Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 2. Kersten Reich
fehlender Nachhaltigkeit als Grenzen des Wachstums aufmerksam zu machen. Und da die Umwelt Kosten verursacht, die auch die Arbeitenden unmittelbar zu spüren bekommen, weil es ihren Kampf um höhere Löhne beeinflusst, ist für die Arbeiterbewegung oder das, was von ihr heute noch geblieben ist, die Nachhaltigkeit auch eher ein sekundäres und durchgehend problematisches Thema. Denn auch die Arbeitenden haben erkannt, dass die ihnen durch Nachhaltigkeit aufgeladenen Kosten den erkämpften Wohlstand schmälern werden.
Die ökologische Kritik setzt am kapitalistischen Verwertungsdenken an, das immer nur die Kosten der Nachhaltigkeit fokussiert (etwa Karathanassis 2003, 2015, Altvater 2007). Das mag für die Kritik der Gewinnmaximierung sinnvoll sein, aber ich möchte hier grundsätzlicher fragen, wieso gerade in den Kämpfen der kapitalistischen Arbeitswelt zwar die soziale Frage um gerechte Entlohnung, um mehr Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit immer betont wird, aber die Nachhaltigkeit als relevantes Thema erst spät entdeckt und bis heute eher verharmlost wird. Insbesondere die Sozialdemokratie tut sich schwer damit, den sozialen Kampf mit dem Kampf um Nachhaltigkeit zu verbinden.
Soziale Gerechtigkeit als Dauerthema
Wenn die Arbeit der Antrieb der kapitalistischen Moderne ist, so ist die Frage der sozialen Gerechtigkeit der Entlohnung und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum eine notwendige Folge. Wie gerecht sind die Löhne, wie groß ist der Abstand zu den Gewinnen, wer trägt die größeren Risiken? Die soziale Nachhaltigkeit ist für die Mehrheit der Gesellschaft, aber insbesondere für die untere Klasse, ein Dauerthema im Kapitalismus.
Qualifikation und Dequalifikation von Arbeitskräften sind dabei zwei dominante Tendenzen im Kapitalismus, und sie bilden ein Spannungsverhältnis, das sowohl die Arbeitenden im kapitalistischen Unternehmen nach Einstufung und Entlohnung als auch alle Heranwachsenden nach Selektion und Aufrückung unterscheidet. Einerseits hat die Anzahl an Arbeitskräften zugenommen, die immer stärker qualifiziert werden müssen, um mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und den Anforderungen Schritt zu halten und diese auch fortzuentwickeln. Andererseits bleiben in großen Teilen der Produktion und vor allem auch in wachsenden Dienstleistungsbereichen einfache Tätigkeiten erhalten, oder es entstehen neue, in denen möglichst billige und gering qualifizierte Arbeitskräfte benötigt werden. Die Qualifizierung selbst ist ein Risiko, das auf die Arbeitenden abgewälzt wird, denn es ist allein ihnen überlassen, sich vor der Suche einer Arbeit so zu qualifizieren, dass sie überhaupt gebraucht werden, hinreichend dafür ausgebildet sind und hinreichend produktiv erscheinen. Hinzu kommt, dass der einmal Qualifizierte nie Gewissheit hat, ob er morgen nicht zu den Dequalifizierten gehören wird.
Risiken und Chancen sind ungleich verteilt
Generell gibt es im Kapitalismus kein Recht auf Arbeit, sodass die Risiken bei Verlust eines Arbeitsplatzes bei den Arbeitenden selbst liegen oder bedeuten, auf niedrigere Tätigkeiten angewiesen zu sein, um überhaupt ein Einkommen zu erzielen. Die Risiken auf Seiten der Unternehmen werden gern dramatisiert, da durch Investitionen, die sich nicht rentieren, große Vermögen verloren gehen können. Aber in der Geschichte des Kapitalismus zeigt sich ein enormer Erfindungsreichtum, die rechtliche Vermögenshaftung durch Firmenkonstruktionen in der persönlichen Haftung zu begrenzen. Insoweit mag der Maßstab der Risiken nach der Höhe des Verlustes zwar sehr unterschiedlich ausfallen, aber das Risiko für das Überleben ist bei der ärmeren Klasse deutlich höher. Deshalb springt der Staat als Risikoagentur im Laufe der Zeit auch ein, wobei durch Steuereinnahmen von den Löhnen die Arbeitenden als Masse proportional deutlich höher als die Reichen belastet werden.
