Herrschaft der Angst. Imad Mustafa
Der zweite Lockdown um die Jahreswende 2020/2021 war kein Akt der Solidarität mit allen. Er war das Gegenteil: Er betraf explizit nur den Privatbereich und nahm alle Gefährdungen in der Arbeitswelt in Kauf. Gerade dieser Lockdown sollte nicht alle Menschen schützen, sondern ganz besonders die Wirtschaft schonen, wie dies das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gefordert hat: »Lockdown light darf nicht auf Industrie übergreifen.« 56
Genau das war und ist jedoch hochgradig verfassungswidrig. Oder, wer es weniger verfassungs»patriotisch« verorten will: Der verordnete Lockdown war in hohem Maße unsolidarisch. Auch diesen Fakt nahm die Linke schweigend hin.
Die Auseinandersetzung mit zurückliegenden Ausnahmezuständen würde es ermöglichen, an einen anderen zentralen Punkt von Notzuständen heranzukommen: Die Instrumentalisierung eines Anlasses. Immer, wenn wir Angst um unser Leben, um unser bisheriges Leben haben, suchen wir Schutz, und sind schnell bereit, »Opfer zu bringen«. Das machen alle Menschen. Wer aber den Neoliberalismus, die Ich-AG-Mentalität dieser Gesellschaft kritisiert, sollte das kollektive Gedächtnis bemühen, um mit der eigenen Angst ein wenig kollektiver umzugehen, als das gewollt und erwünscht ist.
Mehr denn je geht es darum, die Schließung von Kultureinrichtungen (die Selbst-Schließung von politischen Zentren) nicht hinzunehmen.
Dass Linke keine Profis für Ausnahmezustände sind, liegt auf der Hand. In aller Regel, und hier darf man in Seelenruhe vorausblicken, wird sie von diversen Nebenwirkungen mehr getroffen, als ihr lieb ist. Auch das sollte eine Linke wissen, wenn sie das Muster der vorangegangenen Ausnahmezustände nur halbwegs erkennt.
Wenn sie sich dessen gewahr ist, dann wäre es mehr denn nötig, die Einschränkungen in Frage zu stellen. Das darf sie ganz grundsätzlich machen und das hätte ihr Respekt und Achtung eingebracht.
Ganz vorsichtig formuliert, gibt es genug Grund, an der Wirkung von Lockdowns, wie sie sektoriert sind, zu zweifeln. Die Einschränkungen, die getroffen wurden und werden, stehen in keinem Verhältnis zu ihrer Wirkung(slosigkeit). Bis heute ist eine entsprechende Evaluierung ausgeblieben.
Man könnte noch viele weitere sachfremde Umstände anführen, um zu belegen, dass auch dieses Ausnahmegesetz, wie alle anderen zuvor auch, die Gunst der Stunde nutzt, also instrumentellen Charakter hat: Dazu zählen Demonstrationsverbote (aufgrund haarsträubender Begründungen), bis hin zur polizeilichen Auswertung von »Bewirtungsdaten«.
Man muss der gegenwärtigen Regierung nicht das Schlimmste unterstellen. Es reicht, sich ganz sicher darin zu sein, dass diese Gesetze einen Weg ebnen, der einen Putsch überflüssig macht, der einen Regimewechsel in Anwendung dieser »Ermächtigungsgesetze« möglich macht. Dass die Brücke dorthin nicht unbedingt diejenigen begehen, die sie gebaut haben, belegt die Geschichte der Notverordnungen und der Ermächtigungsgesetze.
Es gibt gute und sehr verständliche Gründe, das alles als ganz fernes Donnergrollen abzutun. Ich möchte uns alle fragen: Wer hätte vor zwei, drei Jahren vorhersagen wollen, dass wir uns sehr bald mit all dem abfinden, was die Corona-Maßnahmen erzwingen? Und wer wollte orakeln, dass selbst ganz vernünftige Menschen, vielleicht sogar aufgeklärte Linke dabei sein werden, Widerspruch und Ablehnung (gegen die Corona-Maßnahmen) auf eine Weise zu verfolgen und zu denunzieren, die jener staatsautoritären Gesinnung sehr nahekommt, gegen die man in den 1960er- und 1970er-Jahren aufbegehrt hatte.
