Auf dem rechten Weg?. Aiko Kempen
soll sich selbst angezündet haben – an dieser Version werden Polizeiführung und Innenministerium über mehr als 15 Jahre hinweg festhalten. Gegen jede Logik und gegen erdrückende Indizien. Die Ermittlungen sind geprägt von fehlenden Videoaufnahmen, lückenhaften Polizeiprotokollen und Beweisstücken, die aus der Asservatenkammer verschwinden. Nur bruchstückhaft kommen Informationen über den tatsächlichen Ablauf zutage. Meist müssen sie von Freunden und Angehörigen Oury Jallohs, engagierten Anwältinnen und ihren Unterstützern mit enormem Aufwand ans Licht gezerrt werden. »Das finale Brandbild kann nicht ohne Brandbeschleuniger entstanden sein«, stellt ein Brandgutachter fest, der nur nach einer bundesweiten Spendensammlung beauftragt werden konnte. 2019, fast fünfzehn Jahre nach Beginn der Ermittlungen, stellt ein forensisches Gutachten fest, dass Jalloh vor seinem Tod schwer misshandelt wurde. Sein Nasenbein war gebrochen, ebenso das Schädeldach, die Nasenscheidewand und eine Rippe. Die schiere Fülle an ebenso erschreckenden wie beinahe unglaublichen Details des Falls ist so groß, dass die Journalistin Margot Overath in einer vielfach gelobten Podcastreihe knapp fünf Stunden benötigt, um jede Wendung nachzuzeichnen.23
»Weil die Polizei in Dessau und die Justizbehörden von Sachsen-Anhalt nicht nach Tätern gesucht haben, bleibt den Angehörigen die Wahrheit vorenthalten – und der Gesellschaft die Chance, aus Dessauer Verhältnissen Konsequenzen zu ziehen«, lautet das Fazit von Overath, die sich mehr als ein Jahrzehnt mit dem Fall beschäftigt hat. Wegen vorsätzlich begangener Taten im Zusammenhang mit dem Tode Oury Jallohs wird kein einziger Polizist je angeklagt. Ein Dienstgruppenleiter, der den Feueralarm ignoriert hatte, wird wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt. Ein weiterer Beamter, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, er habe bei der Durchsuchung Jallohs ein Feuerzeug übersehen, wird freigesprochen. Was tatsächlich passiert ist, bleibt offen. Vor Gericht schweigen die meisten Polizisten, die an jenem Januarmorgen 2005 im Dienst waren, zu den Vorfällen. Sie können sich an nichts erinnern oder geben Erklärungen ab, die allen Erkenntnissen widersprechen. Vieles wirkt abgesprochen, wie nach einem Drehbuch. Auch der Vorsitzende Richter am Landgericht Dessau bemängelt den offenkundigen Unwillen der Beamten, zur Aufklärung beizutragen. »Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat, und Polizeibeamte, die in einem besonderen Maße dem Rechtsstaat verpflichtet waren, haben eine Aufklärung verunmöglicht«, lautet sein bitteres Resümee. Doch Konsequenzen folgen nicht. 2017 möchte der Staatsanwalt die Ermittlungen neu aufrollen, weil er angesichts über die Jahre neu hinzugekommener Erkenntnisse davon ausgeht, Jalloh sei misshandelt und anschließend angezündet worden, um die Spuren zu verwischen. Denn vor dem Tod des Sierra-Leoners starben bereits zwei weitere Menschen unter ungeklärten Umständen, nachdem sie in der Dessauer Wache in Gewahrsam genommen wurden. Die Legende von der Selbstanzündung Oury Jallohs sei genutzt worden, um keinen weiteren Toten rechtfertigen zu müssen, lautete die Theorie des Staatsanwalts. Das Verfahren wird ihm von höherer Stelle entzogen und eingestellt. Mehr als fünfzehn Jahre nach dem Tod Oury Jallohs ist noch immer nicht aufgeklärt, was in den Räumen des Polizeireviers Dessau passiert ist. Fest steht lediglich: Ein Mensch starb in Obhut derer, die den Rechtsstaat schützen sollen, und so, wie Polizei und Sachsen-Anhalts Innenministerium den Vorfall darstellen, kann es nicht gewesen sein.
Angesichts der schleppenden juristischen Aufarbeitung des Todes von Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle erklärt Amnesty International 2010, Deutschland verletze seine menschenrechtliche Pflicht, Misshandlungsvorwürfe gegen Polizisten »unmittelbar, umfassend, unabhängig und unparteilich unter Einbeziehung des Opfers« zu ermitteln. Dieses Verhalten stehe in einer langen Tradition. | Am 16. Mai 1995 legt Amnesty International seinen ersten Bericht über rassistische Polizeigewalt in Deutschland vor. Innerhalb von drei Jahren sei es demnach zu mehr als 70 Fällen »grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Behandlung von AusländerInnen durch die Polizei« gekommen, darunter mindestens zwei Fälle von Folter. | Im Mai 1996 veröffentlicht Amnesty International einen zweiten Jahresbericht zu fremdenfeindlichen Übergriffen bei der Polizei. Detailliert werden etwa die Schilderungen von zwei türkischen Staatsangehörigen wiedergegeben, denen im Polizeigewahrsam Nasenbein, Jochbogen und Rippen gebrochen wurden. Gegen beide Männer wurde Anzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt erstattet. Die Gewerkschaft der Polizei weist den Jahresbericht als »keineswegs sauber recherchiert« zurück. | Mai 1998: Das Anti-Folter-Komitee der Vereinten Nationen äußert Besorgnis über Misshandlungen im Polizeigewahrsam in Deutschland.
