser Bruder

      Endlich holte Angelina den Laptop aus ihrer Reisetasche und platzierte ihn auf dem Pult unter dem lächelnden Rod Stewart. Sie hatte sich fest vorgenommen, wieder zu arbeiten. Sich bei Jeanne zu melden und nach Arbeit zu fragen, getraute sie sich nicht. Aber sie hatte noch private Übersetzungsaufträge. Da war die Geschichte von Mariette. Es handelte sich um ein grösseres Projekt, eine Buchübersetzung. Perdu dans l’Annapurna, hiess der Originaltitel. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal daran gearbeitet hatte. Es war der Tag vor demjenigen gewesen, an dem sie ihr Kind verloren hatte. Sie übersetzte das erste Mal ein Buch. Der Verleger hatte sie angefragt, denn er war der Meinung, der Text müsse von einer Frau und Bergsteigerin übersetzt werden. Die Geschichte war aus der Perspektive von Mariette geschrieben, die ihren Freund Noël nach Nepal begleitete. Noël


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