Herrschaft der Angst. Imad Mustafa
der sich die »Angstreaktion« entwickelt, die wiederum eines von beidem ermöglicht: »Entweder die Angstentwicklung, die Wiederholung des alten traumatischen Erlebnisses, beschränkt sich auf ein Signal, dann kann die übrige Reaktion sich der neuen Gefahrenlage anpassen, in Flucht oder Verteidigung ausgehen, oder das Alte behält die Oberhand, die gesamte Reaktion erschöpft sich in der Angstentwicklung, und dann wird der Affektzustand lähmend und für die Gegenwart unzweckmäßig«. Ebd., S. 518. Es sei erwähnt, dass Freud allgemein zwischen »Angst«, die sich auf den Zustand bezieht und vom Objekt absieht, »Furcht«, die die Aufmerksamkeit gerade auf das Objekt richtet, und »Schreck«, der die Wirkung einer Gefahr hervorhebt, welche nicht von einer Angstbereitschaft empfangen wird, unterscheidet. Vgl. Die Angst, ebd., S. 382.
5 Thea Bauriedl, Die Wiederkehr des Verdrängten, München 1986, S. 29 f.
6 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M 1982, S. 61 ff.
7 Theodor W. Adorno, Bemerkungen über Politik und Neurose, in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/M 1971, S. 91.
8 Theodor W. Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/M 1971, S. 43.
9 Ebd., S. 62.
10 Man mag in diesem Zusammenhang an Adornos Diktum denken, demzufolge die totalitäre Psychologie »den Primat einer gesellschaftlichen Realität« spiegele, »welche Menschen erzeugt, die bereits ebenso irr sind wie jene selber. Der Irrsinn aber besteht gerade darin, daß die eingefangenen Menschen nur als Agenten jener übermächtigen Realität fungieren, daß ihre Psychologie nur noch eine Durchgangsstation von deren Tendenz bildet.« Adorno, (Anm. 7), S. 91.
11 Alexander Mitscherlich, Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft, München 1963, S. 300.
Joachim Hirsch: Angst und Herrschaft – Einige staatstheoretische Überlegungen
Zwischen Angst und Herrschaft gibt es einen engen Zusammenhang, der jedoch einige Widersprüche aufweist. Real begründete oder strategisch geschürte Angst hat bei der Begründung und Stabilisierung von Herrschaft schon immer eine bedeutsame Rolle gespielt. Dies wird etwa deutlich bei der Entstehung des modernen Staates im 16. und 17. Jahrhundert. Der US-amerikanische Historiker Charles Tilly hat diesen als eine Art Schutzgelderpresser bezeichnet, der von den Bürger*innen Gehorsam und finanzielle Leistungen verlangt und im Austausch dafür Schutz vor äußeren und inneren Feinden bietet.12 Und Thomas Hobbes rechtfertigte damit vor dem Hintergrund der englischen Bürgerkriege den sich entwickelnden Absolutismus. Nach ihm ist im Naturzustand, also in einer sich selbst überlassenen Gesellschaft der Mensch des Menschen Wolf und deshalb schwebe Jede*r in ständiger Lebensgefahr. Dieser lebensbedrohlichen Situation sei nur abzuhelfen, wenn alle individuellen Rechte an einen absoluten Herrscher abgetreten werden, einen mit ausschließlicher Gewalt ausgestatteten »Leviathan«, der damit und als Einziger in der Lage sei, das Leben der Menschen zu schützen. Er konstruiert also einen (fiktiven) Vertrag, den die auf einem staatlich kontrollierten Territorium lebenden Menschen zugunsten des Herrschers abschließen.13
Historisch spielte der verheerende Dreißigjährige Krieg (1618−1648) in Mitteleuropa eine ähnliche Rolle bei der Durchsetzung des Absolutismus und damit des modernen Staates. Dieser Zusammenhang prägt im Übrigen staatstheoretische Überlegungen bis in die neuere Zeit. Max Weber bezeichnete das »Gewaltmonopol« als zentrales Merkmal des modernen Staates, als eine zivilisatorische Errungenschaft, die es möglich mache, Schutz vor Bedrohungen aller Art zu erhalten.14 Das Risiko, vom Nachbarn überfallen zu werden, wird dadurch immerhin geringer. Was passiert, wenn dies nicht gewährleistet ist, lässt sich nicht nur an vielen aktuellen Bürgerkriegen, sondern auch am Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft ablesen, wo dieses Gewaltmonopol nicht völlig durchgesetzt ist und der private Waffenbesitz zur Selbstverständlichkeit gehört. Dabei muss allerdings unterschieden werden zwischen purer Gewaltherrschaft und einer solchen, die hegemonialen Charakter hat. »Hegemonial« bedeutet, dass die Herrschenden bereit sind, in gewissem Umfang den Interessen der Beherrschten Rechnung zu tragen, also z. B. den Schutz ihres Lebens zu versprechen und damit ihre freiwillige Gefolgschaft zu erlangen.