Oury Jalloh ist nicht die einzige Person of Color, die unter zumindest strittigen Umständen im Gewahrsam der deutschen Polizei zu Tode gekommen ist. Am selben Tag, an dem Jalloh verbrannt in einer Polizeizelle gefunden wird, stirbt in einem Krankenhaus in Bremen der Sierra-Leoner Laya-Alama Condé: Polizisten hatten ihm zehn Tage zuvor im Polizeipräsidium Bremen-Vahr unter Zwang Brechmittel verabreichen lassen. Ein solcher Brechmitteleinsatz, um bei mutmaßlichen Dealern verschluckte Drogenpäckchen zu sichern, endete bereits vier Jahre zuvor in Hamburg tödlich. Damals starb der 19-jährige Nigerianer Achidi John. Der Hamburger Flüchtlingsrat unterstellte der Polizei eine selektive Anwendung der Zwangsmaßnahme, die vorwiegend schwarzafrikanische Straßendealer treffe.
Andere People of Color starben bei gewaltsam durchgesetzten Abschiebungen, wie 1994 der Nigerianer Kola Bankole oder fünf Jahre später der Sudanese Aamir Ageeb. Drei Polizisten des Bundesgrenzschutzes setzten dem abgelehnten Asylbewerber an Bord eines Flugzeugs zusätzlich zu zahlreichen Fesseln einen Motorradhelm auf und fixierten seine Arme und Beine am Sitz. Als Ageeb während des Starts zu schreien begann, drückten die Polizisten seinen Oberkörper Richtung Boden. »Lagebedingter Erstickungstod durch massive Einwirkung von Gewalt« lautet die spätere Diagnose der Rechtsmedizin. Die drei Polizisten werden 2004 wegen Körperverletzung mit Todesfolge in einem minder schweren Fall verurteilt. Das Gericht spricht zudem eine Strafminderung aus. Die Polizeibeamten erhalten daher nur eine Bewährungsstrafe von neun Monaten. Eine Verurteilung zur gesetzlich vorgeschriebenen Mindeststrafe hätte zur Folge gehabt, dass die Männer aus dem Polizeidienst ausscheiden müssen. »Es kann der Eindruck entstehen, wer als Amtsträger einen Menschen zu Tode bringt, könnte auch künftig damit rechnen, glimpflich davon zu kommen«, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl das Urteil.24 Wie viele People of Color in den letzten Jahrzehnten bei Polizeieinsätzen oder in staatlichem Gewahrsam starben, ist unklar. Die taz dokumentierte 2020 exemplarisch 24 Fälle,25 einige Initiativen kommen auf weitaus höhere Zahlen.26 Viele der genannten Todesfälle sind bis heute nicht geklärt. Polizei und Gewerkschaften verwahren sich vehement gegen die Aussage, als Schwarzer Mensch sei die Gefahr, durch Polizisten getötet zu werden, auch in Deutschland erhöht. Zu Recht?
2018 kommen Erinnerungen an den Fall Oury Jalloh hoch, als der syrische Kurde Amad Ahmad nach einem Zellenbrand in der Justizvollzugsanstalt Kleve stirbt. Auch hier widersprechen Brandgutachten der offiziellen Version des Geschehens. Zudem wurde Ahmad nach Recherchen des ARD-Magazins Monitor offensichtlich fälschlicherweise inhaftiert, seine Daten im Polizeisystem manipuliert. Trotzdem stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen einen Polizisten wegen der rechtswidrigen Inhaftierung Ahmads ein. »Die durchgeführten Ermittlungen haben nicht zur Feststellung eines strafbaren Verhaltens geführt«, heißt es in einer gemeinsamen Presseerklärung von Staatsanwaltschaft und Polizei.27 Der Fall beschäftigt noch immer [Stand April 2021] den nordrhein-westfälischen Landtag. Die nordrheinwestfälischen Grünen sprechen von einem »handfesten Polizei- und Justizskandal«.28
Rechtsextreme Verbindungen, Datenabfragen, Todesdrohungen
Kaum ein anderes Wort erfährt 2020 so viel berechtigten Spott wie die inhaltsleere Formel »Einzelfälle«. Zu offensichtlich häufen sich die Meldungen über rechte Polizisten. Und zu offensichtlich wehren sich einige Verantwortliche noch immer dagegen, ein Muster zu erkennen. Sprachkritiker küren den Begriff mit dem Negativpreis »Floskel des Jahres«. Initiativen erstellen »Einzelfall-Karten« und »Einzelfall-Kalender« mit bekannt gewordenen Fällen rechtsextremer Polizisten. Oft geht es um aufgedeckte rechtsextreme Chat-Nachrichten. Noch nie ließ sich rechtsextremes Gedankengut in der Polizei so eindeutig belegen wie heute: technisch eindeutig dokumentierte Hakenkreuze und Hitlergrüße, die unter Polizisten verschickt wurden, und Nachrichten, die ihre Nähe zu rechtsextremen Gruppen deutlich machen. Doch anders als bei Vorwürfen rassistischer Polizeigewalt,