Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich
in Bezug auf die Nebeneffekte, weil einige Kipp-Punkte gegenteilig wirken. Insgesamt sind alle Aussagen auf die Umwelt und weniger auf die Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensverhältnisse bezogen. Die angenommenen Katastrophen treten in diskontinuierlichen Ereignissen wie Wetterphänomenen, in Überflutungen, Dürreperioden, langsam steigenden Meeresspiegeln und vielen weiteren einzelnen Effekten auf, deren Bedeutung für die Menschheit je nach Ort und Ausgangslage sehr unterschiedlich dramatisch sein kann.
Aus einer ökonomischen Perspektive dagegen sind all diese Katastrophen ohnehin solange eher unwahrscheinlich, wie sie nicht grundlegend menschliche Überlebenschancen sichtbar verringern oder massenhaft zu höheren Sterberaten und Einschränkungen des wirtschaftlichen Lebens führen. Sonst würde sie niemand mehr versichern, denn Katastrophen sind wirtschaftlich gesehen ein plötzlicher, auch schwerer Schaden, der sich jedoch grundsätzlich immer anschließend reparieren oder ausgleichen lässt. Die Frage zwischen Ökologie und Ökonomie lautet: Kann die Klimakrise, können die Kipp-Punkte überhaupt ein solcher Schaden sein, weil er unter der Prämisse der Ökonomie stets regulierbar erscheint – er kann versichert werden, er kann technologisch überwunden werden, er kann ins Positive umgekehrt werden. Hier rechnen Ökonomen gänzlich anders als naturwissenschaftlich und ökologisch orientierte Forschungen. Lenton & Ciscar (2013, 586) argumentieren, dass ökonomisch gesehen das Bruttosozialprodukt schon um 30 Prozent einbrechen müsste, um Ökonomen überhaupt von einer großen Katastrophe sprechen zu lassen. Diskontinuitäten, selbst im großen Maßstab im Klimawandel, könnten dies nur dann sein, wenn die Menschen massenhaft unmittelbar betroffen wären und die Gesamteinnahmen drastisch sinken würden. Die Corona-Pandemie hat dies sehr gut veranschaulichen können, weil hier das Bruttosozialprodukt direkt negativ so beeinflusst wurde, dass die gesamte Weltwirtschaft ins Stocken geriet. Auf die Ökologie bezogen wären dies Mega-Katastrophen, die nicht mehr nur lokal auftreten, sondern globale Wirkungen hätten. Die Denkweisen der Ökonomie nehmen die Herausforderung eines nötigen Strukturwandels in der Ökonomie erst dann wirklich an, wenn die Szenarien bereits eingetreten sind, die dann keine Chancen mehr bieten werden, die Katastrophen zu verhindern.
Grundsätzlich wird in ökonomischen Theorien der Gegenwart das Risiko der Nachhaltigkeitsprobleme eher heruntergespielt, wohingegen eine Einflussgröße wie das Bruttosozialprodukt als wesentlich und aussagekräftig für das Wohlbefinden der Menschheit angesehen wird. Dies allerdings führt in der Wahrnehmung der Risiken zu erheblichen Verzerrungen, denn bis – ökonomisch gesehen – Gefahren auch in Modellrechnungen einbezogen werden, müssten schon dramatische Umweltveränderungen stattfinden. Die bestehenden Modellrechnungen und Bedrohungsziele, die der Weltklimarat wissenschaftlich erarbeitet hat, reichen dazu nicht aus, weil sie bisher nicht umfassend in ökonomische Folgekosten und deren Berechnung einbezogen werden (ebd., 591 ff.).
I.1.1.6Drei typische Denkweisen, die Nachhaltigkeit misslingen lassen
Vor dem Hintergrund der bisherigen Argumentation ist es im tradierten Verständnis des erfolgreichen Kapitalismus seit der Industrialisierung verständlich, dass Nachhaltigkeit für Menschen sehr lästig ist, einschränkend wirkt und daher oft lieber als Nebensache angesehen wird. Drei Denkweisen sind dafür typisch:
(1) Der Reichtum der Welt erscheint als grenzenlos, das Abenteuer, sie zu erkunden, ebenso wie die Rohstoffe, die dazu ausgebeutet werden müssen, werden nicht als beschränkt erlebt und gedacht. Es zählen nur die Vorteile, diesen Reichtum zu genießen, oder die Kulturgewinne, die Vielfalt an Möglichkeiten menschlicher Entfaltung zu erhöhen, aber weniger die Folgen für die Welt und nachkommende Generationen. Darin wurzeln ein zeitbezogener Egoismus und eine Kurz- bis Mittelfristigkeit des Denkens, das von den eigenen Bedürfnissen auf die Bedürfnisse der Welt insgesamt schließt. Die Arbeitswelt verkörpert die ganze Energie, die vorrangig auf den Siegeszug des Konsums setzt, weil sich hierin die kapitalistischen Gewinnstrategien mit der Bedürfnisbefriedigung der Konsumenten vereinigen lassen.
