Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich


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viele Wünsche zum Mitreden gibt. Wenn alle mitreden, ganz gleich wie ahnungslos sie sein mögen, und dann auch noch von ebenso ahnungslosen Populisten angetrieben werden, dann wird die Kurzsichtigkeit im Wissen und die Dummheit im Handeln zum Beschleunigungsfaktor in jeder Krise.

      Aber andererseits ist die Naivität, mit der der gegenwärtige Kapitalismus in seinen meist unsichtbaren autoritären und institutionellen Formen hingenommen wird, auch eine Vorbedingung dafür, dass Nachhaltigkeit wenig gelingt, denn je weniger die Menschen das autoritäre System durchschauen, desto weniger werden sie auch Handlungschancen erkennen, wie sich die Dinge ändern lassen.

      In den politischen Einstellungen vieler Menschen gibt es heute viele Widersprüche, die von einem Wunsch nach mehr Freiheit, Individualisierung und Konsum auf der einen Seite, aber zugleich von einem Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung der persönlichen Lebenslage auf der anderen Seite getragen sind. Wie kann bei einer gleichzeitigen Abnahme der Bereitwilligkeit, Verpflichtungen zu übernehmen, die Freiheitsansprüche einschränken, Nachhaltigkeit überhaupt gelingen? Es kommt für mich darauf an, diese und weitere Fragen zu einer Politik der Nachhaltigkeit vor den größeren Problemlagen eines unsichtbar gewordenen autoritären Kapitalismus, vor einer stets wirkenden institutionalisierten Autorität zu erörtern. Der entgrenzte Mensch lebt dabei in den Entgrenzungen des Kapitalismus, aber die Grundpfeiler des kapitalistischen Systems mit seiner ständigen Suche nach Gewinnmaximierung kollidieren mit den Grenzen der Erde.

      Teil III fokussiert auf zwei Grenzen, die sich im menschlichen Handeln als Konsequenz aus der vorliegenden Analyse ergeben:

      Erstens gibt es sehr klare Grenzen des Wachstums. Allen müsste klar sein, dass die Menschheit nicht immer einfach so weitermachen kann wie bisher. Handlungen, die nicht nachhaltig oder gar für die Nachhaltigkeit schädlich sind, müssten bestraft werden. Insbesondere eine Bepreisung solcher Handlungen erscheint notwendig. Entweder ein Abbau des Wachstums (degrowth) oder eine ökologische Transformation bei Produktion und Konsumtion, dies wären notwendige und sinnvolle Wege.

      Zweitens aber werden sowohl Begrenzungen des Wachstums als auch Transformationen die Demokratie an ihre Grenzen bringen. Eine Demokratie mit Mehrheits- und Verhältniswahlrechten ist solange gut, wie es darum geht, einen ständigen Fortschritt zum Wohl möglichst vieler, wenn auch nicht gleichermaßen aller, zu verwalten; sie wird sofort problematisch, wenn es um Abbau bestehenden Überflusses, um Begrenzung und Verzicht geht. Bisher ist die Wohlstandszunahme in den Demokratien der größte Garant dafür, dass diese Systeme nicht durch einen Aufstand der Bevölkerung überwunden werden. In allen Nationalstaaten wird der Wechsel in die Nachhaltigkeit für große Verstörungen sorgen, weil im Verzicht die bisher ungelösten sozialen Ungerechtigkeiten deutlicher hervortreten werden. Der ständig auf solche Verstörungen lauernde Populismus kann schnell allen Nachhaltigkeitsbemühungen den nationalen Todesstoß versetzen. Begleitet wird diese Verstörung und Unfähigkeit, sich der Nachhaltigkeit zu stellen, vor allem auch durch den Kampf der Nationen gegeneinander, den viele schon für überwunden gehalten haben. Auch wenn die Nachhaltigkeit in internationalen Gremien der UN anerkannt ist und verfolgt wird, so zeigt die Praxis und Wirkung dieser Institutionen das ganze Ausmaß des bisherigen Scheiterns. Die internationale Politik, wie sie sich national rückspiegelt, ist ein entscheidender Risikofaktor für die Nachhaltigkeit, weil im Vergleich untereinander jeder selbst noch im Verzicht gewinnen will. Aber in der Nachhaltigkeit geht es nicht mehr ums Gewinnen, sondern um eine gemeinsame Lösung, die für alle eine Abkehr von vertrauten Wegen bedeutet.

