Herrschaft der Angst. Imad Mustafa
sind, desto größer ist auch das Risiko von Revolten und Aufständen. Deshalb sind auch die Herrschenden tendenziell in ihrer Sicherheit bedroht, was sie wiederum dazu veranlassen kann, zu noch härteren Unterdrückungsmethoden zu greifen. Selbst in liberaldemokratisch verfassten Staaten bleibt dieser Widerspruch bis zu einem gewissen Grad wirksam. Angst ist daher auch hier den Herrschenden nicht fremd.
Dies lässt sich in der Geschichte bis heute verfolgen. In Deutschland waren es nicht zuletzt die gesellschaftlichen Umwälzungen und die verheerenden Wirtschaftskrisen nach dem Ersten Weltkrieg, die der Nazi-Diktatur zur Macht verhalfen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Restauration der durch den Nationalsozialismus und dessen Unterstützung durch wesentliche Teile des Kapitals in Frage gestellten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sehr stark mit der Bedrohung aus dem Osten, dem Kalten Krieg und der damit verbundenen Ideologie des Antikommunismus legitimiert. Eine Folge davon war das Verbot der Kommunistischen Partei und die späteren Berufsverbote. Mit dem Datum 1968 verbindet sich nicht nur das kurze liberale und demokratische Zwischenspiel der Studierendenrevolte, sondern auch die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Sie beinhalten eine zunächst auf Vorrat angelegte Einschränkung demokratischer Verfahren und Grundrechte, die wiederum mit kriegerischen Bedrohungen gerechtfertigt wurde, aber durchaus auch auf die Herrschaftssicherung bei inneren Unruhen zielte. Immerhin erzeugte das Auftreten neuer Protestbewegungen und damit auch das allmähliche Verblassen des Antikommunismus neue Herrschaftsrisiken. Allerdings wurde damals dafür noch eine Verfassungsänderung als nötig erachtet, was bei der Corona-Krise praktisch keine Rolle mehr spielte. Es folgte der die Sicherheitsorgane – Polizei und Geheimdienste – mit weitgehenden Ermächtigungen ausstattende Erlass von Sicherheitsgesetzen und damit ein weiterer Ausbau des autoritären Staates im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die RAF in den Jahren 1977−1979 sowie später dann dasselbe und noch einmal verstärkt nach 2001, diesmal legitimiert mit der Bedrohung durch den islamistischen Terror. Charakteristisch ist dabei, dass einige der dabei installierten Kontroll-, Überwachungs- und Eingriffsrechte mit Terrorabwehr überhaupt nichts zu tun hatten, wie etwa Heribert Prantl aufgezeigt hat.17
Die Corona-Krise markiert eine neue Stufe dieser durch den Zusammenhang von Angst und Herrschaft gekennzeichneten Entwicklung, die ich, auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bezogen, als »Sicherheitsstaat 4.0« bezeichnet habe.18 Zweifellos hängt das Auftreten des COVID-19-Virus stark mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus, der damit verbundenen Industrialisierung der Landwirtschaft und der Zerstörung natürlicher Lebensräume zusammen. Es ist allerdings völlig unangebracht, wenn behauptet wird, dies wäre von irgendwelchen dunklen Mächten planmäßig ins Werk gesetzt worden. Die Pandemie wird jedoch herrschaftstechnisch benutzt, nicht nur zur Aufhebung zentraler Grund- und Freiheitsrechte, sondern auch zum weiteren Ausbau des Kontroll- und Überwachungsstaates. Zur Legitimierung der zur Eindämmung der Pandemie eingeführten Zwangsmaßnahmen hat die Regierung, unterstützt durch ihre medialen Begleiter, systematisch Ängste geschürt, um die Bereitschaft zur Hinnahme der Beschränkungen zu fördern. Ihre ziemlich disparate Krisenpolitik ist nicht allein durch tatsächlich vorhandene Informationsdefizite hinsichtlich der Wirkungsweise und der Gefährlichkeit des Virus, sondern auch durch eine durch eigene Ängste geschürte Art Panik zu erklären.
Die Furcht davor, Verantwortung für die Folgen der Pandemie übernehmen zu müssen, hat oft zu überstürzten und recht planlos eingesetzten Maßnahmen geführt. Eine sachgerechte Strategie war kaum zu erkennen. Das gilt zum Beispiel für einen vorausschauenden Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen – Alte, durch Krankheit vorbelastete oder in Sammelunterkünften Lebende – beziehungsweise für den zügigen Ausbau von Behandlungskapazitäten, was selbst nach dem ersten Lockdown monatelang versäumt wurde. Stattdessen wurden unspezifische Restriktionen für alle angeordnet. Sie hatten nicht zuletzt den Zweck, Handlungskompetenz vorzutäuschen. In Wirklichkeit also eine Inkompetenz, die ebenfalls aus Angst gespeist wurde und weitere Ängste erzeugte. Ein weiteres Beispiel ist das Chaos bei der Versorgung mit Impfstoffen, das nicht nur durch den Mangel an vorausschauender Planung, sondern auch durch die Rücksichtnahme auf die Profitinteressen der Pharmakonzerne erklärbar ist. Auf eine Beschränkung von Patentrechten, etwa durch die Ermöglichung von Zwangslizenzen für Generikahersteller, wurde verzichtet. Auch dies ist ein Hinweis auf die Grenzen staatlicher Macht und damit die Grenzen der Demokratie unter kapitalistischen Bedingungen.
Interessant ist, dass in der COVID-19-Krise tatsächlich so etwas wie die Hobbes’sche Situation entstanden ist: Die unmittelbare Furcht vor dem Tod begründet und rechtfertigt den Verzicht auf Freiheitsrechte und die weitgehende Ermächtigung des staatlichen Leviathans. Der Schutz des Lebens bekommt Vorrang vor allen Rechten, auch denen, die für ein würdiges Leben grundlegend sind. Und da das Virus sich über menschliche Träger verbreitet, werden alle anderen zum potenziellen Existenzrisiko, der Mensch also zum Menschen Feind. Dass die Natur auf diese Weise zurückschlägt, ist eine Entwicklung, die in Zukunft verstärkte Bedeutung erhalten wird, nicht nur in Form drohender neuer Pandemien, sondern auch des menschengemachten Klimawandels. Gerade dieser wird aller Voraussicht nach weitere erhebliche Einschränkungen nach sich ziehen.
Was Michel Foucault als »Biopolitik« bezeichnet hat, eine Entwicklung, die seit der Durchsetzung des Kapitalismus zunehmend an Bedeutung gewann und auf eine Abstimmung von Kapital- und Bevölkerungsakkumulation zielt, hat damit einen neuen Höhepunkt erreicht. »Die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit all ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung.«19 Es handelt sich dabei um ein komplexes Dispositiv, bei dem der menschliche Körper selbst zum Ansatzpunkt von Machtstrategien gemacht wird und bei dem Fürsorge und Schutz repressive oder ideologische Herrschaftstechniken ergänzen. »Denn wenn die Macht nur die Funktion hätte, zu unterdrücken, wenn sie nur im Modus der Zensur, der Ausschließung, der Absperrung, der Verdrängung nach Art eines mächtigen Über-Ichs arbeitet, wenn sie sich nur auf negative Weise ausüben würde, wäre sie sehr zerbrechlich. Stark aber ist sie, weil sie positive Auswirkungen auf der Ebene des Begehrens (…) und auch auf der Ebene des Wissens hervorbringt. Die Macht ist weit davon entfernt, das Wissen zu verhindern, sie bringt es vielmehr hervor.«20
Der Medizin kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, wie sich aktuell an der prominenten Rolle von Ärzten und Virologen in den herrschenden Machtdiskursen zeigt. Hier verbinden und verknüpfen sich unterschiedliche Machtstrategien.
Früher konnte der Staat sagen: »Ich werde euch ein Territorium geben« oder »Ich garantiere euch, dass ihr innerhalb eurer Grenzen in Frieden leben könnt«. Das war der Territorialvertrag, und die Sicherung der Grenzen war die Hauptaufgabe des Staates. Heute stellt sich das Problem der Grenzen kaum noch. Der Vertrag, den der Staat der Bevölkerung anbietet, lautet darum: »Ich biete euch Sicherheit«. Sicherheit vor Unsicherheiten, Unfällen, Schäden, Risiken jeder Art.(…) Ein Staat, der Sicherheit schlechthin garantiert, muss immer dann eingreifen, wenn der normale Gang des alltäglichen Lebens durch ein außergewöhnliches, einzigartiges Ereignis unterbrochen wird. Dann reicht das Recht nicht mehr aus. Dann sind Eingriffe erforderlich, die trotz ihres außerordentlichen, außergesetzlichen Charakters dennoch nicht als Willkür oder Machtmissbrauch erscheinen dürfen, sondern als Ausdruck von Fürsorge.21
In Bezug auf die heutige Situation waren diese Gedanken außerordentlich vorausschauend. Und dabei verbinden und verstärken sich unterschiedliche Machtbeziehungen, so etwa staatlich organisierte Überwachung und Kontrolle mit der Beobachtung und gegebenenfalls auch Denunziation von Nachbarn und Bekannten bei wahrgenommenen Regelverletzungen.
Die staatlichen Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung beschleunigen im Übrigen eine Entwicklung, die sich schon länger als Folge der neoliberalen Reorganisation des Kapitalismus nach der Krise der 1970er-Jahre des letzten Jahrhunderts abzeichnete. Sie ist gekennzeichnet durch eine wachsende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Verarmung, nicht zuletzt auch eine zunehmende Existenzbedrohung weiter Teile der Mittelschichten, gesellschaftliche Spaltungen und damit verbunden eine um sich greifende Perspektivlosigkeit. Nicht zuletzt daher rühren die immer deutlicher zum Vorschein tretende Krise der liberalen Demokratie und der darin zum Ausdruck kommende Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien. Die damit sich abzeichnende Tendenz zu autoritäreren