Herrschaft der Angst. Imad Mustafa
wo sich Menschen Herrschaft und Angst widersetzten. Die Zeichen dafür mögen schon einmal besser gestanden sein. Denn eine Linke (wie wir sie in diesen vergangenen Monaten erleben), die in der schärfsten gesellschaftlichen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg dazu aufruft, den bürgerlichen Staat zu schützen, ja seine autoritäre Ausprägung zu übertreiben, hat ihren Anspruch auf Opposition verwirkt. Aber damit ist nur gesagt, dass emanzipatorische Positionen gegen die Herrschaft der Angst heutzutage von einigen wenigen vertreten werden. Unser Buch dokumentiert eine Auswahl dieser Stimmen. Auf dass sie mehr werden.
Wien, im März 2021
Hannes Hofbauer und Stefan Kraft
Moshe Zuckermann:
Geschichte, Angst und Ideologie 1
Der Konnex von Politik und Angst darf als axiomatisch gelten. Von jeher basierte die Machtausübung auf einem gewissen Maß von Angst derer, die sich der Herrschaft unterwarfen. In der Neuzeit war wohl Thomas Hobbes der erste, der diese inhärente Verbindung prägnant auf den Punkt brachte: Die durch einen fundamentalen ökonomischen Mangel hervorgerufene Gleichheit im Naturzustand schafft eine durch permanente Unsicherheit und gegenseitiges Misstrauen gekennzeichnete Realität, die zwangsläufig in den »Krieg eines jeden gegen jeden« führen muss, einen Krieg, der fortwährt, solange die Menschen »ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht« leben. Hobbes beschreibt diesen Krieg als einen Zustand beständigen Schreckens, in dem das menschliche Leben »einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« sei; nicht von ungefähr zählt er unter den verschiedenen Ursachen für das notgedrungene Übereinkommen der Menschen, sich jener »allgemeinen Macht« zu unterwerfen, die entscheidendste – »was das Schlimmste von allem ist« –, nämlich die »beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes«.2
Diese Auffassung des notwendigen Übergangs vom Naturzustand in den Zustand herrschaftlicher Souveränität diente Hobbes zur philosophischen Legitimation der absoluten Monarchie – eine mögliche, wenn auch keineswegs zwingende Folgerung, wie sich alsbald an Lockes und späterhin Rousseaus politischer Philosophie erweisen sollte. Gleichwohl erfasste Hobbes das Wesentliche: die zivilisatorische Verkettung von Politischem mit Angst. Hobbes’ Lehre bezog sich allerdings auf die reale Angst, die rational nachvollziehbare, vom Überlebensinteresse geleitete Reaktion des Geängstigten angesichts einer wirklichen Bedrohung: jeder Mensch im Hobbes’schen Naturzustand ist in der Tat durch jeden anderen potenziell bedroht. Dies sei hervorgehoben, denn mittlerweile hat der Angstbegriff eine wesentliche Modifikation erfahren, nämlich die von Freud vorgenommene Unterscheidung zwischen Realangst und neurotischer Angst. Realangst begreift Freud als »eine uns begreiflich scheinende Reaktion auf die Gefahr, d. h. auf erwartete Schädigung von außen«, wohingegen die neurotische Angst als »durchaus rätselhaft, wie zwecklos« erscheinen mag.3 Freud unterscheidet demnach zwischen der sogenannten »Signalangst«, die der Wahrnehmung realer Gefahren und der Möglichkeit, ihnen durch adäquates Verhalten zu entgehen, dient, und der neurotischen Angst, einer trügerischen, dem Menschen imaginäre Gefahren vorspiegelnden Täuschung. Die Bereitschaft, sich einer solchen Täuschung hinzugeben, erklärt sich für Freud damit, dass sie uneingestandene, von frühen Kindheitserlebnissen herrührende emotionale Bedürfnisse zu befriedigen vermag.4
Die sich auf Freud berufende Psychoanalytikerin Thea Bauriedl postuliert einen Zusammenhang zwischen der individuellen und der allgemein-politischen Dimension der Angst. Die Angst sei sowohl in der Politik als auch im persönlichen und psychotherapeutischen Rahmen immer dann »neurotisch« bzw. gefährlich, wenn sie verschoben ist, d. h., »wenn das als angstauslösend erlebte Objekt nur deshalb gefürchtet wird, weil man sich vor ihm scheinbar gefahrloser fürchtet als vor der eigentlichen Angstquelle«. Die eigentliche Angstquelle sei aber immer die zugrunde liegende Konfliktsituation. Für den neurotischen Vorgang der Verschiebung von Angst oder der Projektion von Gefährlichkeit gebe es sowohl in der Politik als auch in der Psychopathologie zahllose Beispiele. »Jeder Mensch manipuliert sich in größerem oder kleineren Ausmaß selbst, indem er seine Ängste verschiebt.