Herrschaft der Angst. Imad Mustafa
ist dabei, was aus der ehemaligen, im Zuge der Studierendenrevolte nach 1968 entfalteten, nicht zuletzt auf Marx, Gramsci oder Poulantzas gestützten Staatskritik geworden ist. Auf deren Grundlage wurden noch die seit den Notstandsgesetzen durchgeführten sicherheitsstaatlichen Maßnahmen mit guten Gründen kritisiert. Diesbezüglich ist in der Corona-Krise praktisch nichts mehr zu vernehmen. Tendenziell wurden von linken Kreisen eher noch härtere staatliche Eingriffe und Freiheitsbeschränkungen gefordert. Dabei hätte es eigentlich nahe gelegen, nicht nur nach dem Charakter des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft, sondern konkreter noch nach den Interessen zu fragen, die hinter der Art und Weise ihrer Durchsetzung im Zusammenhang mit der anhaltenden kapitalistischen Krise stehen. Oder zu erörtern, weshalb die Geschäfte von Internetkonzernen massiv gefördert und große Unternehmen wie beispielsweise die Lufthansa oder TUI mit massiven Subventionen gestützt wurden, während andere, nicht nur kleingewerbliche Unternehmen vor der Pleite oder Kulturschaffende vor dem ökonomischen Aus stehen. Dies ist verbunden mit einer exzessiven Staatsverschuldung, für die am Ende die gemeinen Steuerzahler*innen werden aufkommen müssen.
Immerhin ist es erstaunlich, wie umstandslos das bisher geltende neoliberale Mantra des ausgeglichenen Staatshaushalts kassiert wurde. Damit wurde ein staatlich inszenierter Konzentrations- und Monopolisierungsprozess eingeleitet, der den Übergang zu einem digitalisierten Kapitalismus befördern soll und von dem eine Lösung der schon länger andauernden ökonomischen Krise durch die Erschließung neuer Verwertungsmöglichkeiten erwartet wird. Überlegungen dazu, so wie sie etwa Hannes Hofbauer und Andrea Komlosy zur Etablierung eines neuen Akkumulationsmodells vorgestellt haben, findet man in der sich als kritisch verstehenden Literatur kaum.22 Immerhin ist es bemerkenswert, dass die Börsenkurse nach dem kurzen Einbruch am Beginn der Krise inzwischen enorm gestiegen sind. Dieses Versäumnis ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie Angst Kritik an Herrschaft abtötet und diese damit stabilisiert.
Es ist abzusehen, dass die Gesellschaft als Folge der Krise einen völlig anderen Charakter erhalten wird. Die Veränderungen werden mit denen vergleichbar sein, die bislang durch verheerende Kriege verursacht wurden. Auch diese haben immer bewirkt, dass die Kapitalverwertung auf eine neue gesellschaftliche und ökonomische Basis gestellt werden konnte. Das kurze Zeitalter relativ liberaler gesellschaftlicher und politischer Zustände dürfte sich dem Ende zuneigen, nicht nur was die zunehmend autoritär agierende Staatsmaschinerie mit ihren Überwachungs- und Kontrollinstrumenten, sondern auch was den Zustand der Zivilgesellschaft angeht. Die durch die Krisenpolitik verursachte Gewöhnung an den Ausnahmezustand dürfte diese überdauern. Die Unfähigkeit von Medien und Wissenschaft, die Regierungsmaßnahmen kritisch zu überprüfen, die Neigung, diese schlicht und einfach zu rechtfertigen und damit selbst Ängste zu schüren, hat ihre Funktion als demokratisches Korrektiv ernsthaft infrage gestellt. Das dürfte Folgen haben. Ein Indiz dafür ist auch die Wandlung der Partei Die Grünen, die sich in Abkehr von ihren ursprünglich noch eher liberalen und demokratischen Traditionen zur schlichten Staatspartei gemausert hat.
