Todesrunen. Corina C. Klengel

Todesrunen - Corina C. Klengel


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die dunklen Flecken an Wand und Boden schweifen. Dabei fielen ihm Haken in der Decke und tiefe Rillen in den Wänden auf.

      »Die Ringe waren vielleicht für Boxsäcke. Könnte ein Raum für Kampftraining gewesen sein«, murmelte Hanjo Berking. »Staubt das ganze Haus ein. Ich will jeden Fingerabdruck in diesem Haus, jedes Haar und jede Faser in der Akte haben.« Sein Blick fiel auf die Blutspritzer. »Nehmt auch davon Proben.«

      »Wozu das denn?«

      »Vielleicht können unsere Laborratten ja eine Blutgruppe feststellen oder so was. Nehmt einfach Proben und packt es ein!«, herrschte Berking den Kollegen unnötig grob an. Dann ging er nach draußen und tat, als würde er sich den Garten ansehen. Er hatte versagt.

      Nach einer Weile gesellte sich Ullrich Schüssler hinzu, der ahnte, wie seinem Freund zu Mute war.

      »Der Fotograf kommt«, erklärte er unbeholfen und starrte ebenfalls über die ungepflegte struppige Fläche, die an einer vereisten, krautigen Hecke endete.

      Hanjo stierte missmutig schweigend in die kahle Winterlandschaft. Die Wintersonne war in dem aluminiumfarbenen Himmel nur zu ahnen.

      »Mensch, Hanjo … mach dir keine Vorwürfe. Immerhin wissen wir jetzt, dass du mit deinem Verdacht richtig lagst. Hier war wirklich eine rechtsradikale Truppe am Werk. Das zählt!«

      »Sie sind uns aber durch die Lappen gegangen«, haderte Hanjo. »Monatelange Arbeit … alles umsonst.«

      »Wir hatten die Adresse doch gerade erst aus diesem Müller herausbekommen. Hanjo, dafür kann keiner was!«

      »Wahrscheinlich rekrutieren sie woanders schon die nächsten Jungen, die einfach nur nach Idealen suchen.«

      »Also auch verschwunden«, stellte Hanjo Berking müde fest. Er kippelte mit seinem Stuhl herum und schaute leer aus dem Fenster. Es schneite schon wieder.

      »Ja, die Wohnung war völlig verwüstet. Sieht ganz nach einem Kampf aus. Aber eines ist merkwürdig … « Ullrich Schüssler blätterte in einer Akte, die er nun auf Berkings Schreibtisch fallen ließ. »Sein Wagen wurde in Braunlage gefunden. Gar nicht weit von dort, wo die Kleine wohnte, die vergewaltigt wurde.«

      Hanjo Berkings Stuhl kam lautstark auf allen vier Füßen zu stehen. »Was?«, fragte er völlig unnötig, denn er hatte seinen Kollegen überdeutlich verstanden. In den letzten Wochen war es ihm fast gelungen, das Gesicht der jungen Frau aus dem Kopf zu bekommen, an die er so ungebührlich oft hatte denken müssen. Ungebührlich deshalb, weil diese Gefühle einen Verrat an seiner Frau Annalena darstellten, die er doch liebte.

      »Hatte sich denn noch etwas wegen der Kleinen ergeben?«, fragte Schüssler vorsichtig.

      Berking entging der forschende Blick seines Kollegen nicht. Er gab sich nun betont unbeteiligt.

      »Die Vergewaltigung meinst du? Nee. Ich glaube auch nicht, dass wir da etwas herausbekommen. Sie leugnet die Sache. Und ihre Freundin mauert ebenso hartnäckig.«

      »So ein Blödsinn!«, maulte Schüssler. »Ob sie den Scheißkerl kennt?«

      »Entweder das … oder sie schämt sich.«

      »Wie kann man sich dafür schämen, wenn man vergewaltigt wird?«, begehrte Schüssler auf.

      »Na ja, meist geht der Vergewaltigung ja doch ein gewisses Geplänkel voraus. Ein Blick hier, ein Lächeln dort – und das ist es, wofür sich die Frauen schämen«, meinte Hanjo, während er eine kurze Notiz in eine der Akten schrieb.

      »Hm«, grummelte Schüssler. »Sag mal, weißt du eigentlich, dass sich einige Burschen dort oben eine kernige Prügelei geliefert haben? Dieser Dr. Volkers hatte noch mal hier angerufen. Muss wohl eine Woche vor unserer Hausstürmung gewesen sein.«

      Nun schaute Hanjo doch auf. »Die haben sich geprügelt? Und?«

      Schüssler lachte und schüttelte den Kopf. »Ich hatte diesen Dr. Volkers zurückgerufen. Er meinte, einer von denen hatte wohl sogar eine üble Stichwunde im Bein, aber keiner hat dem Arzt etwas sagen wollen. Eine Anzeige gab es auch nicht. Nichts.«

      Hanjo lächelte müde. »Tja, das ist eine eingeschworene Gesellschaft dort oben. Wir werden wohl nie erfahren, was dort vorgefallen ist. Hätte sich nicht dieser Dr. Volkers damals gemeldet, ich bezweifle, dass wir überhaupt je von der Vergewaltigung erfahren hätten.«

      »Ist ein vernünftiger Mann, dieser Doktor. Meine Güte, war die Kleine hübsch«, meinte Schüssler versonnen.

