Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich


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werden ausgebaut, Verkehrswege werden zum Transport von Waren und Menschen sowohl auf der Schiene als auch auf der Straße immer weiter entwickelt, es entsteht ein dichtes Netz immer stärker beschleunigter Transportmöglichkeiten. In der Infrastruktur werden Gebäude für Gesundheit, Erziehung, Verwaltung, Kulturrepräsentation und Denkmäler errichtet; Kanalisation, Beleuchtung, Gasversorgung, Elektrizität und Telefon prägen den Ausbau, der heute als selbstverständlich erscheint, aber in der menschlichen Geschichte eine noch junge technische Revolution darstellt. Die Städte entwickeln auch Naherholungsgebiete wie Parks und Freizeitanlagen. Große Teile des Ausbaus erfolgen zunächst unreguliert, später versuchen Bauordnungen mit mehr oder minder Erfolg, den Städten ein Profil zu geben. Insbesondere der Wohnraum der Masse der arbeitenden Bevölkerung ist verdichtet, überbelegt und schlecht ausgestattet. Auch diese Altlasten sind bis in die Gegenwart Teil einer meist vergessenen Nachhaltigkeitsagenda.

       Die Trennung von Herstellungs- und Konsumort

      Bereits Marx hat von einem unheilbaren (metabolischen) Riss gesprochen, der dadurch entsteht, dass die Naturgebrauchswerte, die in der Landwirtschaft produziert werden, vom Ort ihres Konsums getrennt sind. Stadt und Land stehen sich gegenüber, heute durchzieht der Riss auch die globale Produktion. Der Riss bezeichnet vor allem das Bewusstsein der Menschen, die in den Städten eine Verbindung zur Natur und zur Herstellung ihrer Lebensmittel immer mehr verlieren und damit auch den Wert der Natur wie auch den Respekt vor den Tieren und Pflanzen vergessen. Dieser Riss liegt vielen Problemen der Nachhaltigkeit zugrunde (vgl. auch Foster 1999).

       Das Soziale dominiert das Ökologische

      Aber im Hinblick auf die Nachhaltigkeit reicht die soziale Frage einer gerechteren Verteilung zwischen Lohnarbeit und Kapital ohnehin nicht mehr aus. Angesicht der kapitalistischen Arbeits- und Gewinnstruktur bedeutet Nachhaltigkeit Kosten, die niemand eingehen will. Kapital und Lohnarbeit streiten vielmehr um die Verteilung des produzierten Reichtums untereinander, ersetzen die soziale Gerechtigkeit durch Verteilungsgerechtigkeit, was fast immer zuungunsten der Arbeitenden ausfällt. In der Verstrickung dieses sozialen Kampfes aber bleibt für beide Seiten wenig Raum, sich um die Nachhaltigkeit, um das Klima, Ressourcenverschwendung, Müll und andere Krisenfaktoren mehr zu kümmern. Die nicht gelöste Frage der sozialen Gerechtigkeit erweist sich immer wieder als Hindernis im Kampf um mehr Nachhaltigkeit.

       Nachhaltigkeit wird einem Kosten-Nutzen-Denken unterworfen

      Das Kosten-Nutzen-Denken erschwert es in besonderem Maße, Nachhaltigkeit in der kapitalistischen Wirtschaftsweise umzusetzen. Und je mehr das gewinnmaximierende Denken sich in der Wirtschaft in allen Umverteilungen durchsetzt und die Lebensverhältnisse bestimmt, desto schwieriger ist es für nachhaltige Denkweisen und Vorstellungswelten, als sinnvoll und machbar zu erscheinen.

      Der Kostendruck ist bei den Kapitalbesitzern ein Teil der Gewinnstrategie. Sie haben sich darauf eingerichtet, die Löhne möglichst immer relativ niedrig zu halten, die Nachfragen überproportional zu erhöhen; sie streben danach, alle weiteren Kosten im Hinblick auf die billige Natur, weil und insofern es keine Gewerkschaften der Nachhaltigkeit gibt, möglichst ganz zu vermeiden. In den letzten Jahrzehnten haben sich die kapitalistischen Interessen der Gewinnmaximierung im Neoliberalismus breit durchgesetzt, wie Naomi Klein (2008) in ihrer »Schockdoktrin« folgert, indem Regulationen für die Firmen aufgeweicht, soziale Ausgaben gesenkt, große öffentliche Bereiche privatisiert und dadurch verteuert wurden, um letztlich kleinen ökonomischen Eliten zugute zu kommen. Selbst das Klima ist ein Objekt der Spekulation geworden, es blüht ein Derivatehandel, der am Klimawandel Profite generiert. »Neue Wege zu finden, um das Gemeingut zu privatisieren und von der Katastrophe zu profitieren, ist das, wozu unser gegenwärtiges System gebaut ist; auf sich selbst gestellt, ist es zu nichts anderem fähig.« (Klein 2015, 9)

