Zeige deine Wunde. Rüdiger Sünner

Zeige deine Wunde - Rüdiger Sünner


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steht mit einem Bein in der Zivilisation und mit dem anderen in der Wildnis. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass dieser Berufsstand, der lange sozial geächtet war, immer auch mit magischen und heilkünstlerischen Fähigkeiten in Verbindung gebracht wurde.9 Zahlreiche Hirten landeten im 16. und 17. Jahrhundert als »Hexer« oder »Werwölfe« vor Gericht und wurden zum Tode verurteilt. Das Bild des »Hirten« mag für den jungen Beuys gerade auch in seiner Abweichung vom Normierten anziehend gewesen sein und passt zu seiner späteren Faszination für Nomadentum und Schamanismus.

      Für meinen Film besuchte ich im August 2014 die Gegend des Niederrheins rund um Kleve, um eindrucksvolle Bilder von jener Landschaft zu finden, die die Entwicklung des jungen Beuys mit geprägt hatte. Das war nicht einfach, da sich in den letzten 80 Jahren vieles drastisch verändert hat. Der Rhein ist heute oft überfüllt mit Lastkähnen, und die einst wohl menschenleeren Kolke befinden sich meist in Privatbesitz und sind mit Stacheldraht und Verbotsschildern abgesperrt. Wir mussten über viele rostige Zäune klettern, um an Wasserstellen zu kommen, die noch die Aura einer gewissen Einsamkeit und Traumverlorenheit umgibt.

      Ein Ort dagegen hat sich bis heute seine magische Stimmung bewahrt: die Mühle von Donsbrüggen. Beuys ist oft mit seinem Vater, der unter anderem mit Mehl handelte, von Mühle zu Mühle gefahren und hat sicherlich viele Stunden in diesen Wundermaschinen verbracht. Mit knarrendem Geräusch drehten sich die riesigen Windräder auch, als wir Donsbrüggen bei den Dreharbeiten aufsuchten. Während ich mit der Kamera um die Mühle streifte, tauchte ich in eine Welt von Dingen ein, die – neben der Natur – wohl auch Beuys’ Fantasie angeregt haben mögen. Alte Traktorräder, Spaten, verrostete Pflüge, Kisten, Werkzeuge, Rohre, Maschinenteile lagen dort herum, als würden sie schon Jahrzehnte vor sich hin träumen. Zum Teil waren sie überwuchert von Kräutern und langstieligen Pflanzen. Am Dach eines Gebäudes war eine Holzkiste mit einem Einflugloch befestigt, um Steinkäuzen den Nestbau zu ermöglichen. Hier war nahezu alles vereint, was sich in vielen Werken von Beuys findet: Tiere, Pflanzen, aber auch die Welt der Technik, das Abgelebte, Verrottete, Verbrauchte, alles dominiert von abgetönten, oft bräunlichen Farben. Im Inneren der Mühle hörte sich das Drehen der Räder ganz anders an als draußen, aber auch hier war ein starker Ort der Imagination. Sonnenlicht fiel durch die Holzritzen und tauchte manchen Gegenstand in eine poetische Aura. Hier war ein Mehlsack nicht nur eine Hülle für das Gemahlene, eine Schale nicht nur Aufbewahrungsort für Getreide, waren alte Räder nicht nur Funktionsträger eines mechanischen Getriebes. Durch das Licht und die Atmosphäre, die vom dunklen Knarren der mächtigen Windflügel erfüllt war, wurden Grenzen aufgehoben. Jedes Ding verwandelte sich zu einem Meditationsobjekt, das auch in Bereiche jenseits seiner üblichen Definition hineinragte. Bienen summten in den Sonnenstrahlen herum, und Rohre und Maschinenteile auf dem Boden verbanden sich in meiner Fantasie zur Beuys’schen Honigpumpe. Organisches und Mechanisches waren nicht mehr starr voneinander getrennt. Bienen, Steinkäuze und Störche schienen in einer geheimen Allianz mit den Vorgängen in der Mühle zu leben, die aus den Früchten der Erde Mehl extrahiert. Dies war keine kalte Maschine, sondern ein warmer, hölzerner, sich bewegender Riesenapparat, der eher etwas mit einem Organismus als mit einem starren Räderwerk zu tun hatte. Dass Beuys hier starke Eindrücke und Visionen empfing, liegt auf der Hand. Donsbrüggen erwähnt er im Lebenslauf/Werklauf als Ort einer »Ausstellung von Heidekräutern nebst Heilkräutern«. Ich sah im Geiste getrocknete Kräuter vor mir, die liebevoll gepresst und beschriftet an der Wand hingen, und dachte an die Erinnerung von Sonja Mataré, wonach Beuys jede Pflanze mit ihrem lateinischen Namen gekannt habe.

