Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich


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Zeit erschien, so blieb diese im Grunde oberflächlich. So machte es für die Olympischen Spiele in der griechischen Antike keinen Sinn, etwa Zeiten zu messen, Weiten zu bestimmen oder objektive Leistungslisten im Sinne von höher, weiter oder schneller zu führen, weil es in jedem Ereignis und Spiel nur um eine Situation mit einem konkreten Gewinner ging. Der griechische Begriff scholé, der heute in »Schule« erscheint, bedeutete Muße und war ein Konzept der Entschleunigung und des Gesprächs (vgl. Welskopf 1962), das war eine ganz andere Art der longue durée. Die Moderne transformierte solche Muße in eine strikte Ordnung von Kosten und Nutzen mit zunehmender Beschleunigung. In ihr beginnt schon seit dem 15. Jahrhundert mit vielen lokalen Unterschieden und etlichen Vorformen ein Zeitalter der Uhren, des Messens nicht nur von Zeiten in allen Formen, sondern auch eine Vermessung der Welt, die später dann auch den Makro- als auch den Mikrokosmos einschließt (vgl. Cipolla 1978). Dies führt nicht nur dazu, dass die Zeit immer effektiver genutzt und dabei in der Schnelligkeit der Verrichtungen beschleunigt werden soll (Whitrow 1988), sondern auch, dass die Räume verdichtet und schneller durch ein Netz von Verkehrswegen zugänglich werden. Die Natur, die entgegensteht, wird verändert und an die beschleunigten Bedürfnisse angepasst, die »schöne« Natur in die Zauberwerke der Gartenkunst verwandelt. Es ist kein Wunder, dass die Romantik genau dann als Sehnsucht auftrat, als der Kosten-Nutzen-Mechanismus dominanter wurde.

      Zeit und Raum werden über Geschwindigkeit gekoppelt. Dieser Prozess wird als Wachstum verstanden: äußerlich als steigende Produktion, steigender Gewinn, Ausbreitung des Kapitalismus; innerlich als ein Zwang zur Selbstverwirklichung, Steigerung der Leistung, Durchsetzung. Der Planet Erde wird erkundet, erobert, vermessen, die Zeit erscheint wie ein gemeinsamer Plan, der alle Aktionen strukturiert und ihnen eine Bedeutung gibt. Die Geschichte der Zivilisationen, wie wir sie heute verstehen, ist ein Konstrukt aus diesem Wandel. Die Welt wird dichter und enger, die Zeit vergeht schneller und schneller, weil sie in Geld verwandelt werden kann und über kurz oder lang in das Muster »Zeit ist Geld« verdichtet wird.

      In den historischen Beschreibungen über die Entwicklung der Moderne seit dem Zeitalter der Renaissance und mit Brücken in das Mittelalter haben zahlreiche Analysen gezeigt, wie die Beschleunigung von Zeit als Intensivierung der Zeitnutzung und der Einsatz von Maschinen als Produktivitätssteigerung alle Arbeitsprozesse ergreifen und gleichzeitig den Raum zergliedern, ordnen, in Manufakturen und später Fabriken verwandeln. Zeitgleich schreitet die Privatisierung der Eigentumsrechte als eine ursprüngliche Akkumulation der Reichtümer voran und teilt die Welt in eine besitzende Unternehmerschaft und eine relativ besitzlose Masse auf. Es entstehen Märkte, auf denen die Arbeit gegen Lohn und Geld gegen fast alles getauscht werden können

      Beobachtbar wird dies äußerlich an der Flächennutzung der Umwelt. Zuerst werden die nationalen Flächen immer stärker als Gewerbe- und Privatflächen erobert und aufgeteilt, dann werden Übergriffe auf die restliche Welt und ihre Flächen und Ressourcen in Gang gesetzt, um den Hunger nach neuen Produktionsstätten, Rohstoffen, aber auch besseren Wohnlagen und statusbezogenen Bauten zu verwirklichen. Zu Beginn der Moderne und in der Entfaltungsphase der kapitalistischen Produktion erscheint die Welt als unendlich groß und frei verfügbar, die Zeit im individuellen Leben ist begrenzt und soll effektiv genutzt werden. Kriege und Konflikte eröffnen dies mit Gewalt und Eroberung, Märkte mit ungleichen und ungerechten Tauschhandlungen.

      Aber auch innerlich wird erkennbar, wie die Ordnung in symbolischen Leistungen als Spiegelung des Wirtschaftens zunimmt. »Die Buchhaltung verwaltet Ereignisse, indem sie diese selektiv in verschiedenen Registern – Memorial, Journal, Hauptbuch – aufschreibt und nach Gewinn und Verlust sortiert. Aufgezeichnet werden die Ereignisse auf der Achse der Zeit und innerhalb von bestimmten, für alle Ereignisse gleichermaßen gültigen Zeiteinheiten. Eine solche Notationstechnik sichert Kontinuität und ist damit erst die Voraussetzung einer Wachstumserfahrung.« (Welzer 2011, 19)

