Sonntagsgeschirr. Anita Obendrauf

Sonntagsgeschirr - Anita Obendrauf


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      Wie der Weiher, dachte Angelina, Schutzgebiet, eingezäunt und umringt von Strassen. Stand auf der Infomationstafel nicht etwas von abwechslungsreicher Umgebung? Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben Vater auf die Bank.

       Bodensee

      Mit einem grellen Läuten riss der Wecker Angelina aus dem Schlaf. Er hatte zwei Glocken, war rund und stand auf vier geschwungenen Füssen. Das Gehäuse war leuchtend rot. Angelina hatte an reife Erdbeeren gedacht, als sie den Wecker am Vorabend aufgezogen hatte. Sie hatte den kleinen Hebel an der Rückseite ganz bis an den Anschlag gedreht. Und nun hörte das überlaute Klingeln nicht auf, irgendein Mechanismus, der gegen die Glocken schlug. Angelina tastete nach einem Knopf, um das Rasseln zu stoppen. Sie fand keinen. Schliesslich endete es mit einem abgewürgten Drrriiing. Angelina schaute auf das goldene Ziffernblatt mit den römischen Zahlen und zwei bauchigen Zeigern. Es war sieben Uhr morgens.

      Seit sie vor fast zwei Wochen Genève verlassen hatte, hatte sie keinen Wecker mehr gestellt. Morgen für Morgen liess sie sich treiben, lag im Halbschlaf und träumte wirres Zeug: von Zügen, die entgleisten, von Wasser, in dem sie zu ertrinken drohte und in der Nacht zuvor von einem Kind, das in ihren Armen starb. Wie sie es herumtrug, ohne zu begreifen, dass es schon tot war.

      Hatte der Wecker sie vorher nicht auch aus einem Traum gerissen? Sie überlegte. Ein Polizist hatte sie verfolgt. Hatte sich der Verfolger plötzlich in Maurice verwandelt? Sie mochte nicht an Maurice denken.

      Angelina blickte zu Rod Stewart über dem Pult. Sein rötliches Haar war zu einer wilden Mähne gestylt und seine Augen glänzten freundlich, fast schon verführerisch. Sie stand auf und suchte bei den Kassetten auf dem Pult, fand eine von ihm, schob sie in den Recorder und drückte auf Play. «I am sailing, I am sailing, … stormy waters, to be near you …» Augenblicklich kamen ihr die Tränen. «Can you hear me, can you hear me, through the dark night, far away.» Lauthals sang sie mit, schrie geradezu. «I am dying, forever crying, to be with you …»

      Als sie sich umdrehte, stand Leni im Türrahmen, verschlafen und in einem kurzen Nachthemd. «Wolltest du heute nicht segeln gehen?»

      Angelina drückte auf die Stop-Taste und Rod Stewart verstummte. «Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.»

      «Das hat der Wecker bereits getan. Ich hatte vergessen, dass dieses Ding so abartig laut ist. Haben wir dieses Lied nicht auch in der Sek bei der Abschlussfeier gesungen?»

      «Doch ich glaube schon.» Angelina blickte zum Wecker. «Es ist schon zwanzig nach, ich muss mich beeilen, um neun Uhr treffe ich mich mit Meinhard in Romanshorn.»

      Leni ging zu ihrem Zimmer, drehte sich noch einmal um: «Schönen Tag.»

      «Entschuldige nochmals für die Ruhestörung.»

      «Ich werde mich revanchieren, gute Nacht.» Und damit schloss Leni die Zimmertür hinter sich.

      Im Zug, dem Voralpenexpress, war es bereits heiss. Ein Teil der Fenster stand offen und ein starker Luftzug wehte durch den Wagen. Wieder ein strahlend blauer Himmel, nur in der Ferne, über den Bergen Österreichs hatte es kleine, weisse Wolken. Ob es überhaupt genügend Wind hatte? Warum hatte sie sich auf diesen Segeltörn mit Meinhard eingelassen? Sie konnte gar nicht schwimmen, jedenfalls nicht wirklich, nicht in einem tiefen See und nicht, wenn sie kein Land mehr sah. Aber der Bodensee war doch kein Meer, da sah man immer Land. Ausserdem gab es auf diesen Booten bestimmt Schwimmwesten. Und wenn Meinhard ins Wasser fiele? Aber Meinhard war ein super Schwimmer im Gegensatz zu ihr, jedenfalls früher. Schwimmen verlernte man nicht.

      Angelina dachte, es wäre ihr egal, am Ufer zu bleiben, ins Strandbad zu gehen und nur ein Stück hinauszuschwimmen. Im Zug hatte es viele Ausflügler. Velofahrer mit gepolsterten Hosen, ihre Helme in der Hand, und Familien mit Badetaschen. Die Kinder, aufgeregt und voller Vorfreude, schwatzten laut durcheinander. Besser doch nicht ins Strandbad. Sie ertrug keine Kinder, nicht in ihrem Zustand.