      Immerhin haben Wissenschaften, Kunst und Musik sowie kulturelle Strömungen Ideale entwickelt, die die Ansprüche des Homo oeconomicus überschreiten und andere Möglichkeiten aufzeigen. Wissenschaft, Kunst, Musik, die Kultur in all ihren Facetten, stellen sich seit der Aufklärung oft gegen den Strom der rein ökonomischen Zwänge, gegen die Masse und die Begehrlichkeiten der materiellen Welt, aber sie sind zugleich abhängig von ihnen, weil auch sie durch Arbeit und Entlohnung charakterisiert sind. Nachhaltigkeit gewinnt auch in diesem Bereich erst in der Gegenwart eine größere Bedeutung. Hier zeigt ihre Durchsetzung sich als besonders schwierig, da sie den Freiheits- und Individualisierungswünschen gerade in kreativen Bereichen widerstreitet. Die auch hier erzeugten größeren Fußabdrücke auf der Welt erscheinen als notwendig, weil sie Ausdruck einer Freiheit sind, die sich gegen alle Formen von Begrenzungen und Beschränkungen scheint wehren zu müssen.

      Wissenschaft, Kunst, Musik, letztlich alle kulturellen Tätigkeiten sind auf Austausch und Kommunikation ausgelegt, sie bedürfen Konferenzen, wechselnder Ausstellungsund Spielorte, und damit Reisen, um ihre Wirkung zu entfalten, was dann zu negativen Fußabdrücken führt. So sind gerade auch jene Kräfte, die gegen den Materialismus des Kapitalismus, gegen Konsumwahn und immer mehr Müll und andere Schädigungen streiten können, selbst immer schon Teil eines negativen Fußabdrucks. Damit erschwert nicht nur das Kosten-Nutzen-Denken die Nachhaltigkeit, sondern alle Formen menschlicher Arbeit und Unterhaltung zeigen eine mehr oder minder schädigende nachhaltige Bilanz.

       Katastrophenbeurteilung anhand des Bruttosozialprodukts

      Das Bruttosozialprodukt hat sich im Kapitalismus als Beschreibungsform des erreichten Wohlstands wie der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems durchgesetzt. Dieses auch als Bruttonationaleinkommen bezeichnete Konstrukt misst den Wert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Nation geleistet werden. Es misst dabei auch das erwirtschaftete Einkommen und den Besitz der Inländer, ganz gleich, ob sie diesen im Inland oder Ausland erworben haben. Auch wenn Veräußerungsgeschäfte hierbei nicht erfasst werden, so ergibt sich eine Kennziffer für das Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft. Es handelt sich um einen ziemlich illusionären Wert, denn in ihn gehen alle materiellen Werte ein, die einen Erlös einbringen. Das können neue Waren sein, aber auch Dienstleistungen aller Art bis hin zu den Kosten von Gefängnissen, Militärausgaben, dabei Umweltkosten ebenso wie Gelder, die für die Umweltzerstörung ausgegeben werden. Was der Wert nicht aussagt, dass ist die Verteilung des in ihm steckenden gesellschaftlichen Reichtums, er nennt nur eine Zahl, die im Vergleich der Länder eine Bedeutung hat, um deren Wirtschaftskraft gegenseitig einzuschätzen. Deshalb wird auch nicht gezielt die Wohlstandsverteilung gemessen, sondern nur ein Wert über alle und alles.

      Mit diesem Wert kann ökonomisch sehr viel Täuschung betrieben werden. Im sozialen Bereich deutet eine Erhöhung zwar auf ständig steigenden Wohlstand hin, aber dieser fällt dann recht unterschiedlich für die Menschen aus. Zudem gehen hier Werte mit ein, die für die Lebenszufriedenheit eher bedrohlich als förderlich erscheinen, wie es bei Militärausgaben der Fall ist. In Bezug auf Nachhaltigkeit führt der Wert auch zu Fehleinschätzungen, weil Kosten für die Entsorgung von Atommüll, die Förderung fossiler Energien – sei es auch in der Kompensation der Schließung der Braunkohleförderung – oder die ständig wiederkehrende Förderung des Automobilabsatzes falsche Anreize setzen und dennoch das Bruttosozialprodukt erhöhen.

      Wenn heute der Weltklimarat davon spricht, dass Umweltkatastrophen größeren Ausmaßes drohen, so werden meist mehrere vor allem ökologische Kipp-Punkte identifiziert. Voraussehbar sind der Verlust des Eises der Antarktik, das Schmelzen des Grönland-Eisschildes, eine Reorganisation der thermischen Ströme im Atlantik, ein verstärktes Auftreten des El Niño in den Meeresströmungen des Pazifiks, Veränderungen des Monsuns, die Vernichtung des Regenwalds, Veränderungen in der Tundra, beim Permafrost, Absinken des Sauerstoffgehalts der Meere und deren Übersauerung, Zunahme des Ozons in der Atmosphäre. Dies sind ausgewählte wichtige Faktoren, deren Ausmaß zu Kipp-Punkten führen können, die eine ganze Reihe von kaum kontrollierbaren weiteren Effekten hervorrufen. Aber bei all diesen Erscheinungen und wahrscheinlichen Modellierungen möglicher Wirkungen verbleiben die naturwissenschaftlichen Messungen und Voraussagen für die konkreten Lebenslagen meist zu abstrakt,


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