Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich


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ausdrückt, in denen dies geschieht. Einzelereignisse sind von eingeschränkter Dauer, sie bilden die Daten der Geschichte, die sich aneinanderreihen lassen, obwohl man allein aus ihnen diese Geschichte nicht verstehen kann. So betrachtet erscheinen menschliche Ereignisse wie Wellen auf der Oberfläche des Geschichtsflusses, ohne einen tieferen Grund zu erfassen.

      Zur langen Dauer gehört heute die kapitalistische Entwicklung, die unsere Lage bestimmt. Für Altvater findet in Braudels »langer Zeit des 16. Jahrhunderts« eine Wende statt, in der die Märkte und der Mehrwert, der vor allem aus der Lohnarbeit gewonnen werden konnte, immer dominanter wurden, um dann im 18. Jahrhundert eine weitere Wende zu erfahren, in der eine »Verbindung von im Überfluss vorhandenen fossilen Brennstoffen und modernen Maschinen« stattfand, um dann »schnell Europa und Nordamerika und dann den Rest der Welt zu verändern. Weit entfernt von einer rein technischen Entwicklung, war diese industrielle Transformation ein Kind des europäischen Rationalismus, der Profitgier und der Dynamik von Geld und Markt. Der industrielle Kapitalismus, der von billigen fossilen Brennstoffen getragen wurde, wurde zum vorherrschenden Modell der modernen Wirtschaftsentwicklung. Nicht weniger wichtig, schuf er auch eine neue globale sozial-ökologische Realität.« (Altvater 2016, 146)

       Die Vertreibung aus natürlichen Rhythmen in die Zeitkontrolle

      Der Jahresablauf im Rhythmus der natürlichen Produktionsphasen einer Feudalgesellschaft verwandelt sich mit der Industrialisierung in ein neues Denken, in dem alles in Zeit gemessen und in Geld verwandelt wird. Die Zeit wird rationalisiert; Kalender, Uhren, Maßstäbe effektiv genutzter Zeit gegenüber einem Müßiggang verweisen darauf, dass die Zeit in einer Gegenwart mit beschränktem Ende gelebt und genutzt werden muss. Die Arbeit rückt ins Zentrum einer Schaffenskraft, die auf eine Vermehrung der materiellen Dinge und des Wohlstands setzt. Dabei entwickelt der Mensch eine Haltung, die gesamte Welt von sich aus, von seinen Bedürfnissen und dem wachsenden Wohlstand her zu denken, ohne Rücksicht auf Verluste bei ärmeren Klassen, in fremden Ländern oder für die Umwelt zu nehmen. Um die Ausbeutung des Menschen zu bremsen, entsteht eine Arbeiterbewegung als Gegenkraft. Um die Natur und Umwelt oder fremde Völker zu schützen, dazu fehlen nachhaltige Bewegungen von Anfang an.

      Thompson (1967) zeigt etwa, wie Zeit und Macht innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft verschränkt eingesetzt werden. Die Kontrolle der Zeit steht dabei im Fokus in der Organisation der Industrie wie des Lebens. Er analysiert, wie die Arbeitsverhältnisse im Übergang von der Feudalzeit in die Industrialisierung durch mechanische, lineare Zeitmessungen ersetzt und wirksam gemacht wurden. Hierzu gehört insbesondere der Einsatz von Uhren und die genaue Bestimmung von kleinen und gut definierten Arbeitseinheiten. Die Leistungen werden von einer Bewertung in der Gesamtleistung eines längeren Zeitraums zunächst auf Wochen, dann Tage, schließlich Stunden und Minuten festgelegt. Die Kontrolle dieser Zeiten wird immer engmaschiger und subtiler, sie reicht von der persönlichen Überprüfung über die Stempelkarte bis hin zur elektronischen Erfassung der Zeiten. In der Erziehung der Menschen, früher vielfach noch religiös als Tugend zur Arbeitsamkeit und zum Fleiß inspiriert, um ein sittliches Leben zu führen, hat nach Max Weber (1934) insbesondere die protestantische Ethik dazu beigetragen, das Wirtschaftsleben zu effektivieren. Besonders drei Maßnahmen helfen hierbei: eine effektive Betriebsorganisation, die Trennung von Haushalt und Betrieb und eine rationale Buchführung. Diese Maßnahmen sind immer vor dem Hintergrund zu sehen, dass Zeit und Geld gegeneinander aufgerechnet werden.

      Während die Landwirtschaft noch länger den Nutzungsmöglichkeiten in natürlichen Zeitabläufen folgte und erst nach und nach industrialisiert wird, so wird alle Waren produzierende Arbeit unter Zeitdruck gestellt, damit sich durch Zeitersparnis der Gewinn vergrößert. Je weniger Zeit nötig ist, um etwas herzustellen, desto kostengünstiger kann es produziert werden. Von vornherein steht eine Produktivitätsmaximierung im Vordergrund, eine Ressourcenschonung oder Umweltschonung, selbst eine Gesundheitsschonung sind zunächst kaum im Programm der Moderne.

