Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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des französischen Rechtsaktivisten Dominique Venner aus den sechziger Jahren, ebenso wie die Gefängnishefte des italienischen Marxisten Antonio Gramsci aus den dreißiger Jahren, in denen dieser seine Theorie der kulturellen Hegemonie darlegte.

      Vor allem aber stand da ein Werk, das ihn immer wieder begeistert hatte. Das Buch war schon ziemlich abgegriffen, so oft hatte Sehlings es in die Hand genommen: Joachim C. Fests dickleibige Hitler-Biografie. Seine Eltern hatten sie ihm zu seinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Sie dachten wohl, sie würden mit dem Buch des konservativen Historikers und Journalisten bei ihrem Sohn das Bild des Führers, das sein geliebter Großvater ihm malte, zurechtrücken können.

      Doch Sehlings hatte das Werk mit ganz anderen Augen gelesen: als Blaupause einer erneuten Machtergreifung. Er nahm den mehr als tausend Seiten dicken Wälzer aufs Neue zur Hand und schlug das Kapitel »Die große Angst« auf, sein Lieblingskapitel. Es beschrieb das Spektrum jener Angstvorstellungen, die die Menschen in der Zeit der Weimarer Republik heimsuchten und sie in das Lager der extremen Rechten trieben. Das Kapitel zeigte all das Krisenhafte auf, das mentale Erkranken am Zivilisatorischen, die gesellschaftlichen Erregungszustände im Deutschland der Vorkriegszeit. Es zeigte, wie und warum die Deutschen in Adolf Hitler ihren Retter sahen.

      Eine Zeit solcher gesellschaftlichen Erregungszustände erlebte er nun in Deutschland wieder. Die große Angst war wieder da. Allerorten spürte er bei den Menschen die Angst vor dem Untergang des Vertrauten, die Angst vor Kontrollverlust, die Angst vor Anarchie. Er spürte, dass die Menschen sich wieder nach einem Führer sehnten.

      Sehlings fing an zu lesen, er kannte die Sätze fast schon auswendig: »Mit dem Hinzutreten Hitlers waren Energien vereint, die, unter krisenhaften Bedingungen, die Aussicht großer politischer Wirksamkeit besaßen. Denn die faschistischen Bewegungen haben sich in ihrer sozialen Substanz durchweg auf drei Elemente gestützt: das kleinbürgerliche mit seinen moralischen, wirtschaftlichen und gegenrevolutionären Indignationen, das militärischrationalistische sowie das charismatische des einzigartigen Führers. Er war die entschlossene Stimme der Ordnung, die dem Durcheinander, dem chaotischen Element, gebot, er hatte weiter geblickt und tiefer gedacht, er kannte die Verzweiflungen, aber auch die Rettungsmittel.«

      Früh entwickelte Sehlings für sich seine Mission, die Ergreifung der Macht in Deutschland. Doch im Moment stand es schlecht darum: Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz würde der Partei Mitglieder und Wähler kosten. Dr. Martin Müller plante die Parteispaltung. Der Oberst sollte bald verfängliches Material in Händen halten, das ihm das Genick brechen konnte. Und der schöne Lehmann war nur vorübergehend ruhiggestellt, plante womöglich schon die Wiederauflage des Sturms auf das Winterpalais, eine Revolution, einen Bürgerkrieg.

      Jetzt war Sehlings zu müde, weiter darüber nachzudenken, ob die Arbeit der letzten fünf Jahre umsonst war. Er hatte nichts dagegen, in seinem Lehnsessel mit dem Hitlerbuch auf dem Schoß einzuschlafen. Sein matter Blick glitt zu seinem Schreibtisch. Dort lag er: Der SS-Dolch seines Großvaters, das Relikt eines vergangenen Deutschlands. Wie es jetzt aussah, würde dieses Deutschland wohl nie wieder auferstehen. Dann übermannte Sehlings der Schlaf. Im Traum glitt er zurück in die Anfangstage der Deutschlandpartei. Er sah sich selbst, wie er Dr. Adalbert Hausding das erste Mal gegenübertrat und ihm die Hand schüttelte …

       KAPITEL 2

      Die Deutschlandpartei war erst wenige Wochen alt, doch hatte sie bereits viele Anhänger. Immer mehr Deutsche sehnten sich nach einer Alternative zu den bestehenden Parteien. Und die Deutschlandpartei versprach ihnen, diese Alternative zu sein. Der Mann mit der Gartenzwergkrawatte war ihr Mitbegründer und einer der beiden Vorsitzenden. Die Vorsitzenden tourten durchs Land, sprachen in Festsälen von Landgasthäusern, um Mitglieder für die neue Partei zu gewinnen. Und die Menschen strömten ihnen zu, besonders dem greisen, vertrauenerweckenden Dr. Adalbert Hausding.

