Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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hatte lange Klavierunterricht, und auf ausdrückliche Anordnung der Mutter hatte er den Kanon jener antifaschistischen Literatur durchzuarbeiten, die dort im Regal stand. Wie verhasst war ihm das alles! Wie verhasst waren ihm die bleichen, verweichlichten Intellektuellen, die seine Mutter mit nach Hause brachte, die nicht zu ihrem Mann- und Deutschsein stehen wollten.

      Die Mutter war schon vor Jahren gestorben. Seitdem besuchte Friedrich Sehlings seinen bald achtzigjährigen Vater einmal im Monat, immer sonntags. Es war ein Ritual. Sie hatten es auch dann beibehalten, als der Sohn einer der mächtigsten und einflussreichsten Männer der Deutschlandpartei geworden war.

      Zum Abschluss des Tages mit Sonntagsbraten im Biergarten und anschließendem Parkspaziergang saßen Vater und Sohn stumm vor dem Fernseher und schauten sich die Polit-Talkshow des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aus Hamburg an. Zwischen ihnen galt eine unausgesprochene Abmachung: Sie redeten nicht mehr über Politik. Zu unterschiedlich waren ihre Weltanschauungen.

      Friedrich Sehlings’ Vater war in seiner Studienzeit beim Sozialistischen Studentenbund SDS. Er war 1968 an Ort und Stelle, als es darum ging, in Berlin gegen den Schah zu protestieren. Später hat er sich dann zusammen mit seiner Frau bei der Ökopartei engagiert. Früher erzählte der Vater oft von seinen wilden Jahren in der Hoffnung, seinen Sohn von der Überlegenheit der sozialistischen Idee überzeugen zu können. Doch irgendwann hatte der Vater es aufgegeben. Zu oft hatte ihm sein Sohn das Wort »Lebenslüge« entgegengeschleudert.

      Nach seinem Studienabschluss war der Vater nach München zurückgegangen, fing bei einem örtlichen Unternehmen an und diente sich bis zum Vorstandsvorsitzenden hoch. So wuchs Friedrich Sehlings in einem wohlbehüteten Elternhaus auf, versehen mit den Wohlstandsattributen eines bildungsbürgerlichen Lebens der Siebziger- und Achtzigerjahre. Er war der einzige Sohn, ein spät geborenes Wunschkind. Die Beziehung zu seinen Eltern war spannungsgeladen, mit seinem Großvater verstand er sich dagegen gut. Der lebte noch lange im Haus der Familie. Während des Kriegs war er bei der SS, bis zu seinem Tod hatte er niemals ein böses Wort über den Führer verloren. Und seinen alten SS-Dolch hatte er dem Enkel vermacht.

      Nach seinem Abitur wollte Friedrich Sehlings einfach nur weg. Weg aus der geistigen Enge des Elternhauses, weg aus den verhassten grün-alternativen Künstlerkreisen seiner Mutter, weg aus der spießigen bayerischen Metropole. Er wollte Abenteuer erleben. Die ostdeutsche Provinz empfing ihn mit offenen Armen. Er kaufte sich mitten auf dem Land ein halbverfallenes kleines Bahnwärterhäuschen. Dort bekam der Dolch des Großvaters einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch: ein mahnendes Relikt eines anderen, stolzen Deutschlands.

      Ihren jahrelangen Komment, nicht mehr über Politik zu sprechen, hatte der Vater jetzt gebrochen. Vieles war in Deutschland in den letzten Jahren in die Brüche gegangen. Die Flüchtlingskrise hatte das Land verändert. Aber sie war nur der Anlass, nicht die Ursache. Die Zustände in Deutschland hatten die Menschen zornig werden lassen. Friedrich Sehlings hatte den Mentalitätswandel schon früh gespürt. Plötzlich wurde über Themen offen geredet, die jahrzehntelang ein Tabu waren.

      Da war sie wieder: die große Angst. Jenes weite Spektrum von Ängsten, das die Deutschen bereits nach dem Ersten Weltkrieg beherrschte und sie Zuflucht bei einem charismatischen Führer nehmen ließ. Im Deutschland des Kalten Krieges war die große Angst vorübergehend unterdrückt, war ruhiggestellt. Jetzt brach sie sich wieder Bahn, und zwar in ihrer zerstörerischen Form, als Gesellschaft des Zorns. Eine solche Chance würde es so schnell nicht wieder geben. Das erkannte Friedrich Sehlings damals auf Anhieb.

      In der Talkshow war jetzt der Bundesvorsitzende der Ökopartei an der Reihe. Steif saß der Mann in seinem Nadelstreifen-Dreiteiler im schwarzen Edelstahlsessel. Sein Haar war bereits vollständig ergraut, er war Anfang sechzig. In den Umfragen gewann seine Partei von Woche zu Woche in der Wählergunst. Nichts wünschte er sich sehnlicher, als Bundeskanzler zu werden, der erste grüne Regierungschef in Deutschland. Es wäre die Krönung seines Lebenswerkes, rund vierzig Jahre nach der Gründung der Partei, bei der er von Beginn an dabei war.