Diese und viele andere staatstheoretische Konzepte verweisen auf einen grundlegenden Widerspruch, der darin besteht, dass in einer von Gewalt und Ungleichheit geprägten Gesellschaft Herrschaft zugleich Sicherheit bietet und Freiheit beschränkt. Die moderne liberale Demokratie kann als ein Verfahren betrachtet werden, diesen Widerspruch, wenn nicht aufzuheben, so doch dadurch handhabbar zu machen, dass die Staatsgewalt demokratischen Kontrollen unterworfen wird. Die revolutionäre Bourgeoisie schaffte es damit, den Bürgerkrieg, der den kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen immanent ist, zu vermeiden und die Freiheitsbeschränkungen, die damit verbunden sind, in ein rechtliches Regelwerk einzubinden. Mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft kam nun zum Schutz des Lebens die Sicherung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit die – eben auf das Gewaltmonopol gestützte – Befestigung der kapitalistischen Klassenverhältnisse als vorrangige Staatsaufgabe. Diese Klassenverhältnisse bedeuten aber zugleich, dass die demokratische Qualität des Staates höchst beschränkt ist, weil grundlegende, die gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen bestimmende, Entscheidungen von privaten Unternehmen getroffen werden, der Steuerstaat vom Funktionieren der Ökonomie und damit von der Profitabilität des Kapitals abhängig ist, ganz abgesehen vom privilegierten Einfluss der »Wirtschaft« auf die Politik. Der in dem Verhältnis von Angst, Freiheit und Herrschaft liegende Widerspruch bleibt also auch in der liberaldemokratisch verfassten kapitalistischen Gesellschaft wirksam.
Die Entwicklung der Nationalstaaten verlieh der Sicherheitsfrage eine neue Dimension. Die Machtauseinandersetzungen im anarchischen Staatensystem sorgten für eine ständig vorhandene Kriegsgefahr und die von der kapitalistischen Verwertungsdynamik angetriebene Staatenkonkurrenz, der Kolonialismus sowie imperialistische Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse ließen relativ privilegierte Wohlstandsfestungen entstehen, die ihre Position – teilweise durchaus demokratisch legitimiert – gegebenenfalls mit Gewalt verteidigen. Dies kennzeichnet auch die Geburt des modernen Rassismus. Aktuell geschieht dies vor allem im Zusammenhang von Flucht und Migration, die von der Bevölkerung in den privilegierten Teilen der Welt als Bedrohung und Wohlstandsrisiko wahrgenommen werden und werden sollen. Staatlich garantierte Sicherheit in der Unsicherheit gewann dadurch eine globale Dimension.
Mit der Durchsetzung des Kapitalismus entstanden aber auch ganz neue Angstpotenziale, die nicht nur der unmittelbaren Lebensgefahr, sondern dem »stummen Zwang der Verhältnisse« geschuldet sind, wie Marx schrieb.15 Die aus ihren herkömmlichen sozialen Beziehungen und Lebensverhältnissen herausgerissenen und nur noch über ihre Arbeitskraft verfügenden Menschen sahen sich der ständigen Bedrohung durch Armut, Krankheit oder Arbeitslosigkeit ausgesetzt, eine Situation, die den Bestand der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bedrohte – nicht nur in Form revolutionärer Bewegungen, sondern auch dadurch, dass die Verfügbarkeit der für die Kapitalverwertung erforderlichen Arbeitskraft überhaupt infrage stand. Die Regulierung der Bevölkerung, ihres Wachstums und ihrer Gesundheit wurde dadurch zu einer zentralen Aufgabe. Dies veranlasste die Staaten, nach und nach einige soziale Sicherheitssysteme einzuführen. Marx hat dies anhand der englischen Fabrikgesetzgebung anschaulich dargestellt.16 Beide Entwicklungen zusammen hatten den Effekt, auch die unteren Schichten an die staatliche Herrschaft zu binden. In Deutschland verfolgte die Bismarck’sche Sozialgesetzgebung neben den repressiven Sozialistengesetzen erklärtermaßen das Ziel, revolutionäre Umtriebe zu verhindern. Was die Integration der sich ursprünglich revolutionär verstehenden Sozialdemokratie in den bürgerlichen Staat angeht, war dies auch erfolgreich.