Todesrunen. Corina C. Klengel

Todesrunen - Corina C. Klengel


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Schloss und trat in die kalte Nacht hinaus. Gerfried war also in Braunlage gewesen. Er hatte sie gesehen. Was hatte er dort gewollt? Er querte die durch Schnee beengte Straße und ging auf seinen Wagen zu, während seine Gedanken bereits seinem Zielort entgegeneilten. Braunlage, der adrette Kurort im Oberharz mit seinen gepflegten Holzhäusern und seiner Gastfreundlichkeit, die Johann Wolfgang von Goethe fast auf den Tag genau zweihundert Jahre zuvor genossen hatte. Was würde der Geheimrat über die Wunde gedacht haben, die man seinem Land und Volk zugefügt hatte, eine Wunde in Form einer volksverachtenden Grenze, die sich nur wenige Kilometer östlich von Braunlage in die herrliche urdeutsche Natur fraß? Irgendwann würde es der Organisation gelingen, dieses Monument des Scheiterns zu eliminieren, da war sich Hermann sicher.

      Als der Autoschlüssel die leichte Eisschicht über dem Schloss durchstieß, kehrten seine Gedanken zu Gerfried zurück. Und damit auch sein Zorn. Er hätte ihn töten sollen. Irgendwann würde er das auch tun. So hätte es Vater gewollt. Nur der Stärkste sollte überleben. Doch diese Prüfung musste noch warten. Die Organisation hatte alles verboten, was auf sie aufmerksam machte. Hermann hasste die Notwendigkeit des Unauffälligen, sah sie jedoch ein. Schließlich waren sie schon einmal gescheitert. Nur weil ein Mann die Grenzen überschritten hatte, war der Krieg, der alles geändert hätte, verloren gewesen.

      Man hatte ihm, Hermann, den Auftrag erteilt, das Artefakt zu finden. Ob es seinem Besitzer tatsächlich zu der in diversen Sagen beschworenen Macht verhalf, wusste er nicht. Doch das hatte ihn auch nicht zu interessieren. Schon der Führer hatte Artefakte wie den Longinus-Speer gesammelt und Hermann hatte dererlei Vorgehen nicht in Frage zu stellen. Von dem Überbleibsel des legendären Keltenschwertes aus der Zeit der römischen Besetzung Germaniens war wenig bekannt. Ein Druide aus dem Harz soll es geschmiedet haben. Dem Schwert wurden ähnliche Kräfte nachgesagt wie der Heiligen Lanze.

      Ihr Antlitz erschien vor seinem inneren Auge. Sie war eine Altgläubige, eine Wicca, damit gehörte sie zu den Bewahrern des Artefaktes. Sie war der Schlüssel zu altem Wissen. Doch für ihn war sie weit mehr …

      Bei dem Gedanken, dass sein Bruder bei ihr gewesen war, stieg heißer Zorn in ihm hoch. Zwar war sich Hermann sicher, sie hätte Gerfried nie mit ihm verwechselt, wie so viele andere, doch sie hätte seinem Bruder natürlich auch nicht die Tür gewiesen. Nun ahnte Hermann, dass Gerfried der Grund dafür war, dass sie nicht mehr mit ihm hatte sprechen wollen. Was hatte er ihr erzählt? So etwas war typisch für Gerfried. Hermann stellte einmal mehr fest, wie sehr er seinen Bruder hasste.

      Aber nun war alles gut. Sie hatte ihm geschrieben. Heute, am Wintersonnenwendfest, würde er sich mit ihr aussprechen. Er ließ den Kratzer sinken und zog den Brief aus der Tasche. Ihr Maiglöckchenparfum stieg ihm in die Nase und verursachte ein wohliges Kribbeln in seinem Inneren. Liebster Hans … Sie kannte ihn nur unter seinem zweiten Vornamen, den er stets bei verdeckten Operationen benutzte. Es wurde Zeit, dass sie ihn besser kennenlernte. Versonnen steckte er den Brief in seine Tasche zurück. Das bohrende Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, legte sich etwas, als er sich in den Sitz fallen ließ. Prüfend betrachtete er den leicht verhangenen Nachthimmel. Es sah immer noch nach Schneefall aus, aber die Bundesstraße würde wohl einigermaßen geräumt sein. Er war ein guter Fahrer. Ein paar Schneewehen würden ihn nicht aufhalten.

      Die letzten Häuser Clausthals glitten an ihm vorbei. Er passierte eine freie Fläche, die sich in diffuses Mondlicht getaucht an den angrenzenden Wald schmiegte, bevor er wieder in das Dunkel des Waldes tauchte. Er folgte der Bundesstraße über den Hochharz. Es begann zu schneien. Die Straße vor ihm verlor durch wirbelndes Weiß an Kontur. Verschneite Fichtenwälder huschten an ihm vorbei. Hin und wieder lichtete sich der Wald um eine vereiste Seefläche herum, in der sich das Mondlicht spiegelte. Niemand war auf den Straßen. Die Harzer kannten ihre Natur und maßen sich nicht mit ihr. Sie genossen lieber einen gemütlichen Fernsehabend am bullernden Ofen. Unterhalb der Achtermannshöhe bog er rechts ab. Er malte sich bereits aus, wie sie durch den Winterwald schreiten würden, als er die ersten gelben Tupfen beleuchteter Fenster erkannte, die zu Braunlage gehörten.