      Der Zug füllte sich, je näher er dem See kam. Eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm setzte sich gegenüber und lächelte ihr freundlich zu. Angelina wandte den Blick ab und schaute angestrengt durchs Fenster, fixierte die vorbeiziehende Landschaft. Wiesen, Obstbäume, ein Wald, dort am Waldrand ein Fuchs, er blickte auf. Er hatte neugierige, schwarze Augen. Dann erreichten sie die ersten Häuser von Romanshorn. Endlich.

      Als der Zug hielt, starrte Angelina weiter durchs Fenster. Sie wartete bis die Frau mit dem Kind verschwunden war, bevor sie aufstand. Unauffällig strich sie sich mit dem Handrücken über ihr rechtes Auge. Dann über das linke. Heuschnupfen, würde sie sagen, wenn jemand fragte. Aber es fragte nie jemand.

      Als Angelina an den Bootshafen kam, erblickte sie die unterschiedlichsten Schiffe, von der Jolle bis zur Motorjacht. Ein paar Plätze waren bereits leer. Soeben verliess eine Jacht den Hafen. Welche wohl Meinhard gehörte? Da sah sie ihn weit vorne auf dem Deck eines Segelschiffs. Er schwenkte die Arme über dem Kopf und rief: «Angelina.»

      Er schien gut gelaunt, trug kurze weisse Hosen, ein hellblaues Poloshirt und weisse Turnschuhe. «Fast hätte ich verschlafen», sagte er, als Angelina sich seinem Schiff näherte. Der Holzsteg schwankte leicht. Sie unterdrückte den Gedanken, dass ihr bereits schlecht sei. Das war bestimmt nur ihre Nervosität.

      «Gibst du mir bitte die Sachen rüber.» Meinhard zeigte auf eine Kühlbox und einen Korb mit Getränkeflaschen, die auf dem Steg standen. «Ich dachte, wir sollten nicht hungern.»

      Das Segelboot war grösser, als Angelina gedacht hatte. Vielleicht neun Meter lang und drei breit. «Können wir denn dieses Ding zu zweit segeln?», fragte sie.

      Meinhard lächelte: «Kein Problem. Du hast hoffentlich deine Badehosen eingepackt.»

      Sie nickte stumm.

      «Komm», rief Meinhard und verschwand in der Kajüte.

      Leicht schaukelte die Jacht auf und ab. Mit Unterstützung des Motors waren sie hinaus auf den See gefahren. Es hatte kaum Wind und Meinhard schlug vor, zur Abkühlung ein Bad zu nehmen. Er warf einen leuchtend roten Gummiballon, der an einer langen Leine befestigt war, ins Wasser.

      In der Kajüte zog Angelina zögerlich ihr Badekleid an und legte ihre Kleider auf das Polster der Sitzbank. Als sie wieder an Deck kam, war Meinhard nirgends zu sehen. Sie entdeckte ihn im Wasser. Eine Hand an der Leine mit dem Gummiballon lag er auf dem Rücken und liess sich gemütlich treiben.

      Sollte sie sich nun auch ins Wasser wagen mitten auf dem See? Langsam, Tritt für Tritt stieg sie die Leiter hinab. Zuerst berührte das Wasser nur ihre Füsse, dann ihren Bauch. Durch die Kälte spannten sich die Muskeln. Ruhig weiter atmen, redete sich Angelina zu. Ihre Finger klammerten sich fester um die Sprosse.

      Sekunden später tauchte Meinhard hinter ihr auf: «Mach endlich.»

      «Wer steuert jetzt das Schiff?»

      «Keine Angst, das schwimmt von selbst.»

      «Aber wenn es abtreibt?»

      «Bei dieser Flaute steht es so gut wie still. Und siehst du dort den Fender?» Er zeigte zum leuchtenden Gummiballon, der sich leicht auf dem Wasser bewegte. «Du kannst dich an der Leine festhalten.»

      Endlich liess sich Angelina nach hinten gleiten und spürte die Kühle des Wassers am Rücken. Mit rudernden Bewegungen hielt sie sich senkrecht. Bei den Füssen war das Wasser noch kälter. Die gleissende Sonne spiegelte auf dem See und Angelina kniff die Augen zusammen. Wo war Meinhard?

      Angelina klatschte mit der Handfläche aufs Wasser und spritzte ihn an. Er drehte sich, als ob er im Wasser rollen würde, dann spritzte er zurück. Angelina schlug kräftiger. Meinhard auch. Sie waren in einem Schwall aus spritzender Gischt. Prustend schnappte Angelina nach Luft. Meinhard schwamm lachend zu ihr. «So, übermütig, kleine Schwester?»

      Immer noch hustend suchten Angelinas Augen die Jacht. Für einen Augenblick hatte sie vergessen, dass sie mitten auf dem See waren. Vorhin war das Boot doch direkt neben ihr gewesen. Wenn sie


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