In den Anfängen war der Kapitalismus vielfach durch Teilarbeiten bestimmt, in denen die Arbeitenden jeweils spezialisierte Tätigkeiten in meist seriellen Fertigungen ausführten. Im Handwerk und anderen Berufsbildern gab es allerdings auch eher ganzheitliche Arbeiten, die auf bestimmte Arbeitsfelder oder Dienstleistungen ausgerichtet waren. Die Arbeitsverhältnisse tragen vor diesem Hintergrund einen grundsätzlichen Widerspruch in sich: Einerseits benötigt eine Vielzahl von Arbeiten und Nutzungen eine zunehmende Qualifizierung der Menschen, um der wachsenden hohen Geschwindigkeit, der Komplexität und Technologie sowie den Kooperations- und Kommunikationsformen, die damit verbunden sind, zu entsprechen. Andererseits gibt es immer noch eine Vielzahl dequalifizierter Arbeiten, die nur geringe fachliche Voraussetzungen benötigen. Auffällig ist, dass die Industrieländer in ihrer Entwicklung immer mehr qualifizierte Arbeiten benötigen, weil die dequalifizierten Arbeiten in Billiglohnländer verschoben werden. Dies aber führt in den Industrieländern zu neuen Widersprüchen: Wo früher die qualifizierte Arbeit durch den Einsatz einer hohen Lernbereitschaft zu einem relativ sicheren Lohn oder Einkommen führte, da kann sie heute durchaus auch in Arbeitslosigkeit wegen eines Überangebots an qualifizierten Arbeitskräften enden. Die dequalifizierte Arbeit hingegen, die auf Unterqualifizierung beruht, ist besonders problematisch, weil diejenigen mit den schlechten Abschlüssen bereits jung in eine Dauerarbeitslosigkeit oder Verfügbarkeit für prekäre Tätigkeiten entlassen werden.
Die soziale Reproduktion der Erfolgreichen
Die Welt der im System erfolgreichen Menschen ist dabei an Klassifizierungen gebunden, die als symbolische Formen einer Zuweisung von Eintritten und Aufrückungen in die Arbeitswelt gelten. Wesentlich sind die Abschlüsse aus Erziehung und Bildung, die in der sozialen Reproduktion eng mit den Vorteilen einer bereits gebildeten oder begüterten Familie verbunden sind. Hinzu tritt die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der als Besitzstand nicht nur die mögliche Zeit für eine Ausbildung erlauben kann, sondern auch den Wohnraum und den Wohnort stellt, der Gewicht und Macht in der Konkurrenz mit anderen verleiht. Die Schwachen sind weniger geschützt, ihre Orte sind unsicherer, ihre Lebensverhältnisse sind offener für Eindringlinge von innen und außen, ihr Leben kann leichter willkürlich neu geordnet und verändert werden.
Die Arbeitswelt hat ein Nachhaltigkeitsproblem
Verausgabte Zeit, so ist es im Alltagsbewusstsein der Moderne verankert, erzeugt Lohn und Einkommen. Zeit erzeugt aber auch Kosten, sofern sie von Tätigkeiten abgezogen werden muss, weil der Haushalt zu führen ist, die Kinder zu erziehen sind oder die freie Zeit gelebt sein will. So ist die Arbeitszeit von der Freizeit unterschieden, obwohl die Menschen auch in der freien Zeit arbeiten. Hier zeigt sich die gesamte kapitalistische Situation auf einen Blick: Es ist nicht die Zeit des Arbeitens, die den entscheidenden Unterschied setzt, sondern für wen und was der Mensch arbeitet. Vor diesem Hintergrund gibt es wichtige Aspekte, die zum Grundwissen der kapitalistischen Lebensweise gehören (obwohl sie kaum in den Schulen unterrichtet werden):
Die Arbeitsteilung erhöht den stofflichen, materiellen Reichtum und die Produktivität einer Gesellschaft. Dies schafft Chancen, sowohl qualitativ wie quantitativ mehr Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Voraussetzung ist die Entwicklung zielgerichteter, organisierter, mehr oder minder planmäßiger Arbeit, die sowohl eine fremde als auch eigene Beurteilung, Überwachung, Bewertung und Selbststeuerung aller Tätigkeiten bedingt. War früher die Aufteilung in körperliche und geistige Arbeit für die Lebenschancen entscheidend, so ist es heute das Spannungsfeld zwischen Spezialisierung mit enger Verwendbarkeit und nachfragebezogener Qualifikation mit zeitlicher Konjunktur. Solche Arbeitsteilung wirkt auch auf das Lernen, die Erziehung und Bildung umfassend ein, wozu eine allgemeine Bildung und berufsspezifische Ausbildungen gehören, aber heute treten immer mehr Konzepte lebenslangen Lernens hinzu, um je nach Nachfragelage umzulernen, umzuschulen und weiterzubilden.
Dies setzt nicht nur fachliche Qualifikationen im Blick auf unterschiedliche Arbeiten voraus, sondern auch Aufmerksamkeit, Konzentration, Durchhaltevermögen, Zeitmanagement und vieles mehr, die jeweils Arbeiten und Nutzungen begleiten. Die Entwicklung und Differenzierung dieser Arbeiten und Nutzungen in der Geschichte des Kapitalismus bis heute geht mit einer steten Erhöhung der Qualifikationen breiter Bevölkerungsschichten einher. Dabei ist eine deutliche Zunahme höherer Qualifikationen vor allem in den letzten Jahrzehnten zu beobachten, wobei daraus keine automatische Erhöhung der Löhne, sondern vor allem eine Erhöhung der gegenseitigen Konkurrenz folgt.
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