      Friedrich Sehlings hatte sich aufgemacht, eine dieser Veranstaltungen zu besuchen. Vom Rand aus hatte er die Rede Hausdings aufmerksam verfolgt. Jetzt näherte er sich dem Pulk von Menschen, die Hausding umringten und auf ihn einredeten. Frauen und Männer – mehr Männer, vor allem alte Männer, aber doch auch ein paar junge. Das Gesicht des vortragenden alten Mannes wirkte eingefallen, geistesabwesend, als ginge ihn das alles nichts an, was da jetzt um ihn herum geschah. Er ließ es über sich ergehen.

      Einer der Zuhörer klopfte ihm fest auf die Schulter, gluckste anerkennend und konnte sich gar nicht mehr einkriegen vor Lob. Auch das ließ der Alte stoisch über sich ergehen. Ein Mann aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. So stand er da mit seiner Gartenzwergkrawatte, seiner hellbraunen Bundfaltenhose und seinem anthrazitfarbenen Trachtenjanker.

      Sehlings blieb einige Schritte außerhalb der Menge stehen, als wolle er nicht dazugehören. Er wartete geduldig, bis sich der Pulk allmählich auflöste. Zwei junge Männer wollten noch ein Autogramm. Der Alte wirkte unsicher, so als ob er zum ersten Mal ein Autogramm gab, und kniff die Augen zusammen. »Wo soll ich unterschreiben?« Wortlos reichte ihm der junge Mann den Flyer, der auf die Veranstaltung hinwies und den der Wirt des Gasthauses auf jeden Stuhl gelegt hatte. Zusammen mit kaum lesbaren, handkopierten Mitgliedsanträgen.

      Die beiden Männer bedankten sich und gingen. Hausding blieb gedankenversunken zurück, reglos, den Blick auf den Boden gesenkt. Dann sah er sich um, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Er bemerkte Sehlings, der immer noch wartete, einige Schritte entfernt. Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen sich an. Er sagte nichts, aber man sah ihm an, was er dachte: »Bitte nicht noch so einer!«

      Sehlings überlegte kurz, was er sagen sollte. Ihm fiel nichts Passendes ein. »Verzeihung, ich wollte nicht dazugehören«, rutschte es ihm heraus. Dann fing er sich, ging zu dem alten Mann und reichte ihm die Hand. Dessen unerwartet laffer Händedruck stand in einem merkwürdigen Kontrast zu den scharfen Worten eben auf dem Podium.

      »Mein Name ist Friedrich Sehlings. Ich möchte bei Ihnen mitmachen. Sie unterstützen.« Er unterließ jedes Lob und jede Schmeichelei. Das hatte der Mann in der letzten Viertelstunde genug gehört. Lieber kam er sofort zur Sache. »Ich habe meinen Mitgliedsantrag schon ausgefüllt.«

      Hausding sah ihn mit leerem Gesichtsausdruck an. »Wir können jede helfende Hand gebrauchen.« Es klang so, als hätte der Mann das in den vergangenen Wochen schon Hunderte Male gesagt.

      »Nein, ich meine … äh, ich meine, ich will helfen … mitorganisieren«, stammelte Sehlings.

      Auch das schien Hausding nicht zu überzeugen.

      Jetzt wurde Sehlings direkter. »Sie haben wirklich eine tolle Rede gehalten. Aber das Drumherum stimmt nicht. Warum gibt es hier keinen Tisch mit einer Box, in die man seine ausgefüllten Mitgliedsanträge stecken kann? Warum gibt es hier nirgendwo ein Roll-up von der Partei?«

      »Roll… was?« Hausding runzelte die Stirn und sah Sehlings an, als habe er von solchen Dingen noch nie etwas gehört. »Wir sind erst am Anfang, haben noch kein Personal.«

      »Ich möchte Sie bei solchen Dingen unterstützen. Ich bin gut in sowas.«

      Hausdings Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Er schien etwas überfordert mit dem Angebot, das ihm da gerade unterbreitet wurde.

      »Wann und wo halten Sie denn Ihre nächste Rede?«, fragte Sehlings in betont freundlichem Ton. »Ich könnte doch das Drumherum organisieren, wenn Sie nichts dagegen haben …«

      Wortlos sah sich Hausding um, er schien irgendetwas zu suchen. Sein Blick fiel in eine der Ecken des Saals, dort stand ein abgewetzter, brauner Lederkoffer. Bedächtig ging Hausding dorthin, ergriff ihn und kehrte zu Sehlings zurück. Umständlich öffnete er den Koffer und kramte ein braunes, in Leder gebundenes Notizbuch hervor. Es war genauso abgewetzt wie der Koffer und wohl auch genauso alt. Hausding schlug es auf. Er blätterte. »Am Samstag, in einem Gasthof irgendwo an der niederländischen Grenze, 19 Uhr.«

      Sehlings zog sein iPhone aus der Jackett-Tasche und wischte auf dem Display herum. »Ja, passt, wunderbar«, sagte er. »Wer fährt Sie denn?«

      Wieder blickte Hausding Sehlings etwas begriffsstutzig an. Schließlich


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