Todesrunen. Corina C. Klengel

Todesrunen - Corina C. Klengel


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Sie redete sich damit froh, dass Hedera vielleicht zu einem ihrer häufigen Spaziergänge aufgebrochen war, bei denen sie Kräuter für ihre Naturmedizin sammelte. Tilla betrachtete die letzten gelben Blätter, die vereinsamt umherwehten, und murmelte kopfschüttelnd: »Blödsinn! Kräuter am ersten November. Verdammt, Mutsch, wo bist du?«

      Merkwürdig. Es war die Nacht nach Samhain, dem höchsten Feiertag der Altgläubigen. Wieso war ihre Mutter nicht zu Hause? War sie vielleicht bei anderen Altgläubigen eingeladen gewesen? Für sie und die Ihren begann mit Samhain das neue Jahr. Grund genug für Tilla, die spannungsgeladene Beziehung zu ihrer Mutter auf eine neue, gesundere Basis zu stellen. Tatsächlich hatte ihr das Verhältnis zu Nina gezeigt, wie zerbrechlich so eine Beziehung zu Kindern sein konnte und wie vorsichtig man als Erwachsener mit einem jungen, unsteten, weil suchenden Geist umgehen musste. Plötzlich gab so viel, was sie ihrer Mutter erzählen wollte. Es gab auch vieles, was sie ihre Mutter fragen wollte.

      Hedera hatte sie allein aufgezogen. Tilla gab in Gedanken zu, dass Hedera ihre Sache nicht besser hätte machen können. Ihr hatte es an nichts gefehlt. Dennoch hatte Tilla sich oft gewünscht, mehr über ihren Vater zu erfahren oder Verwandte ihres Vaters zu treffen, vielleicht eine zweite Großmutter, Tanten oder Cousins. Das Bild von Großmutter Leandra tauchte vor ihrem inneren Auge auf und ließ sie kurz lächeln. Nein. Dieses Mal würde sie sich nicht mit einer romantisch verklärten Antwort bezüglich ihres Vaters zufriedengeben. Sie wollte seinen Namen, damit sie Nachforschungen anstellen konnte.

      Der Brocken wurde immer größer und damit auch Tillas Angst vor den Fragen, die ihre Mutter stellen würde. Ihre Kampfeslust vom Moment zuvor fiel kläglich in sich zusammen. Sie wusste, schon die lapidare Frage, was sie so trieb, würde sie zu hektischer Beredsamkeit veranlassen, die ihre Mutter sofort durchschauen würde. Hedera würde traurig den Blick senken und nicht weiter nachhaken. Tilla hatte diesen Blick auch vor sich gesehen, als sie ihrer Mutter am Telefon mit vielen, zumeist unnötigen Worten erklärt hatte, warum sie das Studium aufgegeben hatte.

      Mit schmerzlicher Klarheit dachte Tilla darüber nach, was sie trieb. Nichts. Nichts, auf das man irgendwie stolz sein könnte. Sie war eine Versagerin. Erst hatte sie Psychologie studiert und dann zur Historie gewechselt. Beide Fächer war sie zu Anfang mit großem Engagement angegangen. Doch dann hatte sie begonnen, abends in der Studentenkneipe Blue Note zu kellnern. Irgendwann hatte sie nur noch gekellnert. An Mabonadh, Mitte September, hatte sie eingesehen, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Ihre Kommilitonen waren alle längst zu neuen Ufern aufgebrochen. Tilla hatte einen Entschluss gefasst und einen Tag nach Mabonadh, der Tag-und-Nacht-Gleichen des Herbstes, ihre Sachen gepackt und Göttingen den Rücken gekehrt, um nach Braunschweig zu ziehen. Der Nachteil war, Achim lebte in Braunschweig. Der Vorteil war, Nina lebte in Braunschweig.

      Wieder wurden ihr die Augen feucht, als sie daran dachte, wie sehr sich Nina über diese Neuigkeit gefreut hatte. Seither hatten sie sich mehrfach heimlich getroffen. Tilla hatte ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Lehndorf bezogen und kellnerte in einer kleinen Kneipe im Magniviertel. Es war in Ordnung. Aber aus Sicht ihrer Mutter war es sicher ein kleines Leben – ein sehr kleines.

      Der Motor ihres Wagens erstarb mit einem würgenden Gurgeln. Vor ihr erhob sich ein kleines Siedlungshaus. Zwischen dem Haus und einem etwas zurückliegenden Schuppen links daneben war ein großer Garten zu sehen, dessen Üppigkeit sogar zu dieser Jahreszeit erkennbar blieb. Efeu hielt das Häuschen etwa zur Hälfte mit seinen langen grünen Fingern umfasst und gab ihm etwas Verwunschenes. Der Anblick des Hauses, in dem sie aufgewachsen war, hatte Tilla stets mit Wärme an einstige Geborgenheit erinnert. Doch heute schien ihr das Gebäude irgendwie kalt und abweisend. Langsam stieg Tilla aus ihrem Wagen. Es war seltsam, dass so gar nichts darauf hindeutete, dass ihre Mutter zu Hause war. Der bewaldete Hang hinter dem Haus nahm den Räumen bereits am frühen Nachmittag das Licht. Eigentlich hätte das Küchenfenster beleuchtet sein müssen.