      Der junge, durch die Landschaft streifende »Hirte« zeigt schon früh einen bemerkenswerten Forschergeist. Zwar hat Beuys nie ein naturwissenschaftliches Universitätsstudium absolviert, aber er erwirbt im Laufe seines Lebens fundierte Kenntnisse über Tiere, Pflanzen, Mineralien und Metalle. Viele Zeichnungen wirken wie ein Echo auf diese frühen Erfahrungen: abstrakte Blumenaquarelle, die wie Farbexplosionen daherkommen, zarte Pflanzenwesen, die der Sonne entgegenstreben, Bilder »sterbender Blumen« oder ein »Mondän frisierter und mit Silbernadeln durchstochener Baum«. Lange kann man davor verweilen und in immer tiefere Bedeutungsschichten vordringen. Ähnlich wie bei anderen großen Zeichnern spürt man, dass intensive realistische Vorstudien nötig waren, um mit ein paar Strichen so sicher erzählen zu können. Spirituell ist diese Kunst von Anfang an, weil sie das Wesenhafte und Geheimnisvolle der Natur in den Mittelpunkt stellt.

      Das machen Kinder intuitiv auch, doch im Erwachsenenalter werden sie nüchterner und begnügen sich mit den erlernten Etikettierungen: Das ist eine Eiche, das ein Hirsch und das ein Hase. Beuys wird in diesem Sinne nie erwachsen. Was ihn als Kind gegenüber einem Baum oder einem Tier gepackt hat, wird ihn nicht mehr loslassen, und er versucht, dieses sich allen wissenschaftlichen Begriffen Entziehende immer neu zu umkreisen. Etwas Animistisches ist darin, wie es frühe Kulturen besaßen und wie es die deutsche Romantik weitergeführt hat. Auch ein Bezug zum Märchen, den Beuys in einer Talkshow des ORF selbst herstellte:

      »Es wäre doch auch sehr schön, wenn die Menschen das, was ich mache und was ich eigentlich bin, viel einfacher erklären könnten und würden sagen: Da erzählt ein Mensch etwas völlig Unverständliches, erzählt so etwas, von dem ich das Gefühl habe, es in Märchen gehört zu haben. Und er könnte mich doch durchaus als einen Märchenerzähler wahrnehmen, wo geheimnisvolle Figuren ins Spiel kommen, ein toter Hase tritt auf wie in einem Märchen, es wird von Kaninchen gesprochen, es gibt eine Sache mit einem Schwan, es gibt den toten Hirschen, dann spricht er auf einmal von Hirschdenkmälern. Das heißt: Wäre es nicht eigentlich richtig, dass man die Weise des Erzählens der Märchen mal heranzöge, um an dem Gehalt der Märchen – wenn man auf sie eingeht – festzustellen, dass diese Märchen ja eigentlich einer viel tieferen Wirklichkeit von Weltinhalt entsprechen als jede einfache rationale Beschreibung irgendeines sogenannten exakten naturwissenschaftlichen Vorgangs? Das wäre doch eigentlich genug.«10

       DIONYSOS IN WEIMAR

      Beuys’ Jugend fällt in die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. 1933 ist er zwölf Jahre alt, tritt wie viele andere der Hitlerjugend bei und wird später Soldat. Kritiker warfen ihm immer wieder vor, zu beschönigend über diese dunkle Zeit und das Militär gesprochen zu haben oder durch die NS-Propaganda mit nordischer Mythologie »infiziert« worden zu sein. Aber Beuys handelte wohl nicht anders als viele seiner Altersgenossen, und es gibt keinen Beleg dafür, dass er den Germanenkult der Nazis übernommen hat. Die wenigen Male, wo Elemente aus der »Edda« in seinem Werk auftauchen, zeichnen sich eher durch Humor aus (»Brünhilde in der Küche«, »Thor und Loki« als Hammer und Zange) und haben nie den martialischen Charakter, den der NS-Staat an nordischen Helden und Mythen schätzte.

      Auch das frühe Gedicht »Nordischer Frühling«, dessen Titel vielleicht auf den ersten Blick »völkisch« anmutet, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als etwas ganz anderes. Im Mai 1942 ist Beuys als Soldat in Erfurt stationiert und nutzt ein paar freie Tage zu einem Besuch im nahen Weimar. Dort besucht er das Nietzsche-Archiv, das Goethe- und das Schillerhaus. Anschließend verweilt er im Park des Schlosses Belvedere und genießt den Frühling, den er in einem Gedicht besingt:

      »O Frühling

      Deine tausend Kräfte strömen in mich hinein

      wenn ich durch den Wald gehe

      wie Baum an Baum [hier] das frühe Licht empfangen

      Durch das Filigran der Kronen fällt der rote

      Schimmer auf die grünen Matten[.]

      Drüben fliesst der Bach[.] Silberhell klingt es

      wenn die kleinen Wellen lieblich über die bunten

      Kiesel plätschern[.] Schon über die hoch hervor-

      ragenden Steine zieht sich neujähriges Moos.

      Und gleich neben dem Rinnsal das kräftige

      Drängen in den strebenden Pflanzen. Alles

      strebt gegen die herrlichen frühen Sonnenfenster

      über mir. Dort kommt es rot und drüben

      opalenes Blau.


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