Und ein letztes, bitteres Wort: Wenn man Solidarität in den Mund nimmt und damit die Regierungsformel: Wir stehen das gemeinsam durch absegnet, dann verschleiert man Herrschaftsverhältnisse, anstatt sie offenzulegen. Es geht ganz und gar nicht darum, die Kosten der Krise auf alle gerecht zu verteilen, denn eine Krise unter kapitalistischen Bedingungen sorgt nicht für Ausgleich oder gar (mehr) Gerechtigkeit, sondern für deren Verschärfung und Zuspitzung.
Eine Linke, die angesichts des drohenden Schlimmeren den Jetztzustand hinnimmt (und gar verteidigt), macht sich selbst überflüssig. Es kann und muss darum gehen, im Jetztzustand das lebendig, sichtbar und greifbar zu machen, was dem Jetzt eine Alternative entgegensetzt und so dem Schlimmeren den Weg abschneidet.
Quellen und Hinweise:
Heinrich Hannover/Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918−1933. Hamburg 1977
Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914−1933. München 2014
Auszüge aus der Debatte zum Republikschutzgesetz 1922 im Reichstag: https://www.bundesarchiv.de/aktenreichskanzlei/1919-1933/10a/wir/wir2p/kap1_1/kap2_69/para3_1.html
Hans Schneider, Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 1 (1953)
Matti Geschonneck, Das Verhör in der Nacht, Fernsehfilm 2020, basierend auf dem Theaterstück »Heilig Abend« von Daniel Kehlmann
Hasso Suliak/Redakteur Legal Tribune Online, Rechtsanwalt, Neue IfSG-Grundlage für Corona-Maßnahmen: Verfassungswidrig und voller handwerklicher Fehler: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/corona-massnahmen-28a-ifsg-rechtssicherheit-gerichte-verfassungswidrig-unbestimmt-anhoerung-bundestag/
Namentliches Abstimmungsergebnis im Bundestag: Corona-Maßnahmen (epidemische Lage), Antrag CSU/CDU, SPD am 18. November 2020: https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung/?id=699
Klaus Schwab/Thierry Malleret, Covid-19: The Great Reset (Geneva: WEF, 2020)
Emil Goldmann, Der Feind steht rechts | Teil I: https://wolfwetzel.de/index.php/2019/08/30/dieser-feind-steht-rechts-teil-i-emil-goldmann/
Heribert Prantl, Veni. Vidi. Virus, Süddeutsche Zeitung vom 14./15. November 2020
Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit – Aufstieg und Untergang der Weimarer Republik, 1. Auflage 1989 (Berlin)
Karl D. Bracher, Die deutsche Diktatur. Köln 1993
Heinrich August Winkler, Weimar 1918−1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993
Joachim C. Fest: Hitler. Berlin 1995
Reinhard Kühnl, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. Köln 2000
Karl Heinz Roth, Die andere Arbeiterbewegung. München 1974
Bernt Engelmann, Einig gegen Recht und Freiheit. Deutsches Anti-Geschichtsbuch, Zweiter Teil. München 1975
Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Lockdown light darf nicht auf Industrie übergreifen: https://www.iwkoeln.de/presse/iw-nachrichten/beitrag/hubertus-bardt-lockdown-light-darf-nicht-auf-industrie-uebergreifen.html
Paul Schreyer: Pandemie-Planspiele – Vorbereitung einer neuen Ära? https://www.youtube.com/watch?v=SSnJhHOU_28
24 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Band VI: Die Weimarer Reichsverfassung. Stuttgart [u. a.] 1981, S. 441−443
25 Autorenkollektiv, Geschichte Weimarer Republik. Frankfurt/Main 1973, S. 115