Herrschaft der Angst. Imad Mustafa
das materielle und diskursive »bordering« – das Schließen nationaler Grenzen oder das Stigmatisieren und Aus-Schließen spezifischer Gruppen (derjenigen, die sich nicht an die Corona-Maßnahmen halten, oder derjenigen, die aus Risikogebieten einreisen und das Virus möglicherweise importieren) – ist Element einer Politik der Angst.
Mit dieser Diagnose und meiner folgenden Analyse will ich keineswegs behaupten, dass es keiner Maßnahmen gegen die Pandemie, die das Verhalten der Individuen regeln und einschränken, bedürfte. Im Gegenteil, es geht mir vielmehr darum, aufzuzeigen, wie und warum dieses affektive Regieren, das Steuern mit Emotionen funktioniert und auf welcher affektiven und emotionalen Basis das Regieren der Pandemie arbeitet. Dadurch möchte ich auch deutlich machen, welche langfristigen Folgen diese Strategie für Gesellschaft und Demokratie haben kann.
Um dieses Regieren von und mit Gefühlen in der COVID-Pandemie besser zu verstehen, braucht es zunächst eine historische Perspektive. Nur so lässt sich erklären, weshalb das emotionale Regieren greift bzw. als Strategie überhaupt zur Verfügung stand. Diese historische Kontextualisierung der Anti-COVID-Governance erklärt auch, weshalb sie insbesondere anti-elitistische und »verandernde« (Othering), also rechtspopulistische Gegenreaktionen hervorruft, emanzipatorische Projekte aber marginalisiert bleiben.
Im Folgenden werde ich mit einer Rückschau auf neoliberale Transformationen der österreichischen Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren den historischen Kontext ausleuchten und daran anschließend das affektive Regieren (in) der COVID-Pandemie als Herrschaftsform darstellen. Abschließend werde ich Perspektiven der Demokratisierung kurz diskutieren.
2. Neoliberaler affektiver Exzess
Der Neoliberalismus – hier verwendet als Sammelbegriff für die Dominanz des Marktes in allen gesellschaftlichen Bereichen und Beziehungen – ist von zahlreichen multiplen Krisen der kapitalistischen Organisation von Arbeit und Leben begleitet.59 Die Finanzialisierung kapitalistischer Marktverhältnisse führte 2008/09 zu einer globalen Banken- und Finanzkrise. Die Dominanz der Marktlogik in allen sozialen Beziehungen sowie die sektorale Reduktion (sozial-)staatlicher Regulierung hatte zudem die Zuspitzung kapitalistischer »Sorglosigkeit« im doppelten Sinne zur Folge – zum einen als egoistische Anrufung von Wettbewerbsfähigkeit und Konkurrenz, zum anderen als Vernachlässigung und Missachtung gesellschaftlicher Solidarität und Sorge um andere Menschen. Diese »Sorglosigkeit« ist allerdings keine individuelle Gefühlslage oder ein individuelles »Verschulden«, sondern verweist auf ein Strukturproblem des patriarchalen Kapitalismus 60 – auf die Externalisierung von sozialer Reproduktion, von Sorge um andere Menschen und um die Natur. Während Sorgearbeit unterfinanziert sowie in den vermeintlichen Privatbereich und damit an Frauen als unbezahlte Tätigkeit delegiert wird, werden Naturressourcen immer exzessiver ausgebeutet. Das Ergebnis ist erstens eine »Sorgekrise«, also die Überlastung von Pflege- und Gesundheitseinrichtungen und ein Mangel an Pflegepersonen für bedürftige, kranke und alte Menschen. Die Vernutzung der Natur ist zweitens eine der Ursache der COVID-Pandemie – und vermutlich weiterer zukünftiger Pandemien.
Die neoliberale Ära war durch Prozesse der Verunsicherung und Prekarisierung des Lebens vieler Menschen gekennzeichnet. Globale kapitalistische Märkte brauchen flexible Arbeitskräfte und mobilisieren zur Migration – nicht zuletzt in die Zentren kapitalistischer Produktion. Flucht ist eine Form dieser Migration, aber auch eine Konsequenz von Kriegen, Natur- und Lebensperspektivenzerstörung in der kapitalistischen Peripherie. Auf diese prekären Verhältnisse von Migration und Flucht reagierte die Europäische Union mit einer »nekropolitischen« Strategie, 61 also mit der Inkaufnahme von Toten im Mittelmeer und der Gefühlskälte gegenüber dem Leben von Geflüchteten. In Österreich hinterließ – wie anderswo auch in Europa – die Dominanz des Marktes über staatliche Institutionen, die Ökonomisierung des sozialen Lebens in den vergangenen 30 Jahren Spuren im Leben von Menschen, in der Art und Weise, wie sie sich als Bürger_innen entwerfen und begreifen können: Der neoliberale Umbau errichtete in europäischen Ländern, wenn auch mit nationalen Unterschieden, Regime der sozialen Unsicherheit und Prekarität, aber auch steigender Kontrolle und autoritärer Versicherheitlichung. Nicht nur Grenzschließungen vor vermeintlichen »Migrationsströmen«, sondern auch die Kontrolle des öffentlichen Raums und die Überwachung und Indienstnahme privater Daten sind Aspekte von neoliberalem Autoritarismus. Wilhelm Heitmeyer spricht von »autoritärem Kapitalismus«, der den Anstieg »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« und den Aufstieg rechtspopulistischer Akteure begleitet.62
Dieses neoliberale autoritäre Regieren war begleitet von einem emotionalen Exzess, von der Produktion spezifischer Gefühlszustände: Angst vor dem Verlust des Jobs oder des erreichten Wohlstands, Scham angesichts eines möglichen Versagens im Wettbewerb am Arbeitsplatz oder in privaten Beziehungen. Auch Erschöpfung durch die Entgrenzung von Arbeit, Freizeit und Privatsphäre, also durch die ständige Verfügbarkeit als Ausweis von Leistungswille und -Leistungsfähigkeit, sowie durch soziale Entsicherung und den Abbau sozialstaatlicher Rechte und Garantien ist eine intensive neoliberale Gefühlslage. Waren historisch alle Formen des Regierens – auch in modernen Demokratien – affektiv begleitet (und sei es in der Form der Negation von Affekten und Emotionen als irrational, unpolitisch und daher demokratiegefährdend), so kennzeichnet das neoliberale affektive Regieren doch eine neue Qualität. Im Anschluss an Michel Foucault lässt sich von »affektiver neoliberaler Gouvernementalität« 63 sprechen, das heißt von einer widersprüchlichen Mischung der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse und des Selbstverständnisses von Menschen durch einerseits kontrollierend-herrschaftliche Steuerung ihrer Gefühle – von Wettbewerbseifer, Angst und Scham. Andererseits ist die neoliberale affektive Gouvernementalität durch die Ermunterung zur Selbststeuerung (der eigenen Gefühle) gekennzeichnet – also der Mobilisierung von Gefühlen und Affekten im Sinne ihrer besseren kapitalistischen Verwertbarkeit wie auch ihres Einsatzes für ein (nicht näher bestimmtes) Allgemeinwohl, z. B. im ehrenamtlichen Engagement oder in der Bereitschaft zu aktiver (erwerbs- und