Sonntagsgeschirr. Anita Obendrauf

Sonntagsgeschirr - Anita Obendrauf


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Fender. Angelina nahm die Leine und hielt sich daran fest. Dann schwamm sie mit ein paar Zügen zum Schiff. Als ihre Hand nach der Leiter griff, ihre Füsse die unterste Sprosse ertasteten und sie sich hochzog, war sie erleichtert, wieder Boden unter den Füssen zu haben, wenn auch wackligen. Sehnsüchtig blickte sie Richtung Appenzellerland und Alpstein mit dem Säntis. In den Bergen hatte sie festen Stand. Sie legte sich auf die aufgewärmten Planken, schloss die Augen und spürte die Sonne auf ihrer Haut. Tropfen fielen in ihr Gesicht. Meinhard stand mit triefendem Haar neben ihr. «Hast du Hunger?»

      Er breitete Tomaten, Oliven, Salami, Käse, Brot und Aprikosen aus. Angelina schob eine Cherrytomate in den Mund, spürte die Flüssigkeit und das weiche Fruchtfleisch. Sie mochte diesen Geschmack von leichter Süsse. «Vater und du», sagte sie, «was war da?»

      Meinhard blickte zum Mast hoch. «Lass es uns noch einmal versuchen mit Segeln. Endlich ist Wind aufgekommen.»

      Er stand auf und machte sich am Grosssegel zu schaffen. Dann kurbelte er an der Winsch und der schwere Stoff des Segels wurde am Seil hochgezogen. Ein Windstoss straffte das Tuch. Meinhard stellte sich hinters Steuerrad und löste die Arretierung. «Jetzt noch die Genua.»

      Bald wölbte sich auch das zweite Segel im Wind. Angelina staunte über die Kraft, welche die beiden Segel blähte und das Schiff durchs Wasser schob. So wie Meinhard da stand, wirkte er stolz. «War Vater schon einmal auf der Jacht?», fragte Angelina.

      «Meinst du, er käme auf ein Segelschiff?»

      «Hast du ihn denn eingeladen?»

      Meinhard machte eine wegwerfende Handbewegung. «Hast du ihn zu dir nach Genf eingeladen?»

      Angelina dachte an die Zeit, als Mutter noch gelebt hatte. Einmal waren sie und Vater nach Genève gekommen für ein paar Stunden. Über Nacht hatten sie nicht bleiben wollen.

      Der Wind nahm zu. Sie segelten Richtung Deutschland. Dort hinten musste Friedrichshafen sein. Wo wohl die Landesgrenze lag, hier mitten auf dem See?

      «Besuchst du ihn ab und zu?», fragte Angelina.

      «Wen?»

      «Na ja, Vater.»

      «Was heisst ab und zu?»

      «Wann warst du das letzte Mal bei ihm?»

      Meinhard drehte am Steuerrad, die Segel verloren an Spannung und flatterten hin und her. «Mist!»

      Die Tücher spannten sich erneut, und das Schiff nahm wieder Fahrt auf.

      «Nun sag schon.»

      «Dort hinten ist alles schwarz. Aber ich glaube, es zieht vorüber.»

      «Du lenkst ab.»

      «Und du nervst.»

      Meinhards wütender Tonfall schreckte Angelina auf. Sie blinzelte in die Sonne. Der Himmel hatte ein wolkenloses, helles Blau, aber als sie sich umdrehte, sah sie eine schwarze Wand über dem Alpstein. Unbemerkt hatten sich die bauschig weissen Wolken weiter und weiter aufgetürmt, waren grau geworden, dann tiefschwarz.

      «Vielleicht müssen wir abwettern und warten bis das Gewitter vorüber ist.» Meinhards Stimme hatte eine ungewohnte Ernsthaftigkeit. «Zieh dir Kleider an und eine Regenjacke. Es hat Jacken im Schrank in der Kajüte.»

      Als Angelina zurück an Deck kam, stand Meinhard in Kleidern und Regenschutz konzentriert hinter dem Steuerrad. Er klappte den Deckel der Sitzbank hoch und nahm Schwimmwesten heraus. Blitzschnell zog Meinhard seine leuchtend orange Weste über, während Angelina ihre ratlos in den Händen drehte.

      «Dort mit dem rechten Arm, ja genau, und da links», rief Meinhard ungeduldig. «Und nun die Schnallen.»

      Der Wind zerrte an den Segeln und riss diese mit lautem Flattern hin und her.

      «Wir müssen das Grosssegel herunternehmen und am Baum befestigen, dann die Genua reffen. Komm, hilf mir.» Meinhard startete den Motor, drehte das Schiff in den Wind und schob Angelina hinters Steuerrad. Der Baum schlug über ihren Köpfen laut knallend von einer Seite zur anderen.

