Zeige deine Wunde. Rüdiger Sünner

Zeige deine Wunde - Rüdiger Sünner


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       DAS RUDEL, 1969

      Ich hatte nie zuvor Fett und Filz als Materialien eines Kunstwerks gesehen, aber sie stießen mich nicht ab. Als der Museumswächter einmal weg war, fasste ich kurz den Filz an und meinte, durch seine Sprödigkeit hindurch Wärme zu spüren. Ich stellte mir vor, wie es wäre, sich damit zuzudecken, und spürte trotz des rauen Materials ein Gefühl der Geborgenheit. Wenn es nur kalt genug ist, so dachte ich, ist man für jeden Wärmespeicher dankbar. Etwas tief Existenzielles ging von dem Kunstwerk aus, wie ich es noch in keinem Museum empfunden hatte. Starke Grundgefühle wurden aufgerührt, die mit Angst, Tod, Einsamkeit, Verletzung, Kälte, Ausgesetztsein zu tun hatten. Doch trotz allem Schrecken ging auch etwas Wohltuendes und Aufbauendes von dem Objekt aus. Neben Kälte war auch Wärme zu spüren, neben Dunkelheit Licht, neben Verletzung Heilung und nahende Hilfe. Während einige Museumsbesucher sich kopfschüttelnd abwandten und in anderen Räumen nach »echter Kunst« suchten, hatte ich das Gefühl, einem ganz besonderen Werk und einem ganz besonderen Künstler begegnet zu sein.

      Seltsam aufgewühlt ging ich nach Hause und ich erinnere mich noch daran, dass ich am Mittagstisch keinem etwas von meinem Erlebnis erzählte. Ich hatte etwas Intimes und für mich Neues erfahren und fühlte mich erhoben über die enge, bürgerliche Atmosphäre meines Elternhauses. Still wurde gegessen, und nur das Klappern des Bestecks war zu hören. Ich spürte meinen Vater und meine Mutter neben mir und dachte: Ich habe heute etwas Besonderes gesehen, das eure Grenzen und die der Schule weit übersteigt. Es gibt Menschen, die machen aus einfachen, ja schäbigen Dingen aufregende Zauberstücke, die nichts mit »schönen« Gemälden oder Skulpturen zu tun haben und dennoch weite Fantasieräume aufreißen können.

      Die Welt ist groß, unendlich viel größer als eure Vorstellungen von Kunst, Arbeit, Lebenssinn, Ordnung und Schönheit. Ich werde bald auch auf Schlitten mit funkelnden Lampen durch die Nacht fahren und dort aufregende Dinge erleben.

      Beuys und seine Kunst haben mich seit diesem Erlebnis immer wieder begleitet. Er war oft im Fernsehen, und wenn mein Vater mal wieder über dessen ungewöhnliche Kleidung oder über moderne Kunst schimpfte, dachte ich an meine Begegnung mit dem »Rudel« zurück. Dann wurde mir innerlich warm. Ich konnte Beuys nie als Scharlatan oder Verrückten sehen, sondern empfand ihn vielmehr als Hüter und Beschützer von etwas, das ich nicht so recht in Worte fassen konnte. Seine vielfach verwendeten Hirtenstäbe und die Bemerkung, dass er sich als Kind gerne als »Hirte« gesehen hatte, ergaben für mich Sinn. Es ging ein guter Geist von ihm aus, Wärme, Innigkeit – und auch ein sanfter Schubs nach dem Motto: Geh immer weiter, mach dein eigenes Ding!

      Auf den Documenta-Ausstellungen 1977 und 1982, wo ich jeweils mehrere Tage verbrachte, sah ich Beuys dann auch persönlich, an der »Honigpumpe« und an den »7000 Eichen« hantierend oder im Gespräch mit Künstlerkollegen, Mitarbeitern und Zuhörern im Tagungsraum der Freien Internationalen Universität (FIU). Nie werde ich das pumpende, rauschende und schlürfende Geräusch des Honigs vergessen, der 1977 alle paar Minuten durch die Plastikschläuche in die Documenta-Räume strömte und die über Kunst diskutierenden Menschen in Staunen versetzte.

      Manchmal folgte ich Beuys in einiger Entfernung, wenn er in den Mittagspausen in die Cafeteria ging. Einmal tröstete er dort einen Künstlerkollegen, dessen fragile, draußen ausgestellte Werke über Nacht brachial zerstört worden waren. Auch das gehörte zu dieser Zeit und zur Aura von Beuys: heftige Reaktionen, Aversionen gegenüber moderner Kunst, ja Hassausbrüche, wie sie heute kaum mehr denkbar sind. Aber Beuys behielt die Ruhe und sprach dem aufgewühlten Kollegen in einer Art Trost zu, die mich bewegte. Darin war etwas Mütterliches und auch etwas von einem Krieger, eine angenehme Mischung aus sensibler Weichheit und Entschiedenheit, dazu eine große Gefasstheit im Wissen darum, was Menschen anderen Menschen antun können, und der Zuspruch weiterzumachen. Vielleicht sogar das Vermögen, den Tätern zu verzeihen.