      Hanjo Berking gab ein knappes »Ja« von sich und versuchte die tannengrünen Augen und die roten Locken mühsam aus seiner Erinnerung zu verdrängen. »Und der Wagen von unserem Obernazi ist dort gefunden worden?«

      »Ja. Aber der Bursche ist wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte ja weder unter seinen Nachbarn noch in der Uni Freunde. Die wenigen, die ihn von den Vorlesungen kannten, beschrieben ihn als ziemlich verschlossen. Nach Aussage seines Professors für…« Schüssler warf einen Blick in seine Akte, »… für Physik war er hochintelligent. Seit Beginn der Weihnachtsvorlesungspause hat ihn niemand mehr gesehen. Ich denke, der wurde dort unter falschem Namen geführt, so etwas ist für unsere Nazifreunde ja kein Problem. Und dort, wo wir seinen Wagen gefunden haben, will ihn niemand gekannt haben.« Schüssler blätterte weiter und sagte nachdenklich: »Dann hat sich noch ein Bundeswehrsoldat oben aus Clausthal abgesetzt. Von dem fehlt auch jede Spur. Aber das hat mit unserem Fall wohl nichts zu tun.«

      Berking starrte nachdenklich seine Tischplatte an. »Für unsere Gegend ein bisschen viel Zufälle.«

      Schüssler schaute auf. »Du vermutest doch wohl da keinen Zusammenhang?« Er schüttelte lachend den Kopf. »Jetzt wirst du aber paranoid, mein Lieber!«

      »Wahrscheinlich«, maulte Berking, zog sich seine Telefonkartei heran und suchte sich die Nummer von Dr. Volkers heraus.

      Kapitel 1

      Aus Liebe zu der Keltin Kamma tötete der Fürst Sinorix deren Gatten Sinatos.Nach langem Zögern gab Kamma dem Werben des Sinorix nach und lud ihn in den Artemis-Tempel ein, deren Priesterin sie war. Sie bot ihm einen vergifteten Weihetrank, nachdem sie vorgekostet hatte. Sinorix tat es ihr nach und trank. So tötete sie den Mörder ihres Mannes und opferte dafür ihr Leben.

      – Plutarch Moralia 257 F –

      Dreißig Jahre später

      Hedera konnte an nichts anderes mehr denken als daran, dass sie ihrer eigenen Geschichte begegnet war. Sie hatte ihn wieder gesehen. Und was noch schlimmer war, er hatte sie gesehen. Erst hatte sie geglaubt, einem Trugbild aufzusitzen, denn sie wähnte ihn längst im Zwischenreich. Doch er war am Leben.

      Auf den Hochwiesen von Braunlage hatte sie Blätter des roten Fingerhutes sammeln wollen, um daraus eine Wundverbandabkochung für einen ihrer Patienten zu machen. Fingerhut gab es auch hier im Tal. Wieso trieb es sie immer wieder zu einem Ort, wo man sie verhöhnt und gedemütigt hatte? Warum war er dort gewesen? Er, der ihr Leben fast zerstört hatte. Wegen dem, was er getan hatte, war sie vor dreißig Jahren aus Braunlage weggegangen, damit ihre Tochter Tilia, die von allen Tilla genannt wurde, ohne das Getuschel der Nachbarn aufwachsen konnte. Tilla.

      Ihr wurde eiskalt. Warum kam er gerade jetzt zurück? Ahnte er etwas? Was würde er tun, wenn er von Tilla erfuhr? Sollte sie ihre Tochter warnen? Nein! Hedera wusste genau, dass Tilla, wenn sie von ihm erfuhr, schnurstracks zu ihm gehen würde. Nein, so ging es nicht. Hedera ließ den Kopf sinken.

      Ihre Tochter hatte den alten Glauben immer abgelehnt und Hedera hatte sie gewähren lassen. Den alten Glauben zu praktizieren, forderte viel von einem. Es war nicht für jeden der richtige Weg. Der, der ihn gehen wollte, musste sich bewusst dafür entscheiden. Sie wusste, Tilla hatte den Ruf der alten Götter vernommen, doch noch hatte sie sich nicht entschieden. Ihr scharfer, von erlerntem Wissen dominierter


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