      «Siehst du dort oben am Masttop den Pfeil? Das ist ein Windanzeiger. Du musst so steuern, dass der hintere Teil in der Mitte der beiden Winkel ist.»

      Ein helles Zucken zerschnitt die schwarze Wand des Himmels und ein gewaltiges Krachen ertönte. Angelina begriff, dass dieses gelb-orange Blinken die Lichter der Sturmwarnung waren, doch das Gewitter war bereits über ihnen. Heftige Böen fuhren in unregelmässigen Abständen in die Genua, während erste dicke Regentropfen fielen. Angelinas Hände klammerten sich am Steuer fest. Starker Regen setzte ein und hämmerte gegen die Planken. Nervös blickte sie nach oben zum Pfeil. Er schwankte ein wenig hin und her.

      Wenn wir kentern und es mich über Bord spült, dachte Angelina, gehe ich unter. Sie sah, dass eine Schnalle der Schwimmweste noch offen war. Kurz liess sie das Steuer los. Sofort begann es, von selbst zu drehen. Das Schiff legte sich zur Seite und begann, Fahrt aufzunehmen. Angelina erschrak und packte das Steuer mit beiden Händen. Mit lautem Getose schlug die Genua hin und her.

      «Verflucht nochmal, in den Wind halten, habe ich gesagt», hörte sie Meinhards Stimme wie von weit weg. Er war immer noch mit dem Befestigen des Grosssegels beschäftigt.

      Angelina blickte nach oben zum Mast. Der Regen peitschte auf sie herab. Rinnsale liefen über ihr Gesicht und den Nacken hinunter. Sie zog die Kapuze der Regenjacke über ihr langes Haar. Sie sah Meinhards leuchtende Kleidung, dahinter den tiefschwarzen See. Wellen türmten sich auf und schlugen krachend gegen den Rumpf. Gischt spritzte hoch. Wasser drang in ihre Schuhe. Sie bemerkte, dass Meinhard barfuss war. Er wusste bestimmt, dass nur Gummistiefel diesem Schwall von Wasser standhalten würden. Die Nässe liess Angelina frösteln. Erschrocken stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, auf den Windanzeiger zu achten. Ringsherum nur Wasser. Ihr war schwindlig. Das Auf- und Abschlagen des Schiffs wurde unerträglich und das flaue Gefühl in ihrem Magen verstärkte sich. Ihre Hände klammerten sich am Steuer fest, bis die Knöchel weiss hervorstanden.

      «Du bist ja ganz bleich.» Meinhard stand neben ihr, griff nach dem Steuerrad und stellte den Motor ab. «Bist du seekrank?», fragte er mit leichtem Grinsen.

      «Wir sind in Seenot. Hilft uns niemand?»

      «Setz dich hin, ich übernehme das Steuer. Das ist alles halb so wild. Wenn wir an Land sind, geht es dir gleich besser.»

      Schwer liess sich Angelina auf den Sitz fallen und schloss die Augen. Sofort nahm die Übelkeit zu. Ihr Magen schien sich zu drehen.

      «Wir segeln auf Halbwind. Bald ist das Gewitter vorüber», hörte sie Meinhard sagen. «Dann nehmen wir Kurs Richtung Romanshorn.» Seine Stimme klang leise im tosenden Wind und den laut gegen die Schiffswand schlagenden Wellen. Der Regen hatte nochmals zugenommen. Kurz darauf schlugen Hagelkörner auf sie ein. Das Schiff hob und senkte sich, unaufhörlich. Angelina wünschte sich, dass es stillstehen würde, nur einen Moment. Sie musste durchhalten. Es wäre besser, sich auf den Horizont zu konzentrieren. Mit Schrecken bemerkte Angelina, dass es keinen gab. Alles war eins. Himmel und Erde in einem einzigen, dichten Grau.

      Sie glaubte sich im auf- und abschwankenden Schiff wie in einer Nussschale, die führungslos irgendwo hingetrieben wurde. Sie sehnte sich nach festem Land unter den Füssen, Festland. Liess sich bei diesem Sturm noch etwas steuern?

      «Wir wechseln die Richtung. Du musst mir helfen», riss Meinhard sie aus ihren Gedanken. Angelina erhob sich schwerfällig und stellte sich neben ihn.

      «Du musst an dieser Schot hier ziehen, bis es nicht mehr weitergeht, und dann mit der Winsch kurbeln, sobald ich die Schot auf der anderen Seite gelöst habe.»

      «Wenden, jetzt ziehen!», rief Meinhard kurze Zeit später.

      Angelina zog an der Schot, kurbelte dann an der Winsch bis Meinhard sagte: «Stopp, es reicht.» Zu Angelinas Erstaunen war das Manöver ohne Schwierigkeiten gelungen.

      Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, bis das Gewitter weiterzog. Endlos erschien es ihr. Plötzlich wurde es heller und das Wasser ruhiger. Weit vorne sah


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