Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich
I.1Die Vergangenheit: Ökonomische Nachhaltigkeitsfallen
Mit der Moderne und ihrer Entwicklung ist keine konkrete Nation in ihrem Wandel, kein besonderes historisches Ereignis mit ganz eigenen und unverwechselbaren Kontexten gemeint (vgl. Beck 1986, 2002; Giddens 1990), sondern ein Übergang, der übergreifende Perspektiven und Mechanismen für alle einschließt (Bauman 2000 a). Es gibt hierbei einen globalen Wandel in den Grundlagen aller Gesellschaften. Ich will versuchen, die Mechanismen dieses Wandels und die Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit näher zu bestimmen und ihre Bedeutung für unterschiedliche Lebensfelder zu erörtern. Dabei werden ökonomische Veränderungen, die vor dem Hintergrund der immer globaler agierenden kapitalistischen Entwicklung stehen, als wesentlich angesehen, weshalb es auch sinnvoll ist, die Moderne aus ihrer ursprünglich eurozentrischen Orientierung heute auf eine kapitalistische und vom Neoliberalismus geprägte flüssige Weltmoderne zu beziehen.
Auch wenn es in Europa, Amerika, Lateinamerika, Afrika, Asien, der arabischen Welt oder anderen Regionen jeweils eigene Traditionen und historische Entwicklungen gibt, so wird in je spezifischer Weise der neoliberal operierende Kapitalismus auch in diesen Gebieten immer relevanter, indem er als Denk- und Handlungsweise in die bestehenden Traditionen assimiliert und in ihnen verankert wird. Dieser Teil der Globalisierung ist durchaus widersprüchlich und nicht einlinig zu verstehen. Und die Entwicklung ist auch nicht als ein Fortschrittsmodell anzusehen, das der Welt zeigt, wie Vernunft und Fortschritt sich durchsetzen – das ist das traditionelle Modell der eurozentrischen Politik3 –, sondern es ist ein stets ambivalentes Modell gesellschaftlicher Konstruktionen, das vor dem Hintergrund vielfältiger Veränderungen ambivalente Wirkungen entfaltet.4
I.1.1Produktivität und Gewinnmaximierung
In sechs Schritten soll die Ökonomie der Moderne5 hier einführend, ohne in die Details der historischen Entwicklung zu gehen, beschrieben und auf Fragen der Nachhaltigkeit bezogen werden:
Zunächst wird mit Fernand Braudel diskutiert, auf welcher Zeitebene die ökonomische Geschichte im Verhältnis zur Naturgeschichte wahrgenommen wird;
Dann wird das Zeitalter der Industrialisierung als »schwerer Kapitalismus« mit dem Ziel der Wohlstandsvermehrung verdeutlicht;
Anschließend wird die große Transformation kurz beschrieben, die Karl Polanyi als für den Kapitalismus typisches Spannungsverhältnis von freien Märkten und staatlichen Interventionen charakterisiert;
Insgesamt sind die Erhöhung der Intensität und Produktivität der Arbeit für die kapitalistische Ökonomie von Beginn an zwei treibende Kräfte, die unterschiedliche Wirkungen erzeugen;
Dabei ist die kapitalistische Logik der Gewinnmaximierung darauf ausgelegt, Kosten – wie etwa für mehr Nachhaltigkeit – zu vermeiden;
Abschließend werden drei typische ökonomische Denkweisen hervorgehoben, die Nachhaltigkeit verhindern.
I.1.1.1Fernand Braudel und die Zeitebenen zwischen Natur- und Ereignisgeschichte
Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert, so analysiert Fernand Braudel (1985/86) in seinen drei Bänden zur Sozialgeschichte, verändern sich der Alltag, der Handel und es gibt einen Aufbruch zur Weltwirtschaft (Braudel 1992). Diese klassische Analyse unterscheidet drei Zeitebenen, die insbesondere auch für die Nachhaltigkeit interessante Perspektiven aufwerfen:
Eine unterste und in den Veränderungen weniger wahrnehmbare Zeitebene gibt eine quasi immobile Geschichte an, die er auch Geogeschichte nennt. In ihr sind Naturerscheinungen eingeschlossen, die sich als Wiederkehr der ewig gleichen Naturabläufe, als feststehende Gebirge und Täler, Küsten, Land- und Seewege, als Ozeane, langsam und stetig fließende Ströme, Klima oder andere Dinge mit langen Zeitspannen der Veränderung ausdrücken. Heute sehen wir mit dem Anthropozän, wie der Mensch durch sein Eingreifen in die Natur diese unterste und fundamentale Zeitebene berührt hat, wobei Moore (2016) oder Altvater (2016) davon sprechen, dass das »Capitalocene« die Natur in eine Anlageform verwandelt hat. »Die Natur wurde auf etwas reduziert, das wie jedes andere Gut bewertet und gehandelt und verbraucht werden kann: industrielles Kapital, Humankapital, Wissenskapital, finanzielle Ansprüche und so weiter.« (Ebd., 145)6 Das »Anthropocene« als »Capitalocene« soll beschreiben, von welcher Seite der Angriffspunkt auf die natürlichen Weltverhältnisse kommt: Es ist die Kapitalisierung auch der Natur, die Menschen dazu bringt, die gegenwärtige ökologische Krise immer weiter zu verschärfen.
