Zeige deine Wunde. Rüdiger Sünner

Zeige deine Wunde - Rüdiger Sünner


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Außenreizen besonders aktiv ist? In der wir eine besondere Kraft brauchen, die uns Wärme zupumpt?

      Ich muss bei diesem Titel immer an die Absturzgeschichte von Beuys denken, zumal er bei dem Flugzeugunfall auch Kopfverletzungen erlitt. Beschwor er in der Zeichnung die Gegenkräfte zu den Beschädigungen von außen: die Regenerationskraft des Geistes, die Überwindung des Traumas durch Fantasie, der Kälte durch kreative Wärme? Wird das Bild so zur Darstellung eines Einweihungsgeschehens wie in den Zeichnungen »Schlaf im Schnee« und »Initiation«, die sich in dem Katalog mit dem vielsagenden Titel Innere Mongolei5 finden? Es sind allesamt Bilder, die die Leere weißer Landschaften umkreisen, seien es reale Winterlandschaften oder solche des Geistes. Darin befindet sich ein Mensch, der etwas empfängt – und zwar aus einer Leere, die vielleicht Erweckungserlebnisse gerade durch das Fehlen äußerer Fülle stimuliert.

      Über den Komplex »Beuys und der Winter« gibt es eine faszinierende Geschichte des Anthroposophen Günther Mancke, der mit Beuys bei Ewald Mataré studierte. Mancke hatte sich nach dem Krieg in eine Künstlerkolonie in der Hocheifel zurückgezogen, um dort ungestört arbeiten und Rudolf Steiner lesen zu können.

      »Beuys kam regelmässig unregelmässig [sic] hierher«, erzählte Mancke der Kunsthistorikerin Rhea Thönges-Stringaris, »da war es morgens drei oder vier Uhr mitten im Winter, hoher Schnee, es klopfte, und da war er durch den Schnee gekommen, von Daun her. Er hatte Mitfahrgelegenheit gehabt bis Daun und ist zu Fuss rüber über die Berge gekommen (…) Das sind mehr als 16 Kilometer, der war mindestens sieben, acht Stunden unterwegs, in der Dunkelheit gegangen im Winter. Um drei Uhr war er dann da und hatte das Brandenburger Konzert unterm Arm, wir hatten so einen Holzkasten mit einer Kurbel dran, und dann wurde das Brandenburger Konzert von Bach aufgespult! Das war eine wunderbare Zeit, es war einmal eine Zeit für einen selbst: es war kein Licht da, es war kein Wasser da – wir holten das Wasser an der Quelle –, wir haben mit Kerzenbeleuchtung gelesen.«6

      Was für eine Geschichte. Ein Mann wandert stundenlang durch zugeschneite Wälder, um frühmorgens irgendwo anzukommen, wo menschliche Gemeinschaft, Licht und Wärme sind und man gemeinsam Bach hört. Ein Winter unmittelbar nach dem Krieg, auch ein Sinnbild für die allgemeine Ödnis und Kargheit, wo es an allem fehlte und geistige Bedürfnisse stark waren. Ich fragte mich bei dieser Geschichte oft, was Beuys wohl bei dieser langen Nachtwanderung durch den Kopf gegangen war. Und ich glaube, da rannte keiner mit klappernden Zähnen durch einen unheimlichen Winterwald, sondern durchwanderte mit offenen Sinnen einen tief berührenden und geheimnisvollen Raum. Einen Raum der Stille und monochromen Fülle, beides für mich auch Merkmale vieler Beuys-Werke. Die »Tatarenlegende« entschlüsselt sich nicht durch kriminologische Recherchen, sondern durch den Kontext mit dem Werk. Sie ist selbst ein Teil davon und einzig die Frage interessiert, welche Art von Energie dieser Mythos in sich birgt. Bei Beuys ist diese Energie beträchtlich und führt in seine »innere Mongolei«. Dies ist ein Land, das wir nicht – wie etwa den Mars – mit einem Forschungsgerät der NASA untersuchen können. Es ist vielmehr ein Innenraum, für den es anderer Sensorien bedarf und der für uns immer noch so unbekannt, so eine »Terra incognita« ist wie der entfernteste Planet.

       ERBE UND SOHN LOHENGRINS

      Nicht nur die Natur hilft dem jungen Beuys, Einsamkeit, Entfremdung von der Erwachsenenwelt und seelische Verletzungen zu heilen, sondern auch mythologische Figuren. Sein Werk ist voll von ihnen: Ostara, Lohengrin, Parzival, König Arthur, Leda, Diana, Apollo, Dionysos, Thor, Loki, Nornen, keltische Götter wie Penninus und der gehörnte Cernunnos. All dies sind mythische Figuren, die als kraftvolle Sinnbilder für seelische Erfahrungen dienen, die sich anders nicht umschreiben lassen. Es sind keine Unwahrheiten oder Verschleierungen, mit denen der Begriff »Mythos« heute im allgemeinen Sprachgebrauch gerne assoziiert wird, sondern präzise Beschreibungen in einer nicht begrifflichen Sprache. Wer sie nicht lesen kann, neigt dazu, sie als dunkel und irrational abzuwerten. Beuys konnte sie lesen und spielte gerne mit diesen Bildern. In einem Multiple von 1974 mit dem Titel »Testament« bezeichnete er sich als einen Sohn und Erben Lohengrins. Auf dem in englischer Sprache gedruckten Testamentsformular heißt es: »This is the last Will and Testament of me: Joseph Beuys, of Lohengrin, in the County of: Grafschaft Cleve.«7

