Todesrunen. Corina C. Klengel

Todesrunen - Corina C. Klengel


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Organisation hatte Hermann aufgetragen, die Hexe, die so viel über die Harzer Geschichte herausgefunden hatte, als Informationsquelle anzuzapfen. Er sollte das Mädchen, das dem sagenhaften Artefakt nähergekommen war als jeder andere, mit seinem Charme einwickeln. Gelänge es Hermann tatsächlich, das Artefakt zu finden, so würde er im Orden unweigerlich aufsteigen.

      Auch Gerfried hatte dem Orden die Treue geschworen, doch die Eifersucht auf seinen Bruder war stärker. Die Aussicht, dass Hermann einen höheren Rang einnehmen würde, schmerzte wie eine schwärende Wunde. Aber auch, dass es Hermann war, der diesen leckeren Käfer bearbeiten durfte, passte ihm gar nicht. Nachdenklich betrachtete er seinen Bruder. Hermann hatte keine Probleme, sich Frauen gefügig zu machen. Sie schätzten die Kombination von Stärke, Charme und einem angenehmen Äußeren. Vorzüge, die auch er selbst zu bieten hatte. Und doch hatte er bei der hübschen Kleinen nicht landen können. Nicht einmal die Ähnlichkeit mit Hermann hatte ihm genutzt. Schnell hatte sie ihn durchschaut und abblitzen lassen. Aus Zorn hatte er dem Mädchen erzählt, warum sein Bruder sie umgarnte. Gerfried biss die Zähne aufeinander, als er an die Ohrfeige dachte, die sie ihm daraufhin versetzt hatte. Die kleine Hexe hatte die Lektion, die er ihr dafür erteilt hatte, mehr als verdient.

      »Ist schon ein heißer Feger, die Kleine«, sagte Gerfried beiläufig.

      Hermanns Bewegungen verlangsamten sich.

      »Woher willst du das wissen?«

      Gerfried verkniff sich nur mühsam das boshafte Grinsen, als er dem Gesicht seines Bruders das Begreifen ansah.

      »Du warst dort? Du hast sie gesehen?«, fragte Hermann schneidend.

      Hermann war gefährlich, wenn er wütend wurde, dennoch gab sich Gerfried entspannt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, grinste anzüglich und wandte sich wieder Kommissar Derrick zu, der sich zu dramatischer Musik steif und unbeholfen mit einer kleinen, geradezu albern wirkenden Walther PPK 7,65 an einer Mauer entlang schob.

      Gerfried wusste genau, dass Hermann sich jetzt fragte, ob die Organisation ihn womöglich durch seinen Bruder kontrollierte. Der Zorn verhärtete seine Züge, doch er hatte sich erstaunlich gut unter Kontrolle und wandte sich wieder ab.

      Gerfried beschloss nachzusetzen. »Ich glaube, du hast in den letzten Wochen etwas vergessen«, bemerkte er spitz.

      Hermann blickte ihn kurz über die Schulter hinweg an. »Und das wäre?«

      »Den Grund, warum du die Kleine umgarnen sollst.«

      »Kümmere du dich um deine Aufgaben!«

      Gerfried musterte ihn mitleidig. »Du sollst sie benutzen und nicht umwerben wie ein liebeskranker Stieglitz.« Er grinste höhnisch. »Du bekommst sie doch eh nicht, sie ist schließlich eine Hexe. Außerdem … du glaubst doch nicht, dass diese Bergbauern da oben zulassen würden, dass du ihnen so einen hübschen Käfer vor der Nase wegschnappst!«

      Hermann presste die Kiefer aufeinander. Seine Züge verrieten Ärger und Sorge zugleich. Gerfried bildete sich sogar ein, für den Bruchteil einer Sekunde Angst darin aufflammen zu sehen. Zufrieden lehnte er sich zurück und widmete sich wieder dem Fernseher.

      So traf ihn Hermanns Angriff auch völlig unvorbereitet. Sein Bruder war blitzartig durch den Raum gestoben, seine Linke schoss vor und schloss sich wie ein Schraubstock um Gerfrieds Kehle.

      Leise zischte Hermann seinem Bruder zu: »Ich warne dich nur dieses eine Mal … lass deine Finger von ihr!«

      »Schon gut«, krächzte Gerfried. »Schon gut. Ich stehe eh nicht auf uneingerittene Pferdchen!«

      Sie maßen sich mit Blicken. Gerfried dachte kurz an das Messer, das er stets unter dem weiten Schlag seiner karierten Hose trug. Es war, als hätte Hermann seine Gedanken gelesen. Die Hand an seiner Kehle spannte sich an – eine ungewöhnlich starke Hand, die viele Jahre Kampftraining an einem Breitschwert hinter sich hatte. Erbarmungslos drückte diese Hand Gerfrieds Kinn nach oben. Gerfried fühlte Hermanns Rechte auf seiner Schulter. Eine kurze Drehung und sein Genick würde bersten. Keiner sagte einen Ton. Es war auch nicht nötig. Gerfried hatte verstanden.

