Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich


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organisiert. Kurze Wege, produktive Arbeitsketten, Verkürzung des Transports inner- und außerbetrieblich, Ausbau des Transport- und Verkehrswesens bei gleichzeitiger Demonstration des eigenen Raums, der Fabrik, als ein Raum und Gebäude der Herrschaft in monumentaler Architektur. Was jenseits der produzierten Waren aus den Fabriken als Abgas, Verschmutzung, Müll und Verunreinigung herauskommt, das sind alles Kosten, die möglichst nicht in Rechnung gestellt werden sollen, weil sie die Gewinne schmälern. Der wissenschaftlich-technologische Fortschritt steht für ein Anwachsen der Produktivkräfte, was den Output durch menschliche Arbeit unermesslich steigert, was zugleich zu einer Rücksichtslosigkeit im Gebrauch der billigen Natur führt. Wenn die Ölproduktion knapp oder zu teuer wird, dann wird die Erde im Fracking mit Giftstoffen aufgebrochen, um ohne Rücksicht auf Langzeitfolgen alles auszupressen, was abzusaugen ist. Wenn die Produktionsweisen neue Agrarflächen benötigen, dann wird der kostbare Regenwald wider jede Einsicht auf Klimafolgen gerodet. Jede Produktivkrafterhöhung, so lässt sich argumentieren, hat Folgen für den Umgang mit der Natur, der Umwelt, den Ressourcen, die ohne begrenzende Moral oder Regulierung immer zu billig sind.

      Der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital, den Marx im 19. Jahrhundert vor Augen hatte, erweitert sich im 20. Jahrhundert deutlich um den Gegensatz von Natur und Kapital. Der Siegeszug des Kapitalismus, der ins Anthropozän führt, trägt mindestens drei Gesichter:

      Erstens ermöglicht er weltweit durch seine zunehmende Globalisierung ein Anwachsen der Bevölkerungen, die zwar nicht überall im Wohlstand leben können, aber dennoch als Masse die Grenzen der Erde herausfordern.

      Zweitens hat eine vorrangig auf Gewinnmaximierung orientierte Produktionsweise sowohl alle natürlichen Ressourcen als ausbeutbar deklariert und zugleich wenig darauf geachtet, welche Verschmutzungen, Treibhausgase, Vergiftungen, Müllvermehrungen und andere schädliche Folgen diese Produktion selbst hat.

      Drittens ist die Entwicklung nicht nur für die Gewinner in der Kapitalverwertung erfolgreich, sondern auch für eine Masse an Konsumenten, die ihren Wohlstand und ihre Zufriedenheit mit dem erreichten Lebensstandard verbinden.

      Das neue Zeitalter des Klimawandels, der schwindenden Ressourcen und der von mir in Band 1 beschriebenen Grenzen der Erde, ist als Anthropozän ein Erdzeitalter in der longue durée, die den Hintergrund der heutigen Ereignisgeschichte bildet. Viele denken vielleicht, dass nur die Ereignisgeschichte kapitalistisch geprägt ist. Aber die Analyse kann sehr schnell verdeutlichen, dass die Menschheit kaum eine Chance hat, ihrer eigenen longue durée zu entkommen: Wir können nicht einfach durch eine Revolution den für die meisten Menschen so plausiblen Kreisläufen von Geld und Kauf, von Arbeit und Lohn, von Investition und Gewinn, von Kosten und Nutzen entkommen. Sie sind unserem Verhalten, unseren Erwartungen und Wünschen so sehr eingeschrieben, dass selbst größte Ungerechtigkeiten in der Ereignisgeschichte nicht ausgereicht haben, diesen Hintergrund verändern zu können. Für die Nachhaltigkeit kann sich dies neben dem Problem, ob Menschen ein nachhaltiges Verhalten überhaupt hinreichend entwickeln können, als größtes Problem erweisen, weil diese Kreisläufe eine Triebfeder für die Entgrenzungen der Menschen darstellen.

       Das Anthropozän als Folge des Kapitalismus

      Im ersten Teil des ersten Bandes sind die Grenzen der Erde im Anthropozän hinreichend beschrieben worden. Aber solche Beschreibungen folgen eher naturwissenschaftlichen Analysen der Faktenlage um die Nachhaltigkeit. Einige Forscherinnen argumentieren, dass dies unzureichend ist: Sie wünschen eine Umbenennung des Anthropozäns in ein Kapitalozän, weil heute der Kapitalismus die Erdgeschichte schreibt. Aber ist es sinnvoll von einem »Capitalocene« zu sprechen?

      Wenn Moore und andere (2016) die Argumente zusammenfassen, dann kann die Konstruktion des Anthropozäns mit zahlreichen Inhalten in Richtung Kapitalozän gefüllt werden. Offensichtlich ist eine zunehmende Kapitalisierung aller Märkte, was Auswirkungen bis in die letzten Winkel der Erde hat. Die Strategien der Gewinnmaximierung wirken überall auf der Welt, lokal und global. Sie erzeugen Verwerfungen, die überall auf der Welt zu spüren sind. Und sie bedingen einen Umgang mit der Natur, der in die Nachhaltigkeitskrise führt.