      Als Tilla das niedrige Gartentor öffnete, kam ihr Paris mit lautem, sich beschwerendem Miauen aus Richtung des Schuppens entgegen. Tilla bückte sich und kraulte die Katze hinter den Ohren, doch das Tier genoss diese Zuwendung nur kurz. Behände hüpfte Paris die Treppenstufen zur Haustür hinauf. Neben einem riesigen ausgehöhlten Kürbis, in dem eine Kerze flackernd ihr letztes Licht abgab, drehte die Katze einen gezierten Kreis. Auffordernd blickte sie Tilla an. Tilla kramte ihren Schlüssel hervor und schloss auf.

      »Mutsch?«, rief Tilla, während sie durch den Flur ging. Paris lief durch den Flur voraus, blieb dann jedoch unschlüssig stehen. Mit einem langgezogenen tiefen Laut zeigte die Katze, dass etwas nicht stimmte. Eine Geruchsmischung aus unangenehm scharfem Kräutersud, abgestandener Luft und einem deplaziert wirkenden Hauch von Parfum zog Tilla entgegen. Sie schnupperte dem fremden Aroma hinterher, das sich durch die ins Haus strömende Frischluft verflüchtigte. Ein Aftershave?

      »Mutsch? Bist du da? Ich bin’s!« Tilla zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe im Flur. »Mutsch?«

      Tillas Stimme wurde immer dünner. Zögerlich ging sie um die Ecke und spähte in die Küche. Ihre Mutter saß unbeweglich im fast dunklen Raum in der Ecke der Küchenbank. Die Hände im Schoß, der Kopf war auf die Brust gesunken. Als Tilla den Lichtschalter umlegte, traf es sie wie ein Schlag.

      Kapitel 5

      Das Volk der Celtae ist hochgewachsen, rotblond und hellhäutig,weil die bräunende Sonne ihren Weg über Alpen und Pyrenäen nicht recht findet.

      – Ammianus Marcellinus XV 12,1 –

      Während die Küche von der ungewohnten Betriebsamkeit umhereilender Polizisten erfüllt war, hockte Tilla im Flur auf dem Boden. Sie hatte sich das Tuch aus dem langen roten Haar gezogen, das ihr Gesicht nun wie ein Vorhang verdeckte. Paris hatte sich in ihrem Schoß verkrochen.

      Die uniformierten Polizisten hatten mehrfach versucht, Tilla ins angrenzende Wohnzimmer zu nötigen, doch sie hatte sich geweigert. Dort waren die Sachen ihrer Mutter, ihr Geruch und ihre Gegenwart. Noch fehlte ihr der Mut, sich dem zu stellen. Sie hatte ihre Mutter im Stich gelassen und fühlte sich zugleich von ihr im Stich gelassen. Ihre Mutter war tot.

      »Frau Leinewig …«

      »Leinwig«, verbesserte Tilla müde.

      »Entschuldigung. Ich bin Andreas Kamenz, Kommissar Kamenz. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

      Tilla sah zu ihm auf. Er war kaum älter als sie. Sie stand mühsam auf und sah ihn an.

      »Hatte Ihre Mutter Probleme?«

      »Probleme?«, fragte Tilla irritiert.

      »Nun, Probleme, die zu ihrem Entschluss geführt haben können.«

      »Entschluss?«, brüllte sie den überraschten Polizisten an. »Was für einen Entschluss bitteschön?« Paris sprang von ihrem Arm.

      Bevor der junge Kommissar ihr antworten konnte, trat ein älterer Mann mit einem Alukoffer von der Küche in den Flur. Er betrachtete Tilla sorgenvoll, nahm seine Brille ab und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts.

      »Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust, Frau Leinwig. Ich habe ihre Mutter und ihre Arbeit immer sehr geschätzt.« Dann wandte er sich an den Polizeibeamten. »Es sieht tatsächlich alles nach einer Vergiftung aus. Die Symptome passen zu Aconitin. Sicherheit kann aber nur eine Obduktion geben, die ich in diesem Fall empfehlen würde.«

      Andreas Kamenz nickte. »Das werde ich veranlassen. Ich danke Ihnen für Ihr schnelles Kommen, Herr Doktor Rosenberg.«

      Der Graugekleidete nickte Tilla noch einmal zu und verließ dann das Haus. Tilla starrte ihm fassungslos nach, während das Wort Obduktion in ihrem Kopf nachhallte.

      »Frau Leinwig, auf dem Küchentisch steht ein Gebräu mit einem wirklich ekligen Geruch. Sagen Sie, was ist Aconitum Napellus?«, fragte Kamenz in ruhigem Ton.

      Tillas Zorn fiel in sich zusammen. Verwirrt antwortete sie: »Das ist Eisenhut. Wieso?«

      »Unsere Leute haben das Kraut im Tee mit


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