      Gerfried atmete erst aus, als die Tür ihrer gemeinsamen Studentenbude vibrierend ins Schloss fiel. Nachdenklich rieb er sich den Hals und stellte mit einem unguten Gefühl in der Magengegend fest, dass er wohl einen monumentalen Fehler gemacht hatte. Hermann war auf dem Weg zu ihr, und Gerfried ahnte, was seinen Bruder erwartete. Im Gegensatz zu Hermann wusste Gerfried, dass der Brief, der seinem Bruder dieses dümmliche Grinsen ins Gesicht getrieben hatte, nicht von ihr war. Nicht das Mädchen, sondern ihre Freunde und Nachbarn würden Hermann erwarten. Und es würde kein freundlicher Empfang werden. Aber würden sie mit jemandem wie Hermann fertig? Nach dem Vorfall eben hatte er seine Zweifel. Gerfried runzelte die Stirn. Falls Hermann diesen Abend wider Erwarten überleben sollte, hatte er ein Problem.

      An der Kleinen hatte sein Bruder offenbar einen größeren Narren gefressen, als er geahnt hatte. »Die Organisation sollte es erfahren…«, murmelte Gerfried missmutig. Sie hatten Hermann einen Auftrag gegeben, an dem bereits Heinrich Himmler gearbeitet hatte. Und nun setzte Hermann den Auftrag in den Sand, weil er sich in die kleine Hexe verguckt hatte. Die Organisation wollte zu Ende bringen, was 1935 begonnen worden war. Es ging um altes Kulturgut. Um Germanentum, die wahre Geschichte Deutschlands. Und was machte Hermann? So etwas Unprofessionelles wäre ihm nie passiert, dachte Gerfried verdrossen.

      Er verwarf den Gedanken, die Organisation zu informieren, er würde sich damit nur selbst ans Messer liefern. Heute Nacht kam es in Braunlage zum Eklat. Wieder strich Gerfried über die Tätowierung. Hermann trug bereits die Sig-Rune. Sein Bruder war kurz davor, die nächste Stufe zu erreichen. Die Initialisierung war am Jahresfest Imbolc vorgesehen, in sechs Wochen.

      Erst hatte dieser Schwächling Anton den Bullen Informationen zugespielt, und nach dieser Nacht würde Hermann ausfallen, der wichtigste Protegé der hiesigen Division.

      »Geschieht ihnen recht«, murmelte Gerfried trotzig. »So ist das halt, wenn man den Auftrag an einen Versager gibt!«

      Er vermutete, dass man den Westharzer Standort wohl erst einmal aufgeben musste. Wenn sie herausbekamen, dass er es gewesen war, der dem Orden so geschadet hatte, würden sie ihn bestrafen. Er ballte die rechte Hand zur Faust. Die Spitze des tätowierten Schwertes zeigte auf seine Pulsadern. Sie würden ihm den Arm nehmen, denn die Tätowierung enthielt das Signum der Ordenszugehörigkeit.

      Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er Angst. Die Organisation war weit verzweigt und stark. Die wenigsten wussten, wie weit ihr Einfluss reichte. Es war wohl besser, wenn er Deutschland schnellstmöglich verließ. Auch gut. Er hatte eh vor, zu gehen. Das Gefasel von psychologischer Kriegsführung in seiner Kaserne hier in Clausthal konnte er schon nicht mehr hören. Als ob man mit so einem Gewäsch einen Krieg gewinnen konnte. Es war Zeit für Veränderungen, wirkliche Veränderungen.

      Missmutig schob er das Lehrbuch über Geschosstypen auf seinem Schreibtisch hin und her, als sein Blick auf die Telefonnummer auf einem Zettel fiel, deren gleichmäßige, sinnlich-runde Ziffern einen roten Kussmund überdeckten. Es war zwar noch zwei Tage zu früh, aber er konnte genauso gut jetzt schon zu ihr fahren. Er wusste, dass sie ihn sehnlich erwartete. Ein bisschen Spaß mit ihr und dann über Frankreich nach Nordafrika. Ja, das war gut. Dort würden sie ihn nicht suchen. Würden sie wirklich nicht?

      Er sah sich um. Und wenn hier ein wenig Chaos entstünde? Chaos, das auf einen Kampf hindeutete? Ein Streit zwischen den beiden Brüdern würde der Organisation seinen Weggang erklären.

      Zufrieden mit seinem Entschluss stand er auf, um die kleine Altbauwohnung kurz und klein zu schlagen. Er zog sein Messer aus der Beinhalterung, schnitt sich die linke Handfläche auf und hinterließ blutige Handabdrücke an Möbeln und Wänden. Dann packte er einige wenige persönliche Sachen, darunter das Schwert, das er von seinem Vater bekommen hatte, und verließ die Wohnung in Clausthal-Zellerfeld, die er sich mit seinem Bruder geteilt hatte, für immer.

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