      Sie hatte geschrieben, dass sie mit ihm allein sein wollte. Einen Abendspaziergang am Andreasberger Teich hatte sie vorgeschlagen. Etwas einsam, dachte er belustigt, aber sie liebte ja die Natur und kannte die Umgebung Braunlages wie kaum ein anderer.

      Das Mondlicht tauchte die verlassenen, durch Schneeberge verengten Straßen in ein unwirkliches Licht. Er verließ die Hauptstraße und arbeitete sich eine steile, aber gut geräumte Wohnstraße hinauf. Die spärlich vorhandenen Straßenlaternen durchbrachen die Dunkelheit nur unzureichend mit ihren milchigen Lichtkegeln. Dieses Wohnviertel mit seinen so unterschiedlichen Baustilen hatte schon tagsüber etwas Verwunschenes. Die Hanglage, große Gärten, villenartige Bauten und hohe Bäume mehrten diesen Eindruck noch. Im fahlen Licht der Nacht wurden Lebensbäume und Zaunpfeiler zu bedrohlich wirkenden Wächtern von Häusern mit Türmchen und Zinnen, deren Umrisse sich schemenhaft abzeichneten. Auf dem Weg zu ihrem Haus spähte er angestrengt in jede abgehende Gasse, doch es war niemand zu sehen. Kurz darauf hielt er an einem Waldweg, stellte den Scheinwerfer aus und wartete, bis sich seine Augen an das Mondlicht adaptiert hatten. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er noch einige Minuten Zeit hatte. Unruhe erfasste ihn. Jedoch waren nächtliche Dunkelheit, die Nähe des Waldes oder gar die Einsamkeit nicht der Grund dafür. Diese Dinge waren ihm seit seiner Kindheit wohlbekannt. Sein Vater hatte ihn und seinen Bruder oft zu nächtlichen Trainingsausflügen mitgenommen. Hermann verließ den Wagen und ließ automatisch den Blick in die Runde schweifen. Er spitzte die Ohren und ging dann langsam in den Waldweg hinein, der zum Andreasberger Teich führte. Immer wieder blieb er, wie er es beim Training gelernt hatte, unerwartet stehen und horchte auf Schritte. Doch er konnte weder jemanden sehen noch hören. Der Mond erschien zwischen den Wolken. Er war fast voll. Es schneite nicht mehr ganz so stark. Wieder ließ er den Blick über die Häuser unterhalb seines Standortes schweifen. In ihrem Haus brannte Licht. Warum hatte sie sich ausgerechnet heute mit ihm treffen wollen? Feierten sie und ihre Mutter heute nicht die Wintersonnenwende? Oder hatten sie ihren Termin angepasst und feierten erst am Heiligen Abend? Eigentlich passte das nicht zu ihr. Irgendetwas stimmte hier nicht.

      Einer unerklärlichen Ahnung folgend zog er sich in den Wald zurück. Es war fast neun. Mit geschmeidigen Bewegungen huschte er den Waldweg entlang. Plötzlich vernahm er ein leises Knacken hinter sich. Sein Körper spannte jeden Muskel an. Er war also nicht allein. Sein Nebenbuhler? Dieser grobschlächtige Harald und seine Kumpanen? Wieder horchte er angestrengt in die Dunkelheit. Erneut knackte es, dieses Mal rechts von seinem Standort. Natürlich! Sie folgten ihm deshalb nicht, weil sie bereits da waren. Besser gesagt, sie waren bereits hinter ihm und schnitten ihm den Rückweg ab. Auf das Überraschungsmoment setzend hetzte er los und verschwand zwischen den Bäumen.

      Damit hatte er die Jagd auf sich eröffnet. Überall ringsherum begannen Äste unter trampelnden Stiefeln zu bersten. Gefrorenes Laub knirschte. Zweige schabten über Winterjacken. Niemand bemühte sich noch um Stille. Es mochten zehn, vielleicht fünfzehn Männer sein. Er war ihnen in die Falle gegangen. Er hielt sich jedoch nicht mit der Frage nach dem Warum auf, angesichts dieser Übermacht konnten ihm nur noch Kondition und niederste Kampfinstinkte helfen. Bewusst atmete er lang durch, sondierte seine Lage, während er durch den Wald rannte. Er bezweifelte, dass seine Verfolger ihrem Körper mehr abverlangten, als es die tägliche Arbeit auf einem Oberharzer Kleinhof oder in einem Büro erforderte. Er dagegen lief seit seinem zehnten Lebensjahr täglich mehrere Kilometer. Noch immer bewegte er sich in hohem Tempo vorwärts. Die Distanz zwischen ihm und seinen Jägern vergrößerte sich, wie er an den leiser werdenden Rufen erkannte. Vielleicht konnte er sie zerstreuen und einzeln angreifen.

      »Schnappt euch das Schwein!« Hermann erkannte die Stimme sofort. Vor seinem inneren Auge tauchte ein Gesicht auf. Groß, dunkelhaarig, mit einem Blick voll eifersüchtigem Hass. In diesem Augenblick erkannte er, dass der Brief, der ihn her gelockt hatte, gar nicht von ihr stammte. Liebe macht wirklich blind, haderte er.

      Nun knackte es nicht mehr nur hinter ihm. Es waren mehr, als er vermutet hatte. Sie hatten sich bereits vorher verteilt und versuchten, ihn einzukreisen. Eine Wolke schob sich dem Mondlicht in den Weg und gab ihm eine Chance. Schwungvoll ließ er sich fallen, rollte unter etwas, das wie ein Hagebuttenbusch aussah, und blieb regungslos liegen. Bis sie sein notdürftiges Versteck erreichten, musste sich sein


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