(2) Die wachsende Bevölkerung wurde als Chance der Markterweiterung und im 19. Jahrhundert gar als Möglichkeit der Versklavung und Kolonialisierung betrachtet. Außerdem erwuchs aus ihr die Notwendigkeit, in den Weltkriegen zusätzlichen Raum für das eigene Volk zu erobern; seit dem 20. Jahrhundert wird dieser Raum vor allem als globaler Raum der Ressourcenaneignung, der Migration und des Tourismus verstanden. Die Handlungen werden in den reicheren Ländern national organisiert, um Gewinne anzuhäufen, aber global durchgeführt, wobei die Importe als Ausbeutung der Ressourcen zugleich auch die Menschen in der Ferne ausbeuten und die Waren im eigenen Land verbilligen, die Exporte sich aber auf das beschränken, was man entweder selbst nicht gebrauchen kann (Überschüsse und Müll) oder teuer mit Gewinnen exportiert (Maschinen und Autos). Warum sollen die reichen Länder nachhaltig vorgehen, solange dieses System funktioniert? Warum sollen die armen Länder hieraus aussteigen, wenn keine Vorteile für sie entstehen, weil sie ohnehin stets unterlegen sind? Der Mensch hat sich in kurz- und mittelfristigen Strategien eingerichtet, wobei die einen mehr als die anderen davon profitieren.
(3) Der Fortschrittsglaube in immer weitere wissenschaftlich-technologische Erfindungen, die alle Probleme der Zukunft lösen werden und keine neuen erzeugen, ist bis heute ungebrochen. Viele denken, dass auch die Erfindungen grenzenlos sind. Dabei müsste die Atomenergie mit ihrer nicht handhabbaren Verseuchung durch Atommüll ebenso eine Warnung sein wie die Atombomben, die den Weltuntergang sehr viel schneller herbeiführen können als die gegenwärtige Ressourcen- und Umweltkrise. Ist der Fortschritt durch Forschung nicht längst ein Mythos, der nur dort Realität wird, wo sich massenhaft Gewinne machen lassen? Es gibt längst eine Disproportion zwischen der mangelhaften Nachhaltigkeit und dem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt, der noch zu sehr im Zeitalter der Nicht-Nachhaltigkeit verhaftet ist und dort für Gewinnmaximierung sorgen soll. Das Beispiel Auto zeigt dies eindringlich. Der heute propagierte Umstieg vom Abgas- zum Elektroauto soll den Erhalt der Autokonzerne sichern, die deshalb keine wirklich nachhaltige Technik in Massenproduktion anbieten können, weil sie zuvor Entwicklungskosten gescheut haben. Das Elektroauto ist von vornherein ein schlechtes Zwischenprodukt, dessen Energiebilanz auf Ökostrom angewiesen ist und dessen Restmüll neben der Ressourcenverknappung bei der Herstellung direkt in neue Sackgassen fehlender Nachhaltigkeit führt.
Diese drei Handlungs- und Denkweisen gelten schon lange. Während noch im 19. Jahrhundert die Intensivierung der Arbeit und die Auspressung der Menschen bis hin zur Kinder- und Sklavenarbeit an Intensität – bis zur Begrenzung durch demokratische Rechte – ständig zugenommen haben, so sind es in der Gegenwart eher die Produktivitätsgewinne, die im Inland wie im globalen Handelsverkehr höhere Gewinne sichern. Die koloniale Strategie, die vor allem den kolonialen und missionarischen Begehrlichkeiten in der Ausweitung des Raums und der Ideenwelten, den der Kapitalismus beansprucht, entspricht, bildet bis heute einen Hintergrund für das Verhältnis der reichen zu den armen Ländern. Nicht nur Rohstoffe wurden enteignet, auch Menschen versklavt, und der Sinn der Unternehmungen wurde als heiliger Krieg gegen die Ungläubigkeit auch stets religiös als gottgefällig ausgelegt. Generell sichert der Zusammenschluss von arbeitsam – Menschen, die die Intensivierung der Arbeit in allen Formen akzeptieren – und religiös missioniert eine Anpassung an die Herrschaftsverhältnisse vor Ort, wie sie typisch für viele auf Wohlstand orientierte Länder wurde. Das Drängen nach materiellem Wohlstand und Überfluss ist dabei stets stärker als die Gedanken daran, was all die Produktion und Ausbeutung der Menschen und Ressourcen für den weiteren Gang der Welt bedeuten.
I.1.2Die soziale Nachhaltigkeit als Dauerthema des Kapitalismus
Die kapitalistische Produktion hat zwei Gesetzmäßigkeiten entwickelt, die die Nachhaltigkeit als Kostenfaktor erscheinen lässt. Für die kapitalistischen Gewinne sind sowohl erhöhte Kosten für sozialere Arbeitsverhältnisse als auch solche zum Schutz der Natur, Umwelt und Ressourcen nicht erstrebenswert. Vor allem hat die Produktionsweise ein Bewusstsein entstehen lassen, das die Vermeidung solcher Kosten auch gar nicht für problematisch hält. Deshalb kann sich an diesem Umstand ohne Kampf nichts ändern. Die Arbeiterbewegung mit Gewerkschaften und sozialen Kämpfen hat sich für die Arbeitenden eingesetzt und geholfen, deren Lage zu verbessern. Für die Nachhaltigkeit