      Die Herzöge von Kleve, so Beuys, hätten einen regelrechten Schwanenkult betrieben, auf ihrer Burg thronte ein Schwan, den er als Kind immer vor Augen hatte. Die damit verknüpfte Sage mag die Fantasie des Heranwachsenden in Schwingungen versetzt haben. Sie erzählt vom Mut eines geheimnisvollen Ritters, der – wie Lohengrin in der gleichnamigen Wagneroper – einer jungen, unverheirateten Burgherrin erschienen sei, um sie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Die beiden heirateten, hatten Kinder, aber der Ritter verbot seiner Gemahlin, ihn jemals nach seinem Namen und seiner Herkunft zu fragen. Doch die Kinder bedrängten die Mutter, und als diese dem Ritter schließlich doch die verbotenen Fragen stellte, sagte er, dass er Elias heiße und aus einem fernen Gralsreich komme. Im selben Moment tauchte ein Schwan auf und verschwand mit ihm auf Nimmerwiedersehen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie so eine Geschichte die Imagination eines Heranwachsenden – und später die eines Künstlers – beflügelt. Ein sanfter Held, der nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Schwan reitet, kommt aus einem mysteriösen Land, das mit Idealen und geistiger Suche zu tun hat, aber nicht näher ausgemalt wird. Er tut Gutes, ohne sich selbst allzu sehr in den Mittelpunkt zu stellen. Am Ende verschwindet er, kein Ehemann aus Fleisch und Blut, sondern ein Bote aus einer anderen Welt, aus der gelegentlich Signale auf die Erde gesandt werden. Beuys sprach nicht viel über die Gralswelt, aber Hinweise darauf tauchen in seinem Werk immer wieder auf: Brücken zu dem, was die keltische Mythologie die »Anderswelt« nennt, die Beuys weniger als Esoteriker denn als Künstler zu erkunden versuchte.

      Auch andere starke Bilder inspirieren den jungen Beuys:

      »Wenn Bezeichnungen wie ›Hirschführer‹ oder ›Dschingis Khans Grab‹ auftauchen, so sind dies Dinge, die man grundsätzlich psychologisch deuten kann: primäre Erlebnisse, zum Teil Träume, die man als Kind wirklich erlebt; traumhafte oder außerordentlich subjektive Vorstellungen, die sich später im Laufe des Werdegangs als objektiv zusammenhängend herausstellen. Als Kind erfährt man die Dinge ziemlich bildhaft, wenigstens mir ging es so, indem ich das, was ich irgendwie in Erfahrung gebracht hatte, nachspielte. Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich mich jahrelang verhalten habe wie ein Hirte, das heißt, ich bin herumgelaufen mit einem Stab, einer Art ›Eurasienstab‹, wie er später auftaucht, und hatte immer eine imaginäre Herde um mich versammelt. (…) In diesem Bild habe ich mich sehr wohlgefühlt, wobei ich Erlebnisse, die ich hatte, sofort zu verarbeiten suchte. Ich fing an, mich für Pflanzen, für Botanik zu interessieren, und kannte, da ich es in vielen Heften zu Papier brachte, fast alles, was es auf diesem Gebiet überhaupt gab. Mit anderen Kindern wurden regelrechte Exkursionen veranstaltet, wir legten Sammlungen an und machten diese öffentlich zugänglich. Natürlich hatte das alles noch Spielcharakter. So wurden aus alten Tüchern, Lumpen und Resten, die wir uns erbettelt hatten, große Zeltbauten ausgeführt und darin jene Dinge gezeigt, die wir gesammelt hatten (…) Es fanden auch umfangreiche Erdbewegungen statt, denn teilweise bauten wir in einem Labyrinth von Gräben unsere Räume unter der Erde. Dies alles spielte sich in Kleve ab zwischen 1925 und 1933.«8

      Ist das wieder ein Zurechtbiegen der Biografie, um später interessant zu klingen und besser dazustehen als andere? Kinder leben in solchen Welten. Und wenn sie später Künstler werden, setzen sie diese Art des Erlebens vielleicht intensiver fort als die, die Finanzbeamter, Wissenschaftler, Politiker oder Banker werden. Vielleicht sind die Entlarver von Fantasiegeschichten insgeheim neidisch darauf, nicht mehr solche geistigen Spiel- und Freiräume zu haben? Leiden sie im Gefängnis ihrer trockenen Fakten, die keine Verbindung mehr zu ihrem Herzen haben? Beuys blieb Kind, was diese Imaginationskraft angeht, und es gibt kaum einen Künstler des 20. Jahrhunderts, der in seinem Bereich ein so »wildes Denken« praktiziert hat wie er. Vielleicht zog er sich auch daher so viele Verdächtigungen und Aggressionen zu.

      Der junge Beuys lebt als »Hirte« in der wasserreichen Landschaft um Kleve, die von weiten Himmeln, Mühlen, Armen des Altrheins und Kopfweiden geprägt ist. Letztere können fantastische Formen annehmen, und man kann sich leicht vorstellen, welche buckligen


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