« 5 Dies will wohlverstanden sein: Es geht hierbei nicht um die simple isomorphe Analogisierung von vermeintlich verschiedenen Sphären, sondern vielmehr um die Einsicht in die wesenhafte Verwurzelung des Kollektivpsychischen in der Psychologie des Einzelnen bzw. um das Postulat einer determinanten Wirkung der individuellen Triebdynamik auf die Kollektivsphäre, wie sie von Freud selber dargelegt wurde.6 Gerade deshalb sollte freilich eine Erörterung der Wechselwirkung von Individuell-Psychischem und Kollektiv-Politischem im Sinne des von Adorno seinerzeit gegen Arthur Koestler erhobenen Einwands eingeschränkt werden: »Es gibt keine ›politische Neurose‹, wohl aber beeinflussen psychische Deformationen das politische Verhalten, ohne doch dessen Deformation ganz zu erklären.« 7 Auf einer solchen Grundlage konnte denn Adorno postulieren, die Struktur des Faschismus und die gesamte Technik faschistischer Demagogen sei autoritär,8 zugleich aber auch ausdrücklich hervorheben, dass »so gewiß der faschistische Agitator bestimmte innere Tendenzen derer aufgreift, an die er sich wendet, so tut er das doch als Agent mächtiger wirtschaftlicher und politischer Interessen«.9 Geschichte, Angst und Ideologie
Dieser Punkt ist für die weiterfolgenden Überlegungen von einiger Bedeutung. Er berührt das dialektische Verhältnis von als »Kitt« des sozio-politischen Systems fungierenden psychischen Bedürfnissen und selbigem System, das besagte Bedürfnisse ideologisch »erweckt«, reproduziert und affirmativ verfestigt. So besehen ist die Bedürfnismanipulation im Dienste heteronomer Interessen in zweierlei Hinsicht ideologisch: Zum einen verfrachtet sie die letzten Reste des Authentischen an den (wie immer pathologischen und deformierten) Bedürfnissen in die Tauschsphäre und objektiviert so die emotionalen Bedürfnisse zu Waren; andererseits betreibt sie die Konservierung, fortwährende Formung und gelegentliche Befriedigung nämlicher Bedürfnisse und versichert sich so ihrer Funktion als Bedürfnisse, als etwas also, das sich nur noch vermittels seiner Befriedigung eliminieren lässt (bzw. durch die Errichtung eines Systems, das der Pathologie jener Bedürfnisse für seinen Fortbestand nicht mehr bedürfte).10 Das unter anderem meinte wohl seinerzeit Alexander Mitscherlich, als er behauptete: »Die Angstbeengung, die in jeder Tradition sowohl aufrechterhalten wie in der Befolgung der Gebote beschwichtigt wird, steht uns auf Schritt und Tritt im Wege. An die Umstände sind immer harte Interessen geknüpft, man kann ihnen nur entgegentreten, wenn man die Angst überwindet, die zu ihrer Wahrung erweckt wird. Die ideologisch manipulierte Angst ist kein Schutzmechanismus der Arterhaltung, sondern eine zweifelhafte Taktik, die man am besten mit Zweifel abwehrt.« 11 Nun ist aber die Angstmanipulation nicht notwendig an konkreten Personen oder Institutionen ausmachbar. Sowenig es jemals wirklicher »Weisen von Zion« zur Verfassung und Verbreitung ihrer »Protokolle« bedurfte, so ist die Ideologisierung der Angst nicht unbedingt an ein bestimmtes Subjekt gebunden. Das ist es ja eben, was ihren manipulativen Charakter ausmacht: Objektiv dient sie immer einem bestimmten Interesse, ohne dass es der Manipulierte unmittelbar erkennt (zumeist ist er zu sehr mit seiner Angst beschäftigt), zuweilen auch ohne dass der Manipulierende selbst sich des ihn leitenden Interesses ständig bewusst wäre. Haben sich die Rationalisierungen von manipulierenden Interesseninhabern und deren »Opfer« dermaßen ineinander vermengt und verfestigt, dass sie kaum mehr auseinanderzuhalten sind, kann man von einer übergreifenden Ideologie, einem kollektiven »falschen Bewusstsein« (»nationalem Konsens« etwa), sprechen.
1 Dieser Artikel wurde 1995 unter dem Titel »Geschichte, Angst und Ideologie. Aspekte der israelischen politischen Kultur« verfasst. In diesem Band geben wir ihn in zwei Teilen wieder, der Abschnitt zu Israel findet sich im hinteren Bereich des Buches, Anm. d. Hg.
2 Thomas Hobbes, Leviathan, Frankfurt/M–Berlin–Wien 1976, S. 96 (Hervorhebung vom Autor).
3 Sigmund Freud, Angst und Triebleben, in: Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M 1982, S. 517.
4 Freud bezeichnet