      Die Leitfigur des Wachstums ist der Wohlstand, ein zunehmender Überfluss, der sich als Reichtum darstellt. »Produktiv diesem neuen Verständnis nach ist ein Reichtum, der die Bedürfnisse aller übersteigt; und produktiv ist eine Arbeit, die nicht mit der Stillung eines Bedürfnisses endet.« (Vogl 2008, 338) Für Vogl (2010) entsteht hierdurch eine ständige Selbstüberschreitung aller Grenzen der Lebensweise, Streeck (2016) sieht Anzeichen, wie dadurch der Kapitalismus an sein eigenes Ende geführt wird; Welzer (2011, 24) folgert hieraus: »Und genau in dieser Gestalt geht Arbeit in die nationalökonomische Theoriebildung ein: als eine in sich unbegrenzte endlose Tätigkeit, die kein spezifisches, abgegrenztes, im Produkt aufgehobenes Ziel hat, sondern der unablässigen Schöpfung von Wert dient – mithin der nie endenden Produktion von ›Wachstum‹. Diesen Vorgang hat Marx mit dem Verschwinden der konkreten Arbeit im Tauschwert bezeichnet. So wie die Arbeit damit unaufhörlich wird, so wird jeder Augenblick im Leben, jede Stufe im Lebenslauf, jeder Euro auf dem Konto lediglich zur Vorstufe jedes nächsten Abschnitts, jedes weiteren Euro. Und das Selbst ist in jeder Biografie immer nur Vorstufe eines Selbst, das noch Weiteres zu erreichen hat.« Da die Gewinne in der Regel nicht mit der, sondern gegen die Nachhaltigkeit gemacht werden, führen die Steigerungen zu immer größeren Überschreitungen der planetaren Grenzen.

      Die Zeit der schweren Moderne, die Industrialisierung, ist eine Zeit großer historischer Veränderungen, von Brüchen, Krisen, Reformen und Revolutionen. Die historische Lösung, so sagt Bauman (2000 b), kennt im Grunde nur zwei mögliche Antworten, um die dabei entstehenden Konflikte im Überleben der Menschen zu bewältigen: Revolutionen als grundsätzliche Veränderung der Ausgangspositionen oder die Entwicklung eines Wohlfahrtsstaates.

      Der erste Weg wurde in lang andauernden sozialen Kämpfen bis hin zu den sozialistischen Ländern beschritten, wobei weder die hohen Ziele sozialer Gerechtigkeit noch zunehmenden Wohlstands für alle bisher erreicht werden konnten. Der zweite Weg wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für die Industrieländer erfolgreich und mündete in die Aufteilung der Welt nach Wohlstands- und Überflussgesellschaften und einen Rest, der große Teile der Menschheit in Armut und Not gelassen sieht.

      Das Zeitalter der großen Industrie ist zugleich ein Zeitalter der Ordnungssuche, in dem kontinuierlich Fortschritt festgehalten und überprüft wird. Diese Ordnung ist nicht natürlich, sondern sie wird gesellschaftlich konstruiert und produziert, sie bildet wie selbstverständlich einen Lebenshintergrund, auf den die Menschen bewusst und intentional zurückgreifen (vgl. Bauman 1993, 4 ff.). Ordnungen entstehen dadurch, dass wir sprachlich in Regeln festhalten, wie wir leben und wie die Dinge unseres Lebens bewertet werden sollen. Sie gehen in die Vorstellungen der longue durée ein. Dabei gelten Ein- und Ausschlüsse, mit denen wir eine Ordnung erzeugen: Besitzend oder besitzlos, reich oder arm, privat oder öffentlich, effektiv genutzte oder verschwendete Zeit, geschützte Wohlstandsgegend oder unsicherer Vorort sind einige dieser Verständigungsleistungen, die etwa festhalten, was in einer Leistungsgesellschaft als Erfolg und was als Misserfolg zu bewerten ist. Als erfolgreich werden im Industriezeitalter allgemein Klarheit der Ziele, Transparenz der Wege, Kontrollierbarkeit der Handlungen, Voraussagbarkeit der Ergebnisse angesehen.

       Der Fordismus als Prototyp kapitalistischen Erfolgs

      Der Fordismus (abgeleitet vom Autofabrikanten Henry Ford), die schwere Industrie und ein »schwerer Kapitalismus«, in dem Kosten und Gewinne klar überprüft werden können, um wachsende Ergebnisse zu erzielen, sind Prototypen einer solchen Moderne. Ihre Bauruinen oder Baudenkmäler mahnen uns heute, dass man in solcher Industrie noch nicht an die Hinterlassenschaften der Produktion und des Konsums dachte: Schadstoffe, Verunreinigungen, Zerstörung ganzer Ökosysteme, das waren immer Begleiterscheinungen der schweren Industrie, wie sie heute im Ruhrgebiet oder im Rust Belt in den USA besichtigt werden können.

      In der kapitalistischen Entwicklung bilden die maschinelle Produktion und der wissenschaftlich-technische Fortschritt Bedingungen, um eine schwere, solide und dynamische Moderne zu gestalten. Sie ist schwer, weil sie in Manufakturen und später Fabriken mit großer Maschinerie konstruiert wird, sie ist solide, weil ihre Materialien gebaut, verschraubt, meist unbeweglich und nur mit Aufwand zerstörbar sind, sie ist dynamisch, weil sie auf festem


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