Zeige deine Wunde. Rüdiger Sünner

Zeige deine Wunde - Rüdiger Sünner


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Laurinck schreibt Beuys selbst, dass er von russischen Arbeitern und Frauen aus den Trümmern geborgen worden sei. Zudem erfuhr der Künstler Jörg Herold, der vor Ort Menschen nach dem Vorfall befragte, dass in den tatarischen Gemeinschaften nichts von einer solchen Rettung eines deutschen Soldaten berichtet worden sei. Das sei umso auffälliger, als diese Gesellschaft sehr geschlossen sei, beständige Überlieferungen daher kenne und sich ein solches Ereignis unbedingt herumgesprochen hätte. War also das naive Publikum Beuys’ Mythos von den heilenden Tataren aufgesessen, der Selbstinszenierung eines Künstlers, der es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt?1

      Seit ich diese Geschichte das erste Mal hörte, hat sie mich fasziniert, und seltsamerweise haben die Enthüllungen ihre Kraft nicht geschmälert. Ich lese Beuys’ Bericht als Teil einer poetischen Biografie, wie er sie etwa in seinem Lebenslauf/Werklauf vorgelegt hat. Dort bezeichnet er schon sein Geburtsjahr 1921 als »Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde«.2 Spätere Jahre umschreibt er als »Ausstellung eines Hirschführers« (1926), »Ausstellung an Dschingis Khans Grab« (1929) und »Ausstellung von Heidekräutern und Heilkräutern« (1930). Beuys deutet sein Leben als Stationen von »Ausstellungen«, der Gedanke des plastischen Gestaltens wird schon für die Kindheit verwendet. Man macht etwas aus dem Vorgefundenen, deutet es, formt es, gießt es in ein Bild – und stellt dieses dann aus. Letztlich erzählt eine solche Biografie mehr über das Innenleben eines Menschen als äußere Daten. Bilder wie das der Heftpflaster-Wunde, des Hirschführers und der Heidekräuter deuten den Erlebnisbereich eines Heranwachsenden an, der die Natur als Refugium gegen Verletzungen in der Menschenwelt anrief: eine typische Beuys-Konstellation.

      Ich vermutete Ähnliches für die Tatarengeschichte und suchte den Text heraus, in dem Beuys das erste Mal darüber öffentlich spricht. Beim Lesen fiel mir die stockende Diktion des sonst so wortgewandten Künstlers auf. 1976 teilte Beuys dem Kunstkritiker Georg Jappe mit:

      »Na, dann hab ich – sie haben – das hab ich noch erlebt, als sie, als ich Stimmen hörte, diese Tataren, und als sie da im Blech am Kramen waren, das über mich … lag, und daß sie mich gefunden haben, und so um mich rumstanden, und daß ich dann gesagt habe woda, also Wasser sollte man – und dann hat’s mir ausgesetzt, nö. (Pause) Naja, das war nur, um den Vorgang zu haben, warum ich das überlebt habe, was – normalerweise kein Mensch überlebt (…)

      Die haben mich dann in die Hütte genommen. Und da habe ich alle Bilder, die ich gehabt habe, nicht in vollem Bewußtsein gehabt. Das Bewußtsein habe ich praktisch erst nach zwölf Tagen wiederbekommen, da lag ich schon in einem deutschen Lazarett. Aber da – da sind mir all die Bilder, sind mir ganz, also … eingegangen. In übersetzter Form, kann man sagen. Die Zelte, also die hatten Filzzelte, das ganze Gehabe von den Leuten, das mit dem Fett, das ist sowieso wie … ein ganz allgemeiner Geruch in den Häusern, auch das Hantieren mit dem Käse und dem Fett und Milch und Quark – so wo die mit hantieren, das ist praktisch alles so in mich eingegangen; ich habe das wirklich erlebt. Man könnte sagen, ein Schlüsselerlebnis, an das man ankoppeln konnte. Aber das ist natürlich ein bißchen komplizierter. Denn ich habe ja nicht diese Filzsachen gemacht, um etwas darzustellen von den Tataren …«3

      Wie spricht Beuys hier, der oft durch seine geschliffene Rhetorik zu faszinieren wusste? Unvollständig, stockend, brüchig, mit seltsamem Satzbau, Grammatikfehlern und der Redewendung, dass ihm »in übersetzter« Form Bilder eingegangen seien. Er kramt in seinem Gedächtnis nach einem Vorfall, der 32 Jahre vergangen ist, und es wirkt, als hole er mühsam Brocken für Brocken wieder aus einem dunklen Schacht heraus. Es sind Bilder, Gerüche, Hörempfindungen, Geräusche, ein sehr sinnliches Arsenal von Eindrücken, das unmittelbar zu faszinieren vermag. Wir wohnen einem Vorgang des Tastens, des Suchens bei, einem Durchmischen von Erfahrungsresten, Stimmungen und Visionen.