      Das hatte etwas Christliches, zeigte aber auch Anklänge an den Zen-Buddhismus, den ich Jahre später intensiv praktizierte. Beuys, so dachte ich oft, war auch ein Zen-Meister, der seine Meditationen nicht auf einem schwarzen Kissen betrieb, sondern mitten im Gewühl der Großstädte. Kein stiller Japaner, sondern ein Typ, der eher aus der Mystik des deutschen Mittelalters zu kommen schien, wie aus einem Gemälde von Brueghel. Als ich auf einer Documenta einmal abends zu dem FIU-Raum zurückkehrte, um zu schauen, ob dort noch etwas los war, sah ich Beuys einsam und mit Hingabe den Raum ausfegen. Auch dies war ein Zen-Bild: der Mönch, der abends das Kloster kehrt und für den selbst die einfachsten Vorkehrungen heilig sind. Beuys schaute nicht auf von diesem Vorgang, der eine längere Zeit andauerte und von ihm sichtlich nicht wie eine lästige Pflicht ausgeführt wurde. Er schien mit seiner ganzen Konzentration bei dem großen Besen zu sein, als könne er sein Sensorium in dessen Haare versenken, die in jede Nische glitten und sanft Staub, Papierreste und sonstigen Abfall zu einem großen Berg in der Mitte des Raumes versammelten.

      Hirte, Heiler, Schamane: Ich hatte nichts gegen solche Bezeichnungen von Beuys, da sie wertvolle Tätigkeitsfelder ausdrücken, die in unserer schnelllebigen und auf Profit ausgerichteten Zeit immer weniger Ansehen genießen. Bis heute wirkt die Ruhe dieses Mannes in mir nach und strahlt bis in die entlegensten Zeichnungen und Installationen seines Werkes aus. Hab Geduld, harre aus, geh tiefer hinein, halte deine Vorurteile zurück, warte, bis sich etwas von selbst zeigt, ruft diese Aura mir zu – und hilft mir, das Spröde und Kryptische vieler seiner Arbeiten besser auszuhalten. »Jeder Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf«, heißt eine Maxime von Goethe. Beuys führt diese Erkenntnis in unsere heutige Zeit fort.

      Dieser Künstler hat immer noch viel zu bieten, da er keinen Moden anhängt und keine Programme politischer Korrektheit bedienen muss. Gerade durch seinen Mut, auch Verdrängtes – notfalls provozierend – anzusprechen, ist er Künstler im eigentlichen Sinne. Ein Querdenker, Grenzgänger, ungeschützter als Wissenschaftler oder Journalisten, die oft im sicheren Gehäuse ihrer an den Zeitgeist angepassten Weltanschauung sitzen. Nicht umsonst heißt eine von Beuys’ eindrucksvollsten Installationen »zeige deine Wunde«. Er hat seine Wunden gezeigt – nicht nur im physischen Sinne – und gleichzeitig eine »Sprache der Heilung« skizziert, über die nachzudenken uns heute wieder guttut. Er war, um mit einem Begriff von C. G. Jung zu sprechen, ein »verwundeter Heiler«. Die spirituelle Dimension seiner Kunst spielt sich für mich vor allem zwischen den Polen Kälte und Wärme, Verwundung und Heilung ab. Spiritualität ist heute oft ein Schlagwort, aber bei Beuys ist sie gleichsam mit Händen greifbar. Sie ist nicht nur in seinem Interesse für Mythologie, Alchemie, Keltentum, Mystik, Schamanismus, Anthroposophie und Rosenkreuzertum begründet, sondern in seinem tiefen Verständnis für die Mysterien von Transformation, Metamorphose und Heilung. Seit seiner Kindheit hat dieser Künstler erfahren, dass in diesen Vorgängen ein geistiges Substrat jenseits der stofflich-sichtbaren Welt zu wirken scheint, dem er seine Geheimnisse abzulauschen versuchte. Dem will das folgende Buch nachspüren. Es ist keine Biografie oder kunsthistorische Studie. Es entstand parallel zu dem gleichnamigen Film und enthält neben Schilderungen der Dreharbeiten auch persönliche Reflexionen zu Werk und Leben von Beuys, die ich während dieser Zeit aufgeschrieben habe.

       WINTERSCHÄDELERLEBNIS

      Bis heute ist der Name Beuys bei vielen Menschen mit einer Geschichte verbunden, die der Künstler über seinen Flugzeugabsturz auf der Krim im März 1944 erzählt hat. Beuys war im Zweiten Weltkrieg Bordfunker und Schütze eines Kampfflugzeugs, einer Stuka 87, gewesen, die vermutlich vom Kurs abgekommen und in heftige Seitenwinde geraten war. Eine Art Bruchlandung nahe dem heutigen Ort Snamjanka in der Ukraine war die Folge, bei der der Pilot Hans Laurinck getötet wurde. Beuys beschreibt, wie er tagelang bewusstlos gewesen und von nomadisierenden Tataren gerettet worden sei. Sie hätten ihn mit Fett eingeschmiert, in Filz gehüllt und in ihren Zelten mit Quark und Milch aufgepäppelt. Filz und Fett – so die sich daraus ergebende Lesart – seien also für ihn keine Spielereien gewesen, sondern existenziell aufgeladene Materialien, die mit Erfahrungen von Not, Rettung und Heilung zu tun hatten.

      Spätere Recherchen ergaben, dass es zu dieser Zeit keine nomadisierenden Tataren mehr


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