Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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hundert Kilometer. Ich fahre Sie. Geben Sie mir mal Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie morgen an. Dann können wir alles Weitere besprechen. Jetzt sind Sie sicherlich müde.«

      Wieder öffnete Hausdings umständlich seinen Koffer, wühlte darin herum und holte schließlich einen Pack Visitenkarten, zusammengehalten mit einem roten Gummiband, hervor. Er zog langsam eine heraus und überreichte sie Sehlings.

      Der schaute sie sich an und sagte: »Oh, sind das Ihre privaten? Das müssen wir auch ändern. Es gibt viel zu tun. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Dann gab er Hausding erneut die Hand und spürte wieder den merkwürdig laffen Händedruck des alten Mannes.

      Einige Wochen später stand Friedrich Sehlings erneut an der holzvertäfelten Wand eines großen Festsaals. Aus allen politischen Lagern strömten in jenen Tagen der Deutschlandpartei neue Anhänger zu. An erster Stelle ehemalige Mitglieder der Christpartei, denen ihre alte Partei zu links und zu urban geworden war. An zweiter Stelle Anhänger der Sozialpartei, die darauf hofften, dass sich die neue Partei für die kleinen Leute einsetzte. Die alte Sozialpartei war in ihren Augen längst eine Partei der Akademiker, der Journalisten und gut versorgten Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Zahlreich waren, vor allem im Osten des Landes, auch ehemalige Mitglieder der Linkspartei. Sie sehnten sich nach einer neuen Protestpartei. Denn die alten Genossen waren im neuen System versackt und genossen die Pfründe des bundesrepublikanischen Politikbetriebes.

      Vor allem aber profitierte die Deutschlandpartei von der Flüchtlingskrise. Sie war der Startschuss für eine Politisierung der Gesellschaft, das Schlüsselerlebnis für viele, sich politisch zu engagieren. Menschen, die vorher nicht politisch waren und erst recht nicht in einer Partei organisiert, wandten sich der Deutschlandpartei zu. Ihre Motive waren diffus: Angst vor Fremden, Hass auf das Establishment, Furcht vor Statusverlust, das Wiederaufbrechen einer längst verschwunden geglaubten Kluft zwischen Ossis und Wessis, die Sehnsucht nach der alten westdeutschen Wohlstandsgesellschaft der Achtzigerjahre, eine latente Unzufriedenheit mit der Demokratie. Was ihnen allen gemeinsam war: Sie fühlten sich von den alten Parteien nicht mehr vertreten. Sie alle vereinte der Protest gegen die gegenwärtigen Zustände in Deutschland.

      Von der Rückseite des Saals aus hatte Sehlings alles im Blick. Ihm entging nichts. Nicht der Redner, nicht das Publikum und auch nicht seine drei Jungs. Der eine betreute den Informationsstand, der andere schob Wachdienst an der Tür, der dritte filmte mit einer Videokamera Hausdings Rede. Vorne zog Dr. Adalbert Hausding seine Show ab. Sehlings hatte die Rede jetzt bestimmt schon zwanzigmal gehört, er kannte inzwischen jedes Wort, jede Pointe, jeden rhetorischen Seitenhieb auf die Ökopartei und die Sozialpartei und vor allem auf die nach links abgedriftete Christpartei.

      Die Säle der Landgasthäuser glichen einander: hölzerne Kneipenstühle, kitschige, das Landleben verherrlichende Ölschinken an den Wänden, umrahmt von alten Pferdehalftern oder anderen Devotionalien einer vergangenen altdeutsch-bäuerlichen Welt. Im Schankraum gab es meist große Schnitzel mit viel Pommes zu moderaten Preisen. Und noch eines hatten die Gasthöfe gemeinsam: Sie lagen alle in der Provinz, fernab der großen Metropolen. Hier wohnten, hier arbeiteten und hier verzweifelten die Menschen, die der Deutschlandpartei zuströmten.

      Dr. Adalbert Hausding wirkte fremd unter diesen Menschen. Er war ein intellektueller Metropolenbewohner, verkehrte einst unter den Geistesgrößen der alten Bundesrepublik und hatte mit dem Ticket der Christpartei als promovierter Jurist eine glänzende Verwaltungskarriere gemacht. Jetzt war er alt, schon viele Jahre in Pension. Doch auch an ihm nagten die Zustände in Deutschland und in seiner einst so geliebten Christpartei. Sie hatte ihm einmal so viel bedeutet. Noch heute erzählte er stolz davon, wie er einmal vom alten Bundeskanzler der Christpartei in dessen Privathaus zum Saumagen-Essen eingeladen worden war.

      Wie anders war nun die neue Christpartei. Mit einigen anderen Intellektuellen hatte Hausding eine Initiative zur Rettung seiner Partei gegründet. Sie hatten um ein Gespräch auf höchster Ebene gebeten. Was er dann erlebte, schilderte er in seiner Standardrede als den Schlüsselmoment zur Gründung der Deutschlandpartei.

