Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2 - Kersten Reich


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Gewinn entsteht für den Kapitalisten, wenn er die Lohnarbeit kauft, sie auf seinem Land, in einer Werkstatt oder Fabrik mit Arbeitsmitteln aller Art beschäftigt, um bestimmte Waren herzustellen, und dabei am Ende mehr auf dem Markt, wiederum abhängig von Angebot und Nachfrage, einnimmt, als die Räume und Arbeitsmittel und die Lohnarbeit kosten. Das Bestreben dieses Kapitalisten geht dabei bis heute dahin, diese Kosten möglichst zu senken. Kosten für Nachhaltigkeit gehören stets zu den für die nähere Zukunft unproduktiven Kosten, und es liegt daher nie im Interesse des Kapitalisten, nachhaltig vorzugehen. Sein Interesse richtet sich auf die Kosten, die er gezielt senken kann. Der Gewinn für die Lohnarbeiterinnen muss immer erst erkämpft werden, der erhoffte Aufstieg kann erst dann ansatzweise befriedigt werden, wenn der Wohlstand anwächst und der Staat eine soziale Sicherung übernimmt.

       Gewinnmaximierung durch eine Vielfalt von Mehrwerten

      Der Kapitalismus setzt auf Kapitalverwertung, wo etwas ist, da soll mehr entstehen. Mehrwerte sind das ständige Ziel, auch wenn sich unterschiedliche ökonomische Theorien fundamental darüber streiten, wie solche Mehrwerte gewonnen werden. Im Ergebnis bleibt für alle ungeachtet der Interpretationen immer ein Resultat übrig: Einige Menschen, die bereits etwas besitzen, lassen anscheinend ihr Geld »arbeiten« oder »anwachsen«. Sie erwirtschaften auf scheinbar geheimnisvolle Weise Gewinne, die sich ständig vermehren. Die Logik kann unterschiedlich rekonstruiert werden, die Welt der ökonomischen Beziehungen durchdringt in der gegenwärtigen longue durée alle Lebensverhältnisse. Für Marx entspringt der Mehrwert aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, aber heute gibt es Konstruktionen, die eine Vielfalt der Mehrwertproduktion auch durch Angebot und Nachfrage, Illusionierung, Täuschung und Betrug oder parasitäre Gewinne zulassen (so Reich 2018 a). Hornborg (2019) erklärt sie schlicht zu einer allgemeinen Wirkung des Geldes.

      Im Zeitalter der Börsen und Aktienmärkte, der Blasen und Spekulationen, vermehren sich Kapital und Geld deutlich schneller als die materiellen Besitztümer, in die sie verwandelt werden können. Zwischen Geld und Kapital auf der einen und der Natur und materiellen Welt auf der anderen Seite wachsen Widersprüche an. »Die physische Funktionsweise des Energiesystems, zum Beispiel – von der Förderung bis zur Emission von Treibhausgasen –, folgt einer Logik, die ganz anders als die des Kapitals ist. Die Zirkulation von Werten und die Transformation von Gebrauchswerten sind zwei Seiten des doppelten Charakters des kapitalistischen Reproduktionsprozesses. Aber sie sind verschieden. Die eine ist immateriell, die andere materiell und substanziell. Die eine folgt der Logik der Zirkularität (das Kapital muss zum Kapital zurückkehren), die andere hat kumulative Effekte – so ist beispielsweise das CO2 in der Atmosphäre seit dem 19. Jahrhundert rapide angestiegen … Im Bergbau hat die Rohstoffgewinnung einen ›negativen Kumulationseffekt‹: Zuerst kommt der Höhepunkt der Förderung, aber schließlich bleibt nur ein ›schwarzes Loch‹ übrig.« (Altvater 2016, 148)

      Diese doppelte Logik ist eine marxistische Konstruktion, die zu begreifen helfen will, wie das Verhältnis von Tausch- und Gewinngeschäften in der Marktgesellschaft und in natürlichen Umweltverhältnissen mit- und gegeneinander wirken. Doch der Gegensatz von materieller »Natur« und immateriellen Tauschhandlungen ist so einfach nicht. Immateriell erscheint die Tauschhandlung auf den Märkten im Sinne der Logik der Mehrwertproduktion, aber sie wird materiell im Sinne der Geldwerte zurückverwandelt. Insoweit mischen sich auf den Märkten schnell die materiellen und immateriellen Perspektiven und die damit zusammenhängenden Ereignisse. Der Kapitalbesitzer erhält immer mehr als der Lohnarbeiter, der Geldbesitzer oder Immobilienbesitzer zieht Renditen aus dem, was er besitzt und durch Privateigentum auf verschiedenen Märkten vermarkten kann. Angebot und Nachfrage auf den Märkten lassen die Preise und möglicherweise die Gewinne schwanken, aber wer keinen Preis für sich aufrufen kann, der wird immer leer ausgehen. Altvater erinnert in diesem Sinne, dass die Kosten-Nutzen-Denkweise des Kapitals eine Rationalität der Gewinnmaximierung darstellt, die für den Umgang mit der Natur weder die räumlichen noch zeitlichen Dimensionen der äußeren Wirkungen einbezieht. Das Kapital orientiert sich ausschließlich an seiner Zins- und Profitrate (ebd.). Damit bleibt das Kapital doppelt gefährlich für die Natur: Im Produktionsprozess ist es aus Gewinngründen rücksichtslos gegen jegliche Nachhaltigkeit, die ihm nur politisch aufgezwungen werden kann, und bei den Gewinnen sind die Wirkungen im Lebensstil dann umso weniger nachhaltig, je reicher die Menschen sind.