      Durch eine solche Argumentation entsteht eine gewisse Begriffsverwirrung. Das Anthropozän beschreibt zwar eine menschengemachte Veränderung des geophysikalischen Zeitalters, besonders sichtbar im Klimawandel, aber dies soll nicht menschliches Verhalten charakterisieren, sondern die Wirkungen, die ökologisch auftreten. Das menschliche Verhalten entspricht eben keinem erdgeschichtlichen Zeitalter, auch wenn es dessen Bedingungen beeinflusst. Aber welchen Nutzen soll es überhaupt haben, wenn immer weitere Zeitepochen, wie sie von Haraway (2016) in Bezug auf die Auswirkungen menschlicher Handlungen konstruiert werden – und es damit um eine menschliche Ereignisgeschichte geht? Mir scheint es auszureichen, wenn begriffen ist, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise der Motor und die Ursache für viele der Veränderungen ist, die wir negativ im Anthropozän erfassen können. In der menschlichen Ereignisgeschichte erfahren wir sie sowohl in der sozialen Ungerechtigkeit als auch in den Effekten der Nachhaltigkeitskrise. Solche Ereignisgeschichte wird je nach selektiven sozialen Interessen aber auch unterschiedlich konstruiert. Viele Menschen deuten beispielsweise den Konsum positiv, weil sie dessen Folgen für die Nachhaltigkeit ausblenden. In der menschlichen Ereignisgeschichte kann diese Ausblendung sowohl einen rigiden Profitkapitalismus als auch einen auf Wohlstand bedachten Konsum miteinander verbinden, um ein erfolgreiches Leben zu bezeichnen. Im Anthropozän aber sind die Maßstäbe andere: Hier wird über die Wirkung der Grenzen der Erde und ihre Auswirkung auf das Überleben auch der Menschen allein durch die äußere Welt entschieden.

      Die Menschheit insgesamt profitiert bisher von dem wachsenden Wohlstand, unterschiedlich zwar, wie die Geschichte der sozialen Lagen zeigt, aber das Versprechen spätestens seit der Französischen Revolution lautet, dass bei besonderer Anstrengung alle erfolgreich im Überleben und darauf aufbauend später in den reichen Ländern im Konsum sein können. Freiheit wird zur Konsumfreiheit, Gleichheit zu einem Mindesteinkommen, Brüderlichkeit zu sozialen Netzen in schwierigen Zeiten. Der erreichte materielle Wohlstand der Welt scheint dem zumindest in den Industrieländern, die den Kern der beschleunigten Entwicklung von Ausbeutung der Ressourcen und Verschwendung bilden, bis heute zu entsprechen.

       Eine Geschichte von Rücksichtslosigkeiten

      Ein kurzer Blick zurück kann verdeutlichen, dass die Ereignisgeschichte von Rücksichtslosigkeit nicht nur gegen die Natur, sondern auch gegen die Mitmenschen geprägt ist. Ein Beispiel für die Macht westlicher Industrialisierung und die Inbesitznahme von Ländern als fruchtbarem Boden findet sich in der Besiedlung Amerikas und der Vertreibung der Ureinwohner. Nomadische Kulturen wurden im Sinne westlicher Rationalität ohne Rücksicht vertrieben, um im Kampf um das Territorium die Rechte der stärkeren Waffen durchzusetzen. In solchen Phasen ursprünglicher Akkumulation spielt die Macht eine entscheidende Rolle, nach der Eroberung verwandelt sich die rohe Gewalt in eine Macht des Besitzes. Besonders die amerikanische Gesellschaft, die von Anbeginn auf Freiheit und Demokratie in ihrer Verfassung setzen wollte, war geprägt durch Sklaverei und Genozid an den Ureinwohnern, um Geschäftsinteressen der weißen Einwanderer durchzusetzen. Die Waffenfreiheit, bis heute ein Ausdruck des ursprünglichen gewaltvollen Pioniergeistes der amerikanischen Gesellschaft, wird weiterhin als Mittel der Gewalt genutzt, um die eigenen Besitzrechte zu schützen. Sie gehört zum Lebenskonzept in der Eroberung und heute der schlichten Verteidigung des Erreichten. Der Kampf ums Lokale und Nationale ist seither geprägt durch territoriale Inbesitznahme, Errichtung einer autoritativen Staatsgewalt und langfristige Verrechtlichung der Besitzverhältnisse. Zudem ist es der innere Raum, der die Raumstruktur der gesamten Gesellschaft dann weiter verdichtet, denn dort, wo die Fabriken entstanden, wurden auch die beengten Wohnräume der Arbeitenden gebaut und als Städte geformt.

      Die Nicht-Nachhaltigkeit hat sich im Kapitalismus zu einem Standard-Lebensmodell entwickelt: Der innere Raum in den Ländern ist in der Industrialisierung durch grundlegende Veränderungen in der Verdichtung und Verzweigung geprägt. Die Anzahl der Städte


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