Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich


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Die maschinelle Produktion ermöglicht die wachsende Massenfertigung von Waren aller Art. Die Manufaktur verwandelt sich in eine Fabrik, die Fabriken werden zu komplexen Industrieunternehmen und Konzernen. Alles ist auf solidem Grund gebaut, immer mit privaten Anreizen auf Gewinne versehen, es drückt sich nach Größe der Anlagen, nach Volumen der Bauten aus und benutzt eindrucksvolle Fassaden, um die Gewinne und den wachsenden Reichtum nach außen zu präsentieren. Meist steht die Unternehmensvilla zu Beginn dieser Entwicklung noch in der Nähe der Fabrikgebäude, um die Zugehörigkeit zu demonstrieren. Dagegen sind die Arbeitersiedlungen in serieller und kasernenhafter Wohngestaltung eher ein Abbild der ökonomischen Nutzung und kulturellen Bedeutung der Arbeitskräfte, aber die Arbeitskräfte haben noch ein Bild der materiellen Produktion: Sie sehen den Wohlstand wachsen und entwickeln den Wunsch, an dem soliden Wohlstand teilzuhaben, wobei sie erwarten, dies nach und nach zu erreichen. Soziale Gerechtigkeit wird angesichts der ungleichen Verteilung des Wohlstands zur Dauerherausforderung.

      Die Entwicklungen der Wissenschaften und Technik beschleunigen die Entfaltung der Industrie, dabei verändern sich die Anforderungen an die unterschiedlichen Teilarbeiten. Wiederkehrende Arbeiten, intensivierte Detailverrichtungen, Überwachung und Kontrolle, Erfindung und Qualitätssteigerung, Forschung und Leitung werden voneinander geschieden und wirken in zeitlicher Planung und räumlicher Anordnung dennoch zusammen. In gewissem Rahmen vollzieht sich innerhalb der Moderne mit der Steigerung der Produktivität und des gleichzeitigen gewerkschaftlichen Kampfes einer Begrenzung der Arbeitsintensität aber auch ein kontinuierlicher Wandel, der in einen flexiblen, disponiblen und auch mobilen Einsatz der Arbeitskräfte mit unterschiedlichen Kompetenzgraden mündet. Die Arbeitszeiten konnten dabei deutlich gesenkt und die Urlaubszeiten erweitert werden; soziale Gerechtigkeit wird hier in einen Verteilungskampfverwandelt. Aber der zunehmende Abstand zwischen Arm und Reich zeigt selbst in den reichen Ländern, dass die Gewinne sehr einseitig verteilt werden. Der Übergang in die flüssige Moderne, die sich durch Wanderungen des Kapitals an jene Orte auszeichnet, wo die Gewinne noch einfacher und höher zu erzielen sind, steigert diese Einseitigkeit bis heute immer mehr.

      Karl Polanyis einflussreiches Buch The Great Transformation (1944) analysiert den gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts. Er kann die bisherige Analyse, die von Braudel ihren Ausgang nahm, ergänzen helfen.

       Karl Polanyi und die große Transformation

      Am Beispiel der Industrialisierung Englands zeigt er zwei Entwicklungen, die seither die westliche Weltordnung prägen: einerseits das Anwachsen bestimmter Marktformen und ihre Ausweitung in alle Winkel der Erde, was letztlich bis in die Globalisierung führt, andererseits das Erstarken des Nationalen und der Nationalstaaten, die in Wechselwirkung mit den Markterfolgen eine Konkurrenz der Nationen und unterschiedliche nationale Profile des Erfolgs im Wohlstand der Nationen ausdrücken. Die Durchsetzung der Eigentumsmarktgesellschaft, die bereits bei Hobbes und Locke konzipiert wurde (Macpherson 1973), nennt Polanyi die Marktgesellschaft, in der alle natürlichen Substanzen und menschlichen Tätigkeiten in Waren verwandelt werden können. Das individuelle Streben nach Gewinn und Eigennutz in allen Handlungen nimmt auf allen Ebenen zu. Dabei entsteht diese Geschichte nicht im evolutionären Eigenlauf, sondern sie wird durch die Konkurrenz der Nationen ebenso angetrieben wie durch die Konkurrenz kapitalistische Strategien der Gewinnmaximierung. Die Marktwirtschaft führt zu einer Verselbstständigung ihrer Strukturen, die über die Zeit hinweg den wirtschaftlichen Fortschritt mit einer dauerhaften sozialen Ungleichheit verbindet. Zugleich wird von Anbeginn an verhindert, sich mit Fragen von Nachhaltigkeit außerhalb esoterischer Zuwendung zu beschäftigen.

