Todesrunen. Corina C. Klengel

Todesrunen - Corina C. Klengel


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Idee. Sicher warteten dort Wachen auf ihn. Er spähte aus seinem Versteck.

      Es schien, als sei der halbe Ort auf den Beinen, um ihn zu hetzen. Einige liefen tatsächlich an seinem Versteck vorbei. So leise wie möglich richtete er sich auf. Er musste die Richtung ändern. Links von ihm schnitt ihm der Andreasberger Teich den Fluchtweg ab. Er spähte in den Sternenhimmel, um sich zu orientieren, und versuchte es in nordwestlicher Richtung. Vielleicht gelang es ihm, in einem weiten Bogen zurück zur Harzhochstraße zu laufen. Noch lief er nicht. Er schonte seine Kräfte und baute auf Geräuschlosigkeit. Dann sah er Taschenlampen aufblitzen und fluchte innerlich. Nun blieb ihm nur noch seine Kondition. Er lief los. Um ihn herum schien der Wald zu brodeln. Sie hatten seinen Richtungswechsel erkannt und folgten ihm. Ein Bach glitzerte im Mondlicht. Er übersprang ihn und hastete weiter. Ein paar Stimmen kamen näher. Er musste sie abhängen, um die Straße nordöstlich von ihm zu erreichen. Allerdings hatte er noch einige Kilometer vor sich.

      Während er lief, befühlte er seine Taschen nach etwas, was sich als Waffe verwenden ließ. Währenddessen horchte er nach hinten. Das Taschenmesser rutschte ihm in die Hand. Noch im Lauf öffnete er es. Im nächsten Moment traf ihn ein derber Schlag an der Schläfe und er ging zu Boden. Warmes Blut lief ihm in den Kragen und über die Hand. Zwar kämpfte er erfolgreich gegen die wabernden Schleier einer Bewusstlosigkeit, blieb aber dennoch liegen, ohne sich zu rühren. Verhalten tastete er nach dem Messer. Endlich fühlte er etwas Hartes zwischen den Fingern. Seine Chance kam, als sich sein Widersacher zu ihm herunterbeugte.

      »Das wird dir eine Lehre s…« Weiter kam Hermanns Verfolger nicht, denn das Messer fuhr dem jungen Mann aus Braunlage in den Oberschenkel. Hermann drehte es etwas und zog es aus dem blutenden Fleisch. Mühsam richtete er sich auf und rammte der gekrümmten Gestalt seine Faust ins Gesicht. Torkelnd rannte er weiter. Rechts sah er nur sehr verschwommen. Das Blut lief. Stimmen und die Geräusche von unzähligen Füßen, die durch das Unterholz brachen, schienen von überall her zu kommen. Hermann sah seine Chancen, diese Nacht zu überleben, zum ersten Male schwinden. Er erreichte einen Waldweg und folgte ihm. Mehrfach dachte er, seine Lungen würden bersten. Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Kilometer um Kilometer rannte er. Die Stimmen hinter ihm wurden leiser. Hatten vielleicht einige von ihnen aufgegeben? Es ging bergan. Neben ihm gurgelte ein weiterer Bach. Endlich gönnte sich Hermann ein ruhigeres Tempo, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und presste eine Hand voll Schnee auf die Wunde an seiner Stirn. Schwer atmend näherte er sich einem Abzweig. Er konnte die Straße hören. Die Straße? Die Autos fuhren nicht vorbei, sie näherten sich seinem Standort und Hermann erkannte fröstelnd, von diesen Fahrzeugen hatte er keine Hilfe zu erwarten, im Gegenteil. Hermann fluchte und wandte sich nach links, von der Harzhochstraße weg. Er war gezwungen, dem Weg zu folgen, da der Wald rechts und links zu dicht war, doch er musste schnellstens von dem Weg runter. Sie waren ihm mit Autos auf den Fersen. Endlich sah er rechts einen Pfad abzweigen und folgte ihm in den Wald. Die Wagen hielten. Autotüren gingen auf und wurden zugeschlagen. Das Stimmengewirr folgte ihm. Hermann stolperte über einen steinigen, engen Pfad, bis sich überraschend eine Lichtung auftat. Die Lichtung endete in einem Abgrund. Dahinter verbreitete sich das Mondlicht über die Kuppen ausgedehnter Wälder. Er hatte verloren.

      Hermanns Fäuste trafen noch so manchen Kiefer, bevor er seine eigenen Rippen brechen hörte und zusammensackte. Von allen Seiten hagelte es Fäuste, Tritte und Schläge. Er hörte noch einige Wortfetzen wie: »… wieder ein Wanderer die Klippen heruntergestürzt … den Rest erledigt die Kälte!«

      Er fühlte sich hochgehoben. Stürzte. Dann wurde es endgültig Nacht.

      Kriminalhauptkommissar Harmsen gab ein kühles »Na, das war ja wohl nichts« von sich, während er sich verkniffen umsah. Hans-Joachim Berking fluchte derb, wusste er doch genau, wem diese vernichtenden Worte galten. Schließlich war er es gewesen, der diesen Einsatz in monatelanger Arbeit vorbereitet hatte. Sie hatten ja einiges erwartet, aber nicht diese höhnische Leere.