      Ich kann gut mit dieser Geschichte leben, weil ich zu verstehen glaube, warum Beuys sie so erzählt. Als Kind, so sagt er, habe er sich »im Bilde« des Hirten wohlgefühlt. In einem Bild leben, sich darin einrichten, Halt, Orientierung und Identität finden: ein sehr menschliches Bedürfnis, das wir alle teilen und bei dem nicht zu klären ist, wo genau die Grenze zwischen Faktum und Imagination verläuft. Mir ist es letztlich egal, ob Beuys wirklich Tataren in der winterlichen Steppe getroffen hat oder nur einen, der ihm von seinen Ahnen oder Verwandten erzählte. Ob er von ihnen schon als Kind oder erst später gelesen hat. Tatsache bleibt, dass er das Thema der Nomaden und auch das des Winters in vielen Werken weiter umkreiste, als ob es ihn getroffen habe, real oder in der Imagination. Auch der Schamanismus, der mit der Naturverbundenheit der Nomaden zusammenhängt, beschäftigte ihn immer wieder. Ein mächtiger Vorstellungskomplex, genährt durch vielfältige Erfahrungen, von denen die wenigsten »faktisch« sein müssen. Aber ein Komplex, der ungemein fruchtbar für das Werk werden konnte.

      Eine interessante Parallele ergibt sich hier zur Geschichte eines anderen bedeutenden Künstlers des 20. Jahrhunderts, die später ebenfalls in Zweifel gezogen wurde. Jim Morrison, der Sänger der »Doors«, erzählte immer wieder, dass er einst als Vierjähriger in der Wüste von New Mexico Zeuge eines schrecklichen Autounfalls geworden sei.4 Im Wagen hinter seinen Eltern sitzend, habe er in der Dämmerung auf der Fahrbahn Indianer beobachtet, die schwer verletzt zwischen umgestürzten Lastwagen herumgekrochen seien. Der Vater habe angehalten, sei aber dann – als er merkte, dass er nicht helfen konnte – weitergefahren. Ohnmächtig habe der kleine Junge die Opfer zurücklassen müssen, bis er plötzlich spürte, dass der Geist eines der Indianer in seinen Schädel geschlüpft sei, der »fragil wie eine Eierschale« gewesen sei. Seitdem habe dieser Geist ihn nicht mehr verlassen und sei ein Inspirator für viele Lieder und Gedichte geworden. Auch hier begaben sich Fans und Kritiker – vergebens – auf Spurensuche, um das Ereignis zu verifizieren. Morrisons Eltern bestritten später den Vorfall bzw. erklärten, dass er ganz anders als in der Darstellung ihres Sohnes gewesen sei.

      Für mich ist Morrisons Indianergeschichte – wie Beuys’ Tatarenlegende – ein Stück Poesie, das man nicht besser hätte erfinden können. Beides sind Rettungsoder Heilungsfantasien, die in einer Notlage Trost, Identität und Inspiration lieferten: lebensrettende Maßnahmen von ästhetischer Kraft und Schönheit. Morrisons Vater war ein hoher General der US-Navy und befehligte einen Flugzeugträger, von dem aus Vietnam bombardiert wurde. Der sensible, in Träumen lebende und künstlerisch begabte Sohn hatte ein extrem schlechtes Verhältnis zu ihm und brach später den Kontakt zu seinen Eltern ganz ab. Man kann sich vorstellen, wie es Jim als Kind in der rauen Soldatenwelt der Marine ging, wohin ihn sein Vater oft mitnahm. Und man kann vermuten, dass die Indianer und ihre Spiritualität für den jungen Rockpoeten das erlösende Gegenbild zur pragmatisch orientierten, disziplinierten Vaterwelt darstellten. Kein Wunder, dass sich schon das Kind ihre Geister als Gefährten auswählte und nicht den imperialistischen Geist des »weißen Amerika«. Ähnlich Beuys, der wohl in der Kultur der Nomaden auch eine Art Gegenentwurf zur ihn umgebenden »Erwachsenenwelt« sah, zu den saturierten Bürgern, die nicht von ihrem Sofakissen hochkommen und Natur nur in Form von Balkonpflanzen und Schrebergärten kennen, zu einem Wirtschaftswunder-Deutschland, das sich nach dem Krieg die Kühlschränke vollstopfte und Spiritualität in den hintersten Winkel der Gesellschaft verbannte. Vielleicht begegnete Beuys der nomadischen Kultur schon in Kinderbüchern, später in ethnologischer Literatur, möglicherweise in versprengten Relikten auch noch auf der Krim. Seine Wintergeschichte hat ihm geholfen, war vielleicht – lange bevor er sie öffentlich erzählte – schon der Katalysator für einen geistigen Neuanfang nach dem Krieg.

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       WINTERSCHÄDELERLEBNIS, 1951

      Eine rätselhafte Zeichnung von Beuys heißt »Winterschädelerlebnis« (1951) und zeigt – wie eine Röntgenaufnahme – das seltsame Innenleben eines Kopfes. Eine Figur mit einem kleinen Herzen in der Mitte ist darin, halb Pflanze, halb Wesen mit Geweih, dessen Glieder sich nach oben zum Schädeldach spreizen. Es könnte auch, ganz ähnlich wie bei Jim Morrison, ein tanzender Geist sein, der lebendig von innen wirkt, das Schädeldach trägt und Herzenskraft spendet. Durch den Mund ragt ein Trichter, von dem man nicht sagen kann, ob er etwas heraus- oder hineinlassen soll. Ist es ein Schalltrichter, der die Botschaften der im Inneren lebenden »Muse« nach außen trägt? Oder nährt diese sich


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