Sonntagsgeschirr. Anita Obendrauf

Sonntagsgeschirr - Anita Obendrauf


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die Ankunft in Nepal und den Aufstieg ins Basislager. Zuletzt hatte sie übersetzt, wie Noël ins Höhenlager aufgebrochen war, der Wind stetig zugenommen hatte und Mariette zusehends unruhiger geworden war. Angelina dachte an Maurice. Am Abend zuvor hatte er angerufen. Am Wochenende war er mit Robert und Katleen auf dem Besso gewesen und hatte die Überschreitung zum Blanc de Moming gemacht. Er hatte von der Kletterei und der fantastischen Aussicht geschwärmt. Sie wusste, dass der Besso eine einmalige Sicht auf die umliegenden Viertausender bot. Wenn jemandem die Namen der Berge nichts sagten, war es eine Besteigung wie jede andere. Sie jedoch hatte auch davon geträumt, eines Tages auf dem Besso zu stehen. Warum war er zu diesem Berg losgezogen? Es hätte so viele andere Ziele gegeben.

      Sie spürte ihre Wut auf Maurice und zugleich war ihr Wunsch, den Besso zu besteigen, wie aus einer anderen Welt in einem vergangenen Leben. Sie fühlte sich nicht imstande zu solch einer Tour. Maurice kam gut ohne sie zurecht.

      Entnervt klappte sie ihren Laptop zu. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Ausserdem brannte ihr aufgeschürfter rechter Ellbogen. Im Bad durchsuchte sie die Schubladen nach einer Salbe, und als sie diese fand, strich sie eine dicke weisse Schicht auf ihren Arm. Dann marschierte sie schnurstracks zum Telefon.

      Sie hatte ihr Handy zu Hause vergessen, zumindest hatte sie es Maurice so erklärt. In Wirklichkeit hatte sie es liegen gelassen, damit niemand sie erreichen konnte. Sie hätte es natürlich auch ausschalten können, aber es war eleganter, das Handy gar nicht dabeizuhaben. Die Telefonnummer von Meinhards Architekturbüro war problemlos im Internet zu finden gewesen. Bereits letzte Woche hatte sie sich vorgenommen, Meinhard anzurufen, es aber immer wieder hinausgezögert. Unzählige Male hatte sie sich irgendwelche Worte zurechtgelegt, um dann alles wieder zu verwerfen.

      An Weihnachten hatten sie immer miteinander telefoniert und auch an den Geburtstagen. Doch letzte Weihnachten hatte Angelina nur eine Postkarte geschrieben mit einer Gämse im Schnee auf der Vorderseite. Die Feiertage hatte sie mit Maurice, Katleen und Robert im Goms verbracht. Es hatte gerade genug Schnee gelegen für ein paar Skitouren: Tällistock, Sidelhorn, Brudelhorn.

      Früher hatten sie sich an Weihnachten daheim bei Mutter und Vater getroffen. Mutter hatte den Baum immer mit roten Kugeln und mit echten Kerzen geschmückt, die sie an Heiligabend angezündet hatten. Es war zauberhaft. Echte Kerzen! Wer benützte heutzutage noch echte Kerzen? Mit dem Tod von Mutter hatte sich alles verändert. Irgendwie war Angelina immer davon ausgegangen, dass Meinhard und Vater Weihnachten zusammen verbrachten. Ob das stimmte?

      Das Klingeln am anderen Ende war zu hören als fernes Tut, Tut, Tut. Angelina presste den Telefonhörer fest ans Ohr und wartete mit einer Mischung aus Anspannung und freudiger Erwartung darauf, Meinhards Stimme zu hören.

      «Architektur Kollbrunner.» Es war Meinhard.

      «Hoi, ich bin’s.»

      «Angelina?»

      War es Verwunderung in seiner Stimme?

      «Ich bin in St. Gallen, können wir uns sehen?», fragte Angelina.

      «Machen wir, wann?»

      «Ich kann nach Romanshorn kommen. Es ist sicher schön am See jetzt.»

      Sie vereinbarten, sich am späteren Nachmittag zu treffen. Angelina legte den Hörer auf und es war, als wäre eine Last von ihren Schultern gefallen. Während sie in der Küche das Geschirr spülte, trällerte sie ein Kinderlied vor sich hin: «Vo San Gallä uf Sankt Fidä da hät’s es Tunnel, wämmer ine chunnt, wird’s dunkel, wämmer use chunnt, wird’s hell. Holeduli, duliduli, holeduliduliduliduli …»

      Vom Bahnhof Roggwil aus sah Angelina bereits den Bodensee. Das leicht abfallende Wiesland mit den Obstbäumen, dann den See und das gegenüberliegende Ufer, Deutschland. Sie legte beide Hände flach an die Scheibe des Zugfensters und starrte hinaus, wie sie es als Kinder auch immer getan hatten. Als der Zug mit einem Ruck anfuhr und ihre Nasenspitze leicht gegen die Scheibe schlug, fuhr sie erschrocken zurück.