      »Verdammt! Wo sind die denn alle hin?« Ullrich Schüssler sah sich konsterniert um. Einige der uniformierten Kollegen, die das einsame Gehöft nördlich von Bad Harzburg unweit der Grenze gestürmt hatten, konnten sich ein boshaftes Grinsen nicht verkneifen. Irgendwie freute man sich ja schon, wenn die besser verdienenden Kripo-Kollegen in Zivil einen Fehler machten. Aber natürlich war es auch zum Teil Erleichterung. Erleichterung darüber, es nicht mit einer unberechenbaren und bewaffneten Truppe von Rechtsradikalen aufnehmen zu müssen, die hier ihr Hauptquartier gehabt haben sollte.

      »Scheiße! Ich weiß es doch auch nicht«, antwortete Berking seinem Freund und Kollegen ungehalten. Hoffnungsvoll blickte er einem Uniformierten entgegen, der von einem Rundgang durch das Haus zurückkam. Dessen Kopfschütteln ließ Berkings Gesichtszüge geradezu gefrieren. »Dieser Anton Müller muss seine Kumpels irgendwie gewarnt haben!«

      »Wie denn? Der sitzt in U-Haft«, hielt Schüssler dagegen.

      »Irgendwer hat die Bande aber gewarnt«, erwiderte Berking ungehalten.

      »Tja, Berking, die sind wohl besser organisiert als wir«, murrte Harmsen und machte Anstalten zu gehen.

      Berking fluchte lauthals und schimpfte dann vor sich hin: »Wir brauchen endlich Namen! Unsere Kollegen müssen sich diesen Müller noch mal vornehmen.«

      Dieser Fehlschlag hatte gerade noch gefehlt. Es war ein grauenhaftes Jahr gewesen, dessen Ereignisse selbst eine so kleine Polizeidienststelle wie die von Goslar nicht unbeeindruckt gelassen hatte.

      Für Hanjo Berking hatte das Jahr 1977 mit einer hässlichen Häufung von Katastrophen begonnen. Erst war ein Freund von ihm bei dem Einsatz in Grohnde schwer verletzt worden, und kurze Zeit später waren seine Eltern bei dem Flugzeugabsturz auf Teneriffa ums Leben gekommen, der mittelbar mit einem Bombenattentat zu tun hatte. Das vergangene Jahr war nicht nur für ihn ein schwieriges gewesen. Die Ordnungskräfte vibrierten geradezu, selbst im beschaulichen Goslar. Allerorts erwartete man neue Zusammenschlüsse von gewaltbereiten Weltverbesserern. Waren es im Norden eher linke Gruppierungen, so hatten sie es im Harz und seiner Umgebung zumeist mit Rechtsradikalen zu tun. Hanjo hatte schon lange aufgegeben, den Unterschied begreifen zu wollen.

      Nun stand er in diesem verdammten Haus mitten in der Feldmark unweit der Grenze, dessen Leere nicht nur die Goslarer Polizei, sondern vor allem ihn persönlich der Lächerlichkeit preisgab.

      Hanjos Blick richtete sich auf den Rücken seines Vorgesetzten Harmsen, der den Tatort verließ. Er hatte Mühe, seinen Zorn zu zügeln. Hanjo zwang seinen Blick von seinem Chef weg und ging durch den Flur in eine Art Wohnzimmer, hinter dessen Fenstern sich eine weitläufige Ackerfläche erstreckte. Die Wände waren mit allerlei Symbolen versehen worden, von denen Hanjo einige als nationalsozialistisch erkannte. Am Kopfende des Zimmers prangte eine recht kunstvolle Zeichnung an der Wand, die an die überschwänglichen Bilder der Jahrhundertwende erinnerte. Ein von Eichenlaub umranktes Schwert in einer Art Wappen schwebte einem Altarbild gleich in Augenhöhe. Die Waffe mit ihren Rankenmustern und dem verzierten, in einem großen Stein mündenden Griff mit Strahlenkranz war so kunstvoll in Szene gesetzt, dass man fast meinte, es von der Wand nehmen zu können.

      »Das Bild zeigt zumindest, dass sie hier gewesen sind«, stellte Schüssler mit Blick auf die Wandzeichnungen fest. »Was bedeuten denn all diese doppelten Achten?« Er wies auf die anderen Wände, wo sich diese Zeichen mehrfach wiederholten.

      »Der achte Buchstabe des Alphabets ist ein H. Doppel-H steht für ›Heil Hitler‹ «, knurrte Hanjo fahrig.

      »Und diese Symbole? Sind das überhaupt Buchstaben?«

      Hanjo Berking schüttelte den Kopf. »Die kenne ich auch nicht, außer dem SS-Zeichen hier.« Nachdenklich schritt er die Wände des Hauses ab. »Ulli, sorg doch bitte dafür, dass ein Fotograf das verewigt«, verlangte er nun.

      Ullrich Schüssler nickte und ging nach draußen, um von einem der Einsatzfahrzeuge einen Funkspruch abzusetzen.

      »Kommissar Berking …«

      Hanjo drehte sich zu dem uniformierten Kollegen um.

      »Im Keller sind Blutspuren.


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