      »Wir wurden von einem jungen, zweitrangigen Referenten empfangen. Er führte uns wie Touristen durch die Parteizentrale. Am Abend lud er uns in ein vegetarisches Restaurant im Prenzlauer Berg ein. Da saßen wir dann unter den ganzen grünen, verwöhnten Latte-macchiato-Müttern. Der junge Referent erzählte uns etwas von der urbanen und hippen Christpartei, mit der man heute Wahlen gewinnt. Uns Alten und Erfahrenen wollte dieser Grünschnabel erst gar nicht zuhören.«

      Sehlings wusste, was jetzt kam. Hausdings Stimme wurde lauter und aggressiv: »Solche Grünschnäbel sind es, die aus unserer schönen konservativen Saumagen-Christpartei eine grüne Vegetarier-Latte-macchiato-Christpartei gemacht haben. Diese Christpartei will aus unserem geliebten Deutschland ein grünes Multikulti-Projekt machen. Wir von der Deutschlandpartei kämpfen gegen dieses grüne Multikulti-Deutschland.«

      Im Saal donnerte Applaus auf. Hausding setzte jetzt zum Endspurt seiner Rede an. Sehlings hielt einen Arm hoch und beschrieb mit ihm über seinem Kopf einen großen Kreis. Das war beim Militär das Zeichen für den Befehl zum Sammeln. Sofort setzten sich seine drei Jungs in Bewegung und kamen zu ihm. Dann folgte die Befehlsausgabe: »Nach der Rede des Führers drückt ihr jedem, der den Saal verlässt, einen Mitgliedsantrag in die Hand. Dann baut ihr ab. Ich gehe in der Zeit mit dem Führer im Schankraum noch etwas essen. Beeilt euch aber. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.« Die drei nickten gehorsam.

      »Der Führer ist wie ein Spielzeugtrommler«, fügte er hinzu. »Ihr wisst schon: Diese Blechtrommler, die wie wild trommeln, solange sie aufgezogen sind, und dann in sich zusammenfallen. Nach seiner Rede ist er anderer Mensch. Ich muss ihn dann abschirmen von den ganzen Verrückten, die ihn bedrängen und ihm wer weiß was erzählen. Ich muss immer wissen, wer was von ihm will, mit wem der Führer redet. Verstanden?« Die drei nickten wieder und machten sich davon.

      Im Schankraum aßen Dr. Adalbert Hausding und Friedrich Sehlings nach dem Auftritt Schnitzel mit Pommes.

      »Was ich Sie schon immer einmal fragen wollte …«, erhob Hausding das Wort, während er noch an einem besonders zähen Rest Schnitzel kaute. »Warum tragen die jungen Männer, die uns begleiten, eigentlich immer rote Krawatten und rote Hosenträger?«

      »Das ist bestimmt so ein neuer Jugendtrend, ein Modetick. Statt Filzhaaren und zerschlissenen Jeans drücken die jungen Leute von heute ihren Protest und ihre Gesinnung eben mit roten Krawatten und mit Hosenträgern aus.«

      »Ach so«, sagte Hausding. Die Erklärung schien ihm zu genügen.

      Friedrich Sehlings kannte viele Leute, die der neuen Partei wohlgesinnt waren. Für die dritte Veranstaltung, zu der er Hausding begleitete, hatte er bereits einen Kleinbus organisiert. Die drei jungen Männer in Hosenträgeruniform waren immer dabei. Sie fuhren die beiden Männer und kümmerten sich um alles Organisatorische. Hausding saß immer hinter dem Fahrer, Sehlings vorne auf dem Beifahrersitz.

      Eines Abends, nachdem das Begleitkommando Hausding bei seiner Vorstadtvilla abgesetzt hatte, bekam Sehlings einen Anruf. »Hallo, hier ist Ronny Matschinski, erinnerst du dich noch?«, tönte es aus dem Smartphone.

      »Na klar, das ist aber eine Überraschung«, sagte Sehlings. »Ist ja eine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.«

      Ronny Matschinski kam direkt zur Sache: »Ich habe gehört, dass du bei der Deutschlandpartei bist. Ich würde gerne bei euch mitmachen. Ich finde den Dr. Adalbert Hausding wirklich ganz toll. Das ist eine richtige Führerpersönlichkeit, wie wir sie uns immer gewünscht haben.«

      »Das habe ich mir fast schon gedacht, dass du dich irgendwann meldest«, erwiderte Sehlings. »Schick mir deinen Mitgliedsantrag, ich kümmere mich um die Mitgliederverwaltung hier. Unser zweiter Bundesvorsitzender ist allerdings ein Kontrollfreak. Der kann Männer wie uns Kameraden nicht ab. Der kontrolliert alle Bewerber, ruft sie persönlich an und stellt Fragen. Er bekommt von mir zwar nur bereinigte Datensätze, aber der ist ziemlich misstrauisch. Wenn er bei dir anruft, dann erzähl ihm nicht, dass wir uns kennen, und auch nichts von den alten Zeiten.«

      »Mensch, das waren echt wilde Zeiten«, rief Ronny Matschinski euphorisch. »Aber ich habe schon verstanden. Der


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