      Der ergraute Politiker hob mahnend den Zeigefinger und begann zu dozieren: »Es gibt in unserem Land außer ein paar Wirrköpfen wie Ihnen, Herr Dr. Hausding, niemanden, der heute noch die Verbrechen der Wehrmacht und des Dritten Reiches verherrlicht. Sie werden gnadenlos scheitern. Niemand wird Sie wählen. Eigentlich brauchen wir uns mit Ihnen gar nicht zu beschäftigen.«

      In das gleiche Horn wie der altgediente Politiker der Ökopartei stieß der junge Verteidigungsminister. Der kommende Star der Christpartei setzte ebenfalls alles daran, der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Er war Mitte dreißig, wirkte immer jugendlich-lässig, trug nie Krawatte und hatte ein Diplom als Umwelt-Ingenieur. Nach einer kurzen Zeit als Umweltminister hatte ihn die Kanzlerin auf den wichtigen Posten des Verteidigungsministers befördert. Zusammen mit seinem Ehemann lebte er in einer schicken Altbauwohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Noch war seine Stunde nicht gekommen, doch dank seiner Eloquenz und seines guten Aussehens wurde er von Talkshow zu Talkshow gereicht.

      »Rechts von der Christpartei hat es auf lange Sicht noch nie eine erfolgreiche Partei gegeben«, hob er an. »Und eine solche wird es auch in Zukunft nicht geben. Mit Ihrem rechtspopulistischen Gerede vertreten Sie eine extrem kleine Minderheit. Mit Ihnen werden wir spielend fertig.«

      Seit Monaten hatte der Verteidigungsminister für die Beobachtung des völkischen Flügels der Deutschlandpartei durch den Verfassungsschutz gekämpft, auch gegen Widerstand in seiner eigenen Partei, in der viele mehr oder weniger offen Sympathien für die Rechtsaußenpartei hegten.

      Dem Verteidigungsminister widersprach die Journalistin Dr. Florentine Fischer. Sie, Anfang dreißig, war eines der Nachwuchstalente des politischen Wochenmagazins Demokratischer Beobachter, der Hauspostille des linksliberalen Establishments. Die Zeitschrift war genauso alt wie die Bundesrepublik. Die erste Ausgabe erschien am 24. Mai 1949, als das Grundgesetz in Kraft trat, nachdem es einen Tag zuvor erlassen worden war. Der 24. Mai war ein Dienstag. Seitdem erschien das Magazin traditionell immer an diesem Tag. Dienstag war in Deutschland Beobachtertag.

      Der Name Demokratischer Beobachter war bewusst gewählt, sah sich das Magazin doch von Anfang an als ein Wächter der Demokratie in der noch jungen Bundesrepublik. Die Zeitschrift war eine Institution, sie hatte im Lauf der Jahre unzählige Skandale aufgedeckt und das Denken der Deutschen geprägt. Ihren Hauptsitz hatte das Magazin in München-Schwabing, die Berliner Redaktion saß am Hohenzollerndamm in Berlin-Wilmersdorf, dem gutbürgerlichen Zentrum der einstigen Frontstadt des Kalten Krieges. Auch der alte Sehlings hatte seit Studienzeiten ein Abonnement und verschlang jeden Dienstag die neue Ausgabe.

      »Auch wenn das Deutsche Herz und die Jungdeutschen jetzt unter Beobachtung stehen, ist die Gefahr nicht gebannt«, erklärte die junge Journalistin. »Die Deutschen haben Angst. Angesichts der Globalisierung haben sie Furcht vor einem Kontrollverlust. Viele fordern eine politische Kehrtwende, möchten zurück in eine alte Gesellschaftsordnung. Die Deutschlandpartei ist da nur ein Symptom für das Erstarken reaktionärer und autoritärer Tendenzen in der Gesellschaft.« Sie richtete ihren strengen Blick auf Dr. Hausding, der leicht das Gesicht verzog. »Viele Deutsche, das haben Sie heute wieder einmal eindrucksvoll gezeigt, leben längst in einer Parallelwelt und haben den Boden des Grundkonsenses bereits verlassen. Wir müssen als Gesellschaft aufpassen, dass uns da nicht etwas komplett entgleitet.«

      Die Augen von Vater Sehlings glänzten. »So stelle ich mir eine Journalistin vor«, rief er freudig. »Eine klare Analyse und ein klarer Standpunkt. Die schaut nicht auf die Quote oder auf ihre persönliche Karriere. Anders hätte ich es vom Demokratischen Beobachter auch nicht erwartet.« Die Welt von Vater Sehlings schien wieder in Ordnung.

      Dr. Hausding verließ das Fernsehstudio über den Seiteneingang. Es nieselte, und er zog den Kragen seines Mantels hoch. Vor dem Gebäude wartete bereits ein Auto auf ihn. Am Steuer saß sein unverzichtbarer Mitarbeiter Herbert. Herbert gehörte zu jenen Menschen, die andere im Nu für sich einnehmen konnten. Mit vollem Namen hieß er Herbert Hahn, doch alle in der Partei nannten den gemütlichen, dicklichen, immer einen ärmellosen, brauen Pullover tragenden, stets zu einem Schwätzchen aufgelegten


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