      Als ein Ausweg zumindest im Nationalen erscheint die Bürokratie, die über die Interessensgegensätze hinweg einen scheinbar neutralen Weg weisen könnte, um die Nachhaltigkeit in Gesetzen und Verordnungen durchzusetzen, sie dann aber auch hinreichend im Erfolg zu kontrollieren. In der Politik wird heute sehr umfassend auf die Bürokratie gesetzt, die stets als ausführendes Organ der politisch bestimmten Wege gilt. In einem Exkurs in die Bürokratieforschung will ich verdeutlichen, dass Bürokratien zwar als institutionelle Autorität auch in der Nachhaltigkeit notwendig sind, aber ihrerseits die Lösungen dann verschlechtern, wenn sie so wie bisher arbeiten. Überregulierungen und Bürokratien sind Abkömmlinge der Moderne, die das Leben sicherer und gerechter machen sollten, aber letztlich dabei immer vorherrschende Praktiken und bestehende Ungerechtigkeiten abbilden. Sie folgen einem langsamen Gang, weil bei unterschiedlichen Auffassungen alle Parteien gehört und mehr oder minder geeignete Kompromisse gefunden werden müssen. Bis zum Katastrophenfall bieten solche Regulierungen und Bürokratien eine Garantie dafür, dass wir handlungsunfähig bleiben. Sie sind nicht für Krisen, sondern für Stabilisierungen auf einem erreichten Stand gemacht. Es soll deutlich werden, dass sich Nachhaltigkeit nicht wesentlich bürokratisch befördern lässt, sondern einen umfassenderen Ansatz benötigt.

      In Teil IV wende ich mich möglichen Wegen aus den Nachhaltigkeitsfallen zu. Als ich mit diesem Forschungsprojekt begonnen habe, war ich voller Hoffnungen, sehr viele Wege zu finden und als realistisch nachweisen zu können. Im Laufe meiner Auseinandersetzungen hat sich aber herausgestellt, dass es ohne eine grundlegende Änderung der Ökonomie und Politik kaum Chancen für eine wirkliche Veränderung gibt.

      Ich nehme hier die Idee noch einmal auf, dass die möglichen Lösungsansätze vielen zwar noch als unendlich groß erscheinen, diese aber – so vielfältig sie auch im individuellen Fall sein mögen – konzentriert und schnell im großen Maßstab werden erfolgen müssen, um nicht zu spät zu kommen. Die biologische Evolution hat es dem Menschen ermöglicht, eine kulturelle Geschichte zu errichten, die das gesamt Bild der Erde im Anthropozän prägt. An der heutigen Position angekommen, stellt sich die Frage, inwieweit die menschliche Vernunft, die sich in so vielen Bereichen des Fortschritts bewährt hat, ausreichen wird, die nahenden Katastrophen zu erkennen und Wege aus diesen zu suchen. Die aktuelle Forschung zur Wirkung von Risiken und Katastrophen auf das menschliche Verhalten mag im Einzelfall Hoffnung geben, dass sich Menschen neuen Herausforderungen schnell anpassen können, aber wenn diese dann mit deren Emotionen, Wünschen und Lebensstilen zusammentreffen, schwinden solche Hoffnungen schnell. Die Leserinnen und Leser mögen für sich beurteilen, inwieweit die zusammengetragenen Forschungen sie eher beruhigen oder beunruhigen.

      Im ersten Band habe ich zum Schluss klare Forderungen an das individuelle Verhalten gestellt. Jede und jeder muss bei sich selbst anfangen, denn Nachhaltigkeit kann insbesondere in demokratischen Ländern nicht einfach verordnet und instruiert werden, sondern bedarf der individuellen Überzeugung und motivierten Handlung. Alle müssen sich Gedanken darüber machen, was gut funktioniert und was weniger gut gelingen wird. In diesem Sinne wird Nachhaltigkeit zu einer ersten Bildungspflicht, denn nur diejenigen, die wissen, was sie tun, werden auch bereit sein, ihr Tun zu überdenken und zu verändern.

      Für die Ökonomie und Politik ist ebenso klar: Die große ökologische und nachhaltige Transformation wird nicht ohne Verzicht zu machen sein. Sie kann in begrenztem Maße durch Innovationen und neue Lebenskonzepte kompensiert werden, sie kann sogar die Menschheit sozial gerechter machen und sich vielfältig in neue Richtungen entwickeln lassen, aber sie bedeutet eine wesentliche Umstellung in sehr vielen Lebensbereichen. Eckpunkte hierfür will ich mit diesem Band bewusst machen.

      Abschließend werden gesellschaftliche Regeln zur Nachhaltigkeit aufgestellt, auf die sich nicht nur einzelne Menschen, nicht nur einzelne Nationen, sondern die gesamte Menschheit im Sinne eines Nachhaltigkeitsvertrages einlassen müssten, um der gegenwärtigen Krise etwas entgegenzusetzen. Zusammen mit den individuellen Regeln aus dem ersten Band fassen sie in kurzer Form das zusammen, was sich aus der Vielzahl wissenschaftlicher Forschungen als essenziell zusammenfassen lässt: ein Manifest der Nachhaltigkeit.

      Mein Dank gilt den vielen Forscherinnen und Forschern, die mir ihre Veröffentlichungen frei zugänglich gemacht haben. Die umfangreichen Referenzen finden sich im Literaturverzeichnis für beide Bände, das mit Links zu zugänglichen Quellen online unter www.westendverlag.de/nachhaltigkeit verfügbar ist. Es sind zu viele, die mich in meinem Vorhaben unterstützt haben, um sie hier einzeln zu nennen. Hervorheben will ich die Lektorin Lea Mara Eßer vom Westend Verlag, die durch ihre professionelle Überarbeitung zur Verbesserung


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