       Beschleunigung der Arbeit

      Die Industrialisierung hat vor diesem Hintergrund vor allem zwei Wege der Beschleunigung gefunden:

      (1) Die Intensivierung der Nutzung einer gegebenen Zeit. Die Zeit wird insbesondere in der Arbeit »verkürzt« und intensiviert, indem die Arbeitenden mehr in bestimmter Zeit durch schnelleres Arbeiten zu leisten haben. Arbeit wird vor diesem Hintergrund organisiert, indem Zeit und Raum in eine eindeutige Ordnung gebracht werden. Es ist die Wechselwirkung aus Beobachtung und Handlungen, aus Intensivierung der Abläufe, um in gleicher Zeit mehr herzustellen, und aus Techniken, die es ermöglichen, in gleicher Zeit mehr zu produzieren, was die Produktion steigern lässt, um aus vielen einzelnen Bewegungen Muster effektiver Handlungen zu erzeugen. Je mehr dies auf der materiellen Seite gelingt, desto stärker scheinen fast alle Ereignisse beherrschbar zu sein. Wir erschaffen mehr Waren in bestimmter Zeit, wir arbeiten intensiver, lernen mehr, reduzieren Entspannung und Erholung. In der Intensivierung der genutzten Arbeitszeit können mehr Waren in kürzerer Zeit hergestellt werden, der Gewinn kann also gesteigert werden. Dies ist zunächst immer die leichteste Form der Gewinnsteigerung. Sie hat zur Folge, dass die Zeiteinteilung, die Länge des Arbeitstages, die Intensität der körperlichen und geistigen Beanspruchung gesteigert werden, aber die notwendige Erholungszeit der Arbeitskraft und Vorkehrungen zum Schutz der Arbeitssicherheit und Gesundheit kleingehalten werden. Die Arbeit wird durch den Takt der Maschinen gesetzt, der Mensch durch die Abläufe diszipliniert, und ein Überwachungssystem in strikter Hierarchie mit unmittelbaren Konsequenzen bei Nichteinhaltung der erwarteten Normen reguliert das erwartete Tempo. Zeit wird in der Moderne grundlegend in Geschwindigkeit verwandelt und zu einer Politik der Geschwindigkeiten (Virilio 2008); für die Gesundheit der Arbeitenden wirkt diese Richtung oft umfassend schädigend. Auch die Intensität der Nutzung der Böden oder der Produktionsstätten ist nicht auf Nachhaltigkeit, sondern vielmehr auf Abnutzung, Verschmutzung und langfristige Schädigung ausgelegt, denn den intensiven Beanspruchungen stehen in der Regel keine Maßnahmen zur Rekultivierung oder Reparatur gegenüber. Zudem hilft die Serialität der Produktion, Waren in ungeheuren Mengen zu produzieren, deren kurze Nutzung dann zu Müll und weiteren Schädigungen der Umwelt führt. Insgesamt umfasst die Intensivierung sowohl den Menschen als Angriffspunkt einer Generierung von mehr Output in bestimmter Zeit als auch die äußere Natur als Angriffspunkt einer Intensivierung der Ausbeute von Ressourcen und der Verschlechterung der Umweltbedingungen. In der kapitalistischen Buchhaltung gibt es zunächst kein Instrument, das die billige Natur mit Folgekosten in die Kosten-Nutzen-Rechnung einführt. So wie der Arbeitsschutz und ein Kranken- und Gesundheitssystem die Intensivierungslasten der Arbeit auffangen müssen, so müsste ein Umweltsystem regulierend eintreten, um das Ausmaß kapitalistischer Praktiken zu begrenzen. Beides kann nur gegen den Widerstand der Mehrwertproduktion und Kostenvermeidung erreicht werden.

      (2) Die Arbeitsproduktivität kann durch noch schnellere und effektivere Maschinen in Verbindung mit menschlicher Arbeit nochmals eine größere Steigerung der Waren- und Wertzuwächse erzielen. Die Erhöhung der produktiven Zeit durch den Einsatz von Hilfsmitteln, Werkzeugen, Maschinen lässt die gegebene Zeit effektiver nutzen, indem Wergzeuge, Geräte, Maschinen, Computer usw. die Arbeit und teilweise sogar das Lernen (vor allem durch arbeitsteilige Wissensspeicherung) verrichten. Die Verbesserung der Produktivität der genutzten Zeit ist auf längere Sicht noch erfolgreicher als die Intensivierung. Kraft und Schweiß einer intensiven Arbeit werden hier durch die Hardware der festen Moderne ersetzt, was im Rahmen des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts zu einem Antrieb für immer neue Erfindungen und Anwendungen in eine Konkurrenz der erreichbaren Geschwindigkeiten führt. Die Beschleunigung bestimmt die Arbeitsabläufe; die Zeitmessungen und Überwachungen der Abläufe werden selbst zu Faktoren der Produktivitätssteuerung. Nicht nur das Zeitkonzept wird ständig an die nimmersatte Erhöhung der Produktivität,


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