      Die Konkurrenz der Individuen in der Marktgesellschaft bietet auf der Ebene der Ereignisgeschichte genügend Beispiele für Erfolge und Misserfolge, wobei die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit und die Sehnsucht nach Gewinn als durchgehendes Motiv für alle sogar vor die sozialen Beziehungen rückt und diese immer stärker prägt. Um es in heutiger Terminologie auszudrücken, an die Stelle der moralischen Verpflichtung eines Ehebündnisses rückt der Ehevertrag, an die Stelle der moralischen Pflichten der Kinder rücken Erbverträge, da in den Marktverhältnissen auch mit dem Vertragsbruch engster sozialer Beziehungen zu rechnen ist. Ein Tausch mit ungleichen Ergebnissen ist nicht nur im ökonomischen Kapital möglich, sondern betrifft auch das soziale, kulturelle (Bourdieu 1986), das Lern- und Körperkapital (Reich 2018 a), das Naturkapital (Wackernagel et al. 1999). Die Verteilung der Kapitalformen unter den Menschen wirft immer die Frage nach sozialer Gerechtigkeit auf (Reich 2020). Der mit dieser Entwicklung ausufernde Materialismus zeigt sich für Polanyi weniger als materielle Verelendung oder als Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, sondern als grundsätzliche kulturelle und soziale Verwahrlosung. Menschen sprechen viel von Solidarität, aber ihre tatsächlichen gegenseitigen Hilfen und Unterstützungen bleiben stets auf ein überschaubares Maß begrenzt. Heute lässt sich hier nahtlos die nachhaltige Ignoranz anschließen. Sie spiegelt sich in einem Materialismus, der immer allumfassender das menschliche Leben durchdringt (Miller 1987, 2005) und wenig Raum für alternative Ideen lässt.

      Polanyi wird heute von jenen gern zitiert, die den Staat in der Verantwortung sehen, die Märkte zu regulieren und die Nachhaltigkeit stärker durchzusetzen. »Die Wahrheit ist, dass die moderne Ungleichheit deshalb existiert, weil die Demokratie aus der ökonomischen Sphäre ausgeschlossen bleibt.« (Wilkinson & Pickett 2010, 264) Enden damit alle Nachhaltigkeitsfragen in der Ökonomie schon von Anbeginn an?

       Thomas Robert Malthus und die Überbevölkerungsfalle

      Immerhin gab es Ausnahmen in der Wirtschaftsgeschichte. Die Frage nach der Nachhaltigkeit wurde bereits für Thomas Robert Malthus angesichts der Überbevölkerung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen Anliegen. Die Malthusianische Falle, auch Bevölkerungsfalle genannt, besteht für ihn darin, dass die Bevölkerung exponentiell zunimmt, die Erträge aus der Landwirtschaft aber nur linear anwachsen. Je schneller die Menschheit anwächst, desto weniger wird sie zu essen haben, das ist die schlichte Formel.

      Zunächst ist diese Falle nur regional eingetreten. Zwar zeigen Hungerkatastrophen immer wieder, wie eine solche Falle lokal wirken kann, aber die Industrialisierung der Landwirtschaft hat die Erträge aus landwirtschaftlichem Anbau so gewaltig steigen lassen, dass die kritische Grenze der Überbevölkerung im Grunde bis heute nicht erreicht wurde. Es müsste niemand verhungern, wenn die Lebensmittel fair verteilt werden würden. Aber genau diese oft fehlende Fairness macht den Überlebenskampf in bestimmten Regionen der Welt schwierig und für ein Siebtel der Menschheit heute zum Überlebensproblem.8

      Weil die vorausgesagte Katastrophe in den Industrieländern ausblieb, wuchs der Optimismus und der ungebrochene Glaube an den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt in der Moderne so an, dass die Menschen bei steigendem Wohlstand selbst Schattenseiten in Kauf zu nehmen bereit waren. Dies bedeutete schon früh ein Ende der Nachhaltigkeitsfragen. Das Denken und die Vorstellungen wurden auf Fortschritt hin konfiguriert, ein automatisch ablaufender Prozess, der durch die sichtbaren Erfolge des Fortschritts stets bestätigt werden konnte.

      Erst nachdem Müll und Verschmutzung, Treibhausgase und Ressourcenverschwendung in dieser Erfolgsgeschichte offensichtlich wurden, reagierten die Menschen, wenn auch in bisher bescheidenem Ausmaß. Ein Bewusstsein für die Natur und Umwelt sind besonders abhängig vom Druck einer sozialen Gruppe. Das Bewusstsein darüber, dass etwas notwendig ist und gebraucht wird, ein Verständnis für ökologische Konsequenzen und davon abhängige soziale und subjektive Bezugsnormen, können menschliche Verhaltensmuster umso stärker bestimmen, je höher der soziale Druck durch Mehrheiten in der sozialen Gruppe anwächst. Wichtig ist dabei die soziale Bezugsnorm, die früh in der Kindheit gelernt und dann durch ständige Wiederholung, vor allem durch Gewohnheiten, sozial bestätigt wird. So lässt sich beispielsweise die Mülltrennung in Haushalten heute leichter einführen als die Vermeidung von Treibhausgasen in der Lebenswelt, weil sie sozial gewollter und besser kontrollierbar erscheint. Insgesamt lässt sich nachhaltiges Verhalten auf lange Sicht ohnehin nur hinreichend erwerben, wenn es in die Sozialisationsvorgänge


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