Der Zusammenhang von Angst und Herrschaft wird also nicht nur in der aktuellen Situation, sondern auch mit dem Blick auf die Geschichte deutlich. Ihn aufzulösen, bedürfte es einer angstfreien Gesellschaft, einer Gesellschaft, die allen ein sicheres Leben gewährt und Freiheit mit dem Wohlergehen aller verbindet. Und die es lernt, auf rationale Weise mit dem Tod umzugehen, also ihn weder zu leugnen noch als diffuse Bedrohung wahrzunehmen, wie Stefan Kraft geschrieben hat.23 Die Vorstellung eines »Naturzustandes«, bei dem den Menschen bestimmte Eigenschaften wie eine wesensmäßige Aggressivität zugeschrieben werden, wie etwa Hobbes es getan hat, ist kaum haltbar. Wie Menschen sich verhalten, hängt sehr wesentlich von den gesellschaftlichen Bedingungen ab, unter denen sie leben. Allerdings bedeutet Freiheit immer auch die Möglichkeit von Konflikten und die Frage ist, wie diese angstfrei zu bewältigen sind. Dieser Widerspruch wird bleiben und ihn zu bewältigen wäre am ehesten in einer realen Demokratie möglich, die den Menschen nicht nur beschränkte Mitwirkungsrechte an den sie betreffenden Entscheidungen einräumt, wie es gegenwärtig der Fall ist, sondern eine umfassende Selbstbestimmung und Selbstverwaltung und damit eine friedliche Aushandlung von Konflikten ermöglicht.
Unter kapitalistischen Bedingungen ist dies allerdings undenkbar. Es ist kein Zufall, dass es in der aktuellen Krise zu keinerlei Ansätzen kam, sie durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten, durch Selbstorganisation und Eigeninitiative, also demokratisch zu bewältigen. Das wäre mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen kaum vereinbar. Es ginge also darum, ganz neue gesellschaftsorganisatorische Vorstellungen und Konzepte zu entwickeln, die über Staats- und Ökonomiekritik hinausgehen.
12 Charles Tilly, The Formation of National States in Western Europe. Princeton 1975
13 Thomas Hobbes,: Leviathan, Frankfurt/ Main 2020
14 Max Weber, Max, Staatssoziologie. Berlin 1966
15 Karl Marx, Karl, Das Kapital, Band 1. Berlin 1969
16 ebd.
17 Heribert Prantl, Verfallsdatum? In: Süddeutsche Zeitung vom 25./26. April 2020
18 Joachim Hirsch, Sicherheitsstaat 4.0, in: Hannes Hofbauer/Stefan Kraft (Hg.), Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern. Wien 2020
19 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/Main 1983, S. 167
20 Michel Foucault, Analytik der Macht. Frankfurt/Main 2005, S. 78
21 Ebd., S. 139 f.
22 Hannes Hofbauer/ Andrea Komlosy, Neues Akkumulationsmodell, in: Hofbauer/Kraft (Hg.), Lockdown 2020. Wien 2020
23 Stefan Kraft , Der ausgeschlossene Tod, in: Hofbauer/Kraft (Hg.), Lockdown 2020. Wien 2020
Wolf Wetzel: Die endlose Geschichte der Ausnahmezustände (in Deutschland)
Der (drohende) Gesundheitsnotstand, der ausgerufene Corona-Ausnahmezustand seit März 2020 kostet nicht nur Menschenleben, sondern auch Nerven, Freundschaften und Erkenntnisdrang. Wer glaubte, dass das eben nur ein Gewitter ist, also auch wieder (schnell) vorbeizieht, hat sich getäuscht. Der ersten (Pandemie-)Welle folgt die nächste, und – mit dem starren, angstgewaideten Blick auf die nächste Welle – wird das, was zuvor »nur« Verordnungen waren, in ein Gesetz implantiert: man kann auch sagen, niet- und nagelfest gemacht. Das 3. Gesetz zum Infektionsschutzgesetz wurde am 18. November 2020 im Bundestag verabschiedet, mit den Stimmen der Großen Koalition (CSU/CDU und SPD). Die Partei DIE LINKE stimmte dieses Mal dagegen. Die Begründung war ziemlich lau: Man müsse bei derart massiven Grundrechtseinschränkungen das Parlament miteinbeziehen bzw. die legislative Macht des Parlamentes zurückholen.
Aber was ändert sich an den massiven Grundrechtseinschränkungen, wenn der Bundestag diese mehrheitlich absegnet? Geht es nicht darum, zumal als Linke, Grundrechtseinschränkungen zu widersprechen, die erkennbar und nachweislich nicht der Gesundheit dienen und hochgradig wenig mit medizinischer Evidenz zu tun haben?
Wenn man das so – unausgeführt und grob – dahin schreibt, spürt man das Schnaufen und Stöhnen im Nacken. Aber es kommt noch schlimmer: Auf Demonstrationen der Querdenker*innen tauchte immer wieder einmal der Vergleich mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 auf. Die Reaktionen von rechts