Herrschaft der Angst. Imad Mustafa
Man war bereits geübt. Zuerst schaltete man den gemeinsamen Feind aus, die KPD. Reichspräsident Paul von Hindenburg nutzte den erklärten Notstand und sprach ein Verbot der KPD aus und die NSDAP nutzte diesen staatlichen Flankenschutz für die Eskalation ihres Terrors gegen Linke.
Ein weiteres Puzzle auf dem Weg zur legalen Etablierung der Diktatur der NSDAP waren die Reichstagswahlen vom 5. März 1933: Die Mischung aus Terror und Legalitätsschwüren hatte Erfolg: Die NSDAP kam mit einem Plus von 10,8 Prozent auf 43,9 Prozent und war damit stärkste Partei. Die SPD kam auf 18,3 und die KPD auf 12,3 Prozent der Stimmen.
Zum ersten Mal in der Weimarer Republik war damit eine parlamentarische Mehrheit aus Faschisten und Deutschnationalen gegeben. Die amtierende Minderheitsregierung unter dem Reichskanzler Hitler konnte somit weiterregieren. Dann war die NSDAP wieder am Zuge. In der Tradition bürgerlicher Regierungen reichte sie im Reichstag ein weiteres Ermächtigungsgesetz ein. Das war kein Paukenschlag mehr, sondern die Wiederholung von Hitlers Ansinnen vom Januar 1933, als die NSDAP eine Minderheitsregierung angeführt hatte. Bereits damals war klar, dass es nicht um den Schutz der Republik ging, sondern um die Beseitigung eines gemeinsamen politischen Gegners: »Bereits in der ersten Sitzung seines Kabinetts – am Nachmittag des 30. Januar 1933 – wurden die Aussichten erörtert, wie ein Ermächtigungsgesetz vom Reichstag zu erlangen sei. Dabei äußerte Hugenberg (Vorsitzender der DNVP und in dieser Zeit Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung, d. V.) ›nach der Unterdrückung der KPD sei die Annahme eines Ermächtigungsgesetzes durch den Reichstag möglich‹.« 37
Dass nun die NSDAP an der Reihe war, den zweiten gemeinsamen Feind von bürgerlichen und faschistischen Kreisen auszuschalten, die Weimarer Verfassung, ergab sich von selbst. Alle hatten sich längst daran gewöhnt, dass die Weimarer Verfassung eigentlich kaum noch zählte:
Der Gedanke, die Reichsregierung für eine bestimmte Frist zu ermächtigen, Rechtsvorschriften mit Gesetzeskraft zu erlassen, war daher der neueren deutschen Verfassungsentwicklung nicht fremd. In der Lage des Winters 1932/33 bedeutete die Vergebung solcher Ermächtigungen an die Exekutive auch deswegen nichts Außerordentliches mehr, weil der parlamentarische Gesetzgeber ohnehin durch die Notverordnungspraxis in den Hintergrund getreten war. Im Jahre 1930 waren noch 98 Reichstagsgesetze verabschiedet worden. 1931 wurden bereits 42 Notverordnungen des Reichspräsidenten erlassen gegenüber 34 Reichstagsgesetzen; 1932 ergingen 60 Notverordnungen, aber nur fünf Reichstagsgesetze.38
Dass der Übergang zwischen bürgerlicher Demokratie und Diktatur bereits fließend war, unterstreicht auch der damals gefeierte Staatsrechtler Carl Schmitt. Nicht erst für die Nazis war er in Sachen Rechtfertigung aktiv. Bereits 1932 hatte er Pläne ausgearbeitet, »mit denen eine zeitlich begrenzte legale Diktatur des Reichspräsidenten errichtet werden sollte. Carl Schmitt argumentierte in der unruhigen Endphase der Weimarer Republik mit dem englischen politischen Philosophen Thomas Hobbes. Der hatte im 17. Jahrhundert in seiner Schrift ›Leviathan‹ den Grundsatz formuliert: Auctoritas, non veritas facit legem. (Autorität, nicht Wahrheit macht die Gesetze).« 39
Die NSDAP ging bei der Vorstellung des Ermächtigungsgesetzes geschickt vor, nutzte den Gewöhnungseffekt und lehnte sich in der Wortwahl an das Vorbild aus dem Jahre 1923 an. Dennoch gibt es deutliche Unterschiede: »Die grundlegende Verschiedenheit zeigte sich in folgenden Punkten: Die Reichsregierung wurde ermächtigt, nicht bloß ›Verordnungen‹ zu erlassen, sie sollte sogar ›Gesetze‹ beschließen, und zwar auch solche, die von der Reichsverfassung von 1919 abwichen, das bedeutete: ihnen sollte, verglichen mit den einfachen Reichstagsgesetzen, erhöhte Durchschlagskraft zukommen. Der Reichstag sollte ferner seine Befugnis, völkerrechtlichen Verträgen zuzustimmen, den Reichshaushalt zu verabschieden und Kreditaufnahmen zu genehmigen, preisgeben.« 40
Der Politologe Ernst Fraenkel bezeichnete das Ermächtigungsgesetz als »eigentliche Verfassungsurkunde« für die Errichtung einer Diktatur. Mit ihr wurden Grundrechte außer Kraft gesetzt, so etwa die Freiheit der Person, die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Vereins- und Versammlungsfreiheit. Der Staat schränkte auch das Postgeheimnis sowie das Eigentumsrecht ein und verbot regimekritische Zeitungen.