      Beim Einsteigen in St. Gallen hatte Angelina überlegt, von welchem Sitzplatz aus sie Seesicht hätte. Von ihrer Wohnung zu Hause sah sie den Lac Léman nicht, dafür den Salève, den Hausberg von Genève, der aber bereits in Frankreich lag. Hier in der Ostschweiz war alles eine Spur näher, familiärer, provinzieller. Ob sie deshalb ausgezogen war in die weite Welt, um der Enge zu entkommen?

      Sie hatte in Sydney gearbeitet, später in Cairns, war in Neuseeland gewesen und dann über den Pazifik zur Osterinsel und weiter nach Südamerika gereist. In Bogotá hatte sie eine Sprachschule besucht, danach die Andenländer durchquert, dabei einen Abstecher in den Urwald des Amazonas und auf die Galápagos-Inseln gemacht, bis sie auf der Reise nach Patagonien Maurice kennengelernt hatte. Mit ihm war sie in die Schweiz zurückgekehrt. Sie hatte bei ihm in seiner kleinen Zweizimmerwohnung in Fribourg gewohnt und nochmals die Schulbank gedrückt. Sie hatte die Matura nachgeholt, da sie Übersetzerin werden wollte. Und als sie an die École de traduction et d’interprétation aufgenommen wurde, zogen sie gemeinsam nach Genève. Für Maurice als Informatiker war es ein Leichtes, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Aber für Angelina waren die ersten Monate in Genève hart. Es war so anders als Fribourg. Nicht nur die Ausbildung forderte sie. Immer wieder hatte sie das Gefühl, herablassend behandelt zu werden, auch von Deutschschweizern, die bereits lange Zeit in Genève lebten. Glaubten sie, mit ihrer Hochnäsigkeit die kleinbürgerliche Schweiz hinter sich gelassen und den Sprung in eine mondäne Welt geschafft zu haben?

      Schneller als ihr lieb war, kam der Zug in Romanshorn an. Gerne hätte sie die Landschaft weiter an sich vorüberziehen lassen wie ein farbiges Band mit aufgedruckten Buchstaben. Kaum hatte sie die Worte entziffert, kamen bereits die nächsten Gedankenfetzen, stetig und unaufgeregt.

      Neben dem Bahnhof in Romanshorn lag der Hafen. Vom Zug aus konnte sie sehen, wie soeben die Fähre aus Friedrichshafen einlief. Angelina stieg aus, ging durch die Unterführung und hinüber zum Quai.

      Wie nur konnte sie Meinhard erklären, was geschehen war? Seit Mutters Beerdigung hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sie lebte in Genève, Meinhard in Romanshorn. Entfernter voneinander konnte man in diesem Land nicht leben. Würde er sie verstehen?

      Langsam legte das Schiff bei der Landungsbrücke an und die ersten Passagiere gingen an Land. Sie könnte übersetzen nach Deutschland, oder das Ausflugsschiff nach Konstanz und weiter den Rhein entlang nehmen bis nach Schaffhausen. Immer weiter. Weg von hier und dieser Begegnung.

      War dies nicht ihr Beruf? Übersetzen? Das, womit sie Geld verdiente. Übersetzen, von einer Sprache in eine andere, von einem Ufer ans andere, von einem Land ins nächste. Traduire, traverser une frontière linguistique, traverser le lac …

      Zögernd ging sie zurück. In der Unterführung war es düster. Ein paar Schüler vor ihr schubsten sich hin und her, lachten, versperrten den Weg. Meinhard hatte versprochen, sie am Bahnhof abzuholen. Wartete er bereits? Tritt für Tritt stieg sie die steinerne Treppe zum Bahnhofsplatz hinauf. Auf dem hellgrauen Granit hatte es schwarze Sprenkel und weisse, plattgedrückte Kaugummis.

      Angelina erblickte Meinhard, an die Mauer des Postgebäudes gelehnt. Als er sie sah, erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Er hatte sich verändert. Bereits als Kind hatte er zu den Grossen gehört, inzwischen war er breiter geworden. Seine hochgewachsene und massige Gestalt wirkte auf Angelina wie die Standfestigkeit in Person. Er umarmte sie lange und fest.

      Angelina unterdrückte die Tränen. «Hey, grosser Bruder, wie geht’s?»

      «Gut und dir? Hast du mich je in Romanshorn besucht?»

      «Einmal. Das müsstest du doch wissen!»

      «Lass uns zum See spazieren. Ich war den ganzen Tag im Büro.»

      Sie gingen zum Hafen und den Quai entlang. Die Geschäftigkeit auf der Fähre hatte sich inzwischen gelegt. Eine leichte Brise wehte. Es war angenehm frisch, nicht so stickig wie in St. Gallen.

      «Schön hier am See», sagte Angelina.

      «Ja, ich würde ihn gerne mehr nutzen. Vor ein paar Jahren habe ich den Segelschein gemacht. Ich habe eine kleine Jacht mit einem Freund zusammen, habe ich dir das schon erzählt?»


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