      Das absehbare Ende der eigenen Lebenszeit mag in der Unendlichkeit religiös nach einem »Jüngsten Gericht« enden, aber bis dahin scheint es genau die Erfolgsaufgabe dieser Lebenszeit zu sein, die Notwendigkeiten des Tages zu ergreifen und das eigene Leben abzusichern. Besonders die Entwicklung eines anwachsenden Privateigentums gilt als ein Königsweg der Zeitnutzung.

      Die Ereignisgeschichte beschleunigt sich durch die neuen Möglichkeiten zur Zeitkontrolle: Ab jetzt erscheint die Vergangenheit im Rückblick als sehr langsam. Etwa die natürliche Geschwindigkeit von Menschen oder Pferden wird als langsam wahrgenommen, seit die Dampfkraft und die Motorisierung die Welt beherrschen. Die Jahreswechsel und Ernten, die ehernen Rituale der Geburt und Heirat, wie auch festgelegte Feste der Erinnerung bleiben zwar, spielen aber in den Städten und auf den Märkten eine zunehmend geringere Rolle. Früheren Zeiten selbst kultureller Hochentwicklung war diese neue Art Beschleunigung in der Ereignisgeschichte fremd, aber auf dem Boden der langen Zeit, der longue durée vor dem Hintergrund des Anwachsens der Produktion und der Mehrwerte, nimmt die Beschleunigung immer weiter zu.

       Selbstzwänge und instrumentelle Rationalität

      Die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des Kapitalismus geht mit einer veränderten Sozialisation der Menschen einher. Norbert Elias (1976, 1988) hat herausgearbeitet, dass Menschen Selbstzwänge gegenüber Fremdzwängen bevorzugen und in der kapitalistischen Lebensform auch benötigen. Hierbei ist es notwendig, die eigene Lebenszeit in ihren Phasen des Heranwachsens, der Ausbildung, der Anpassung an gesellschaftliche Veränderungen in die eigene Hand zu nehmen, sich selbst zu motivieren, den eigenen Erfolg durch Ausdauer und Langsicht zu kontrollieren, Kooperation und Kommunikation mit anderen auf Zeit einzugehen. Vor allem das Zeitverständnis verändert sich:7 »Zeit wird unterschiedlich zum Raum gesehen, weil sie leichter verändert und manipuliert – und besonders bedeutsam verkürzt, weniger kostspielig und so produktiver – gestaltet werden kann. Benjamin Franklins berühmte Aussage lautet: ›Zeit ist Geld‹; er konnte diese Erklärung mit Überzeugung abgeben, weil er den Menschen zuvor bereits als ›werkzeugmachendes Tier‹ definiert hatte.« (Bauman 2000 b, 173)

      Die instrumentelle Rationalität der Moderne sieht neben der Zeit auch den Raum als wichtig an. Er repräsentiert neben der Weite der Welt immer auch die Kostbarkeit des Privatbesitzes, der demonstrativ nach außen als solide und vermögend gebaut wird, nach innen jedoch zweckrational auf Verwertbarkeit der kostbaren Zeit und des knappen Raums durch Aufteilung in mehr oder minder luxuriös nutzbare Zimmer zu Hause oder produktive Stätten in Unternehmen gestaltet ist. Andere Räume, die etwa der Erziehung oder Krankheit dienen, werden dagegen eher sparsam und kostensparend ausgestattet; Natur- und Umwelträume scheinen einfachhin grenzenlos. Gern vergessen die kapitalistisch erfolgreichen Länder die Flächen, die für ihr Vorhaben eingenommen werden müssen. Es ist der äußere Raum der Eroberungen fremder Länder, der Gewinnung von Rohstoffen und Ressourcen, der Gefangennahme, Versklavung, Migration von Arbeitskräften, der Erschließung von Märkten, der Globalisierung. Es gibt eine enge Verbindung von zeitlicher Entwicklung in der Moderne und Flächenbedarf. Der Raum ist im Laufe der Moderne auf der Basis überkommener Besitzverhältnisse zunächst in den freien Flächen verknappt und in den Bebauungen verdichtet worden. Einerseits werden Räume durch kriegerische Handlungen von den Nationen erobert, verloren, auf die Gewinnung von Kolonien verschoben, andererseits führt das wachsende Privateigentum dazu, dass fast alle vorhandenen Flächen in Privatbesitz überführt werden. Der Raum der Welt wird nicht nur immer genauer in der Moderne kartografiert, er wird auch parzelliert und verrechtlicht. Inklusion und Exklusion nach Besitzregeln, nach Zugehörigkeit und Verweigerung des Eintritts, dies sind Grundmerkmale einer Raummacht, die eingezäunt und durch Besitzregeln überwacht wird. Dieser Teil wird in der Nachhaltigkeitsagenda fast immer verschwiegen. Wie sollen wir nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft hinterlassen, wenn diese bereits in die überkommenen Besitzverhältnisse so aufgeteilt ist, dass es kaum noch Spielraum für neue Verteilungen des Raums der Welt gibt?

       Wachstum wird zur Leitfigur menschlicher Handlungen

      Es dauerte einige Zeit in der Moderne, bis die Kraft der Beschleunigung verstanden


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