Braudels Konstruktion dieser untersten Zeitebene kann schnell als etwas verstanden werden, was der Natur in ihrer »Eigenzeit« eine vom Menschen unabhängige Bedeutung verleiht. Die Geschichte der Welt ist Milliarden Jahre alt, Menschen rechnen mit tausenden von Jahren und in ihrer Lebenszeit nur mit Jahrzehnten. Das Reale dort draußen, das nicht vom Menschen Produzierte, ist immer mehr als die menschliche Konstruktion, aber als Menschen haben wir eben nur unsere Interpretationen, Deutungen, Konstruktionen über das, was für uns dort draußen ist oder was wir für ein solches »Dasein« in unserem beschränkten Zeitverständnis halten. So spricht Braudel von einer Zeitebene, die er nur durch Kontrast mit anderen von ihm konstruierten Zeitebenen verdeutlichen kann.
Wenn Menschen über Zeit und Raum, über die Natur und Umwelt oder über das Reale sprechen, dann ist dies immer Deutung und Interpretation über das, was sie wahrnehmen, interpretieren und konstruieren können und wollen, aber kein absolutes Ding dort draußen. Es wäre schön, wenn uns höhere Wesen von draußen zeigen könnten, wie es um die Ökologie tatsächlich steht, aber selbst dann wäre zu bezweifeln, ob wir ihnen glauben würden. Die Macht der menschlichen Konstruktion von Wirklichkeiten aller Art bedeutet aber nicht, dass es kein dort draußen oder Reales gibt. Im Erschrecken oder Erstaunen über die Wirkungen des Realen werden unsere menschlichen Konstruktionen immer wieder auf die Probe gestellt (vgl. zur Begründung des Realen im Konstruktivismus Reich 2009).
Die lange Dauer (longue durée) umfasst längere historische Zeiträume, wie die Pharaonenherrschaft oder das Feudalzeitalter des Mittelalters. Der Kapitalismus könnte auch in diese Zeitauffassung passen, es sei denn, er würde, wie es heute scheint, durch seine Tendenzen der Kapitalisierung das Anthropozän so nachhaltig bestimmen, dass die unterste Zeitebene grundsätzlich verändert wird. Solche Zuschreibungen werden allerdings immer erst im Nachhinein deutlich, und ohnehin ist zu bemerken, dass alle Einteilungen der Erdzeitalter rein menschliche Konstruktionen sind.
In der jüngsten Zeit, das zeigen die Studien Braudels, hat sich der Kapitalismus stufenweise entwickelt: zunächst lokal über Tausch und Märkte, dann über eine etablierte Marktwirtschaft mit Konkurrenz unter erst nationalen und später globalen Wettbewerbsbedingungen, schließlich als allumfassender Kapitalismus, der jeden Winkel der Erde erreicht und eine Weltwirtschaft errichtet hat.
Für die Nachhaltigkeit ist dieser Aufwärtstrend der Entwicklung die Ursache für die heutige Krise. Eine Umkehr scheint einigen nur dadurch möglich, wenn die Schritte rückwärtsgegangen werden: Eine Lokalökonomie mit kurzen Wegen und wenig Schadstoffen und Treibhausgasen, mit hoher Verantwortlichkeit und Zugehörigkeit in den Verpflichtungen kleiner und verbindlicher sozialer Gruppen könnte als Regionalpolitik Strukturen aufbauen, die nachhaltiger als die jetzige Produktions- und Lebensweise wirken. Nur wie sollen sich die Menschen davon überzeugen lassen, wenn ihnen gerade der allumfassende Kapitalismus mit weniger Zugehörigkeit und hoher Konkurrenz gegeneinander zugleich alle Vorteile im Wohlstand und einem längeren Leben beschwert haben?
In Anbetracht der langen Dauer von Kolonialismus und Benachteiligung vieler Regionen der Welt kann der Wandel ins regionale, ökologische Idyll vor dem Hintergrund einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ohnehin nur eine Hoffnung in den reichen Ländern sein. Eine andere Hoffnung ist es, dass wissenschaftlich-technologische Revolutionen uns in einen ganz anderen Stand der Versöhnung von Wirtschaftswachstum und Umweltverträglichkeit versetzen könnten, obwohl sie das gegenwärtig noch nicht erreichen.
Die Gegenwart