Was damit Gesetz werden sollte, entsprach einem Flächenbrand. Dagegen war der Reichstagsbrand ein Lagerfeuer. Aber auch das war kein Problem für die bürgerlichen Parteien. Die Absprachen waren getroffen, die Zustimmungen eingeholt.
Notstand ohne Not – die Notstandsgesetze 1968
Kaum war das »Dritte«, das »Tausendjährige Reich« vorzeitig zu Ende, dachten die bürgerlichen Parteien Nachkriegsdeutschlands daran, die verfassungsrechtlich garantierten Rechte zu suspendieren, wenn die Regierung in Not gerät – und dabei Schutzrechte nur eine Last sind.
Es sei erwähnt, dass die bürgerlichen Parteien über die Notwendigkeit von Notstandsgesetzen diskutierten, als es nicht den Hauch einer Bedrohung gab, die nicht mit dem bestehenden Gewaltmonopol und den vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten hätte bewältigt werden können. Man dachte am Anfang der Beratungen gerade anders herum: Wenn alle mitmachen, ganz vom »Wirtschaftswunder« geblendet sind, dann interessieren sie sich nicht für Gesetze, die eine Rebellion niederschlagen sollen, an die die meisten nicht einmal im Traum denken.
Nach jahrelangen Beratungen war sich die Große Koalition aus CSU/CDU und SPD am 30. Mai 1968 einig: »Im Fall eines inneren oder äußeren Notstands kann seither ein ›Notparlament‹ als Ersatz für Bundestag und Bundesrat zusammentreten. (…) Die Bundeswehr darf außerdem zur ›Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer‹ – also auch gegen die eigene Bevölkerung – eingesetzt werden. Darüber hinaus können die Grundrechte jedes Einzelnen bei einem Ausnahmezustand beschnitten werden: Insbesondere das in Artikel 10 des Grundgesetzes garantierte Post- und Fernmeldegeheimnis ist davon betroffen.« 41 Dazu führt Detlef Borchers aus:
Im Bereich der Kommunikation führten die Notstandsgesetze zu einer Umdefinierung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Bis zu dieser zentralen Gesetzesänderung waren Post- und Fernmeldeüberwachungen durch deutsche Behörden verboten. Das änderte sich mit den Notstandsgesetzen beziehungsweise dem zugehörigen G10-Gesetz, das am 1. November 1968 in Kraft trat und nur in Westdeutschland galt – in Westberlin war das Abhören und Verwanzen via Besatzungsrecht weiterhin nur den Alliierten erlaubt. Fortan durften der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst und der Verfassungsschutz das Post- und Fernmeldegeheimnis brechen, wenn sie den bloßen Verdacht hatten, jemand könnte etwas planen, das die Sicherheit der BRD und das Staatswohl gefährde. Gegen die Maßnahmen konnte nicht geklagt werden, denn in »ihrem Vollzug ist der Rechtsweg nicht zulässig«. 42
Mit einer deutlichen Zwei-Drittel-Mehrheit stimmten am 30. Mai 1968 die Abgeordneten für die Notstandsgesetze – also auch mit vielen Stimmen der SPD. Die Haltung der SPD, an der sich bis heute nichts geändert hat, brachte Willy Brandt auf den Punkt: »Der Sozialdemokrat bezeichnete die Notstandsgesetze als ›erforderliche Vorsorgegesetzgebung‹, bei der man nur über das ›Wie‹, nicht über das ›Ob‹ streiten könne.«
Als die Kenntnis über die Absicht, Notstandsgesetze zu verabschieden, auch die 68er-Bewegung erreichte, war die Aufregung groß und einhellig. Es gab spannende und lehrreiche Debatten, was man davon zu halten hat und wie man sich dazu stellt, vor allem mit Blick auf das Ermächtigungsgesetz aus dem Jahr 1933, das mit Zustimmung bürgerlicher Parteien den Nazis den Weg an die Macht geebnet hatte. Und es gab sehr große Proteste gegen die Notstandsgesetze. So fand in Bonn unter dem Motto »Treibt Bonn den Notstand aus!« eine Demonstration von über 40.000 Menschen statt. Dort sprach unter anderem Heinrich Böll: »Das Gesetz erscheint den meisten Bürgern dieses Staates als eine Art Verkehrsregelung bei Naturkatastrophen, während es in Wahrheit fast alle Vollmachten für eine fast totale Mobilmachung enthält.«
Im Vorwort zur Broschüre »Gefahr im Verzuge« von Jürgen Seifert, die die Auseinandersetzung um Entwürfe über ein Notstandsgesetz vor über fünfzig Jahren darstellt, hält der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer fest:
Der Entwurf für eine Notstandsverfassung sieht praktisch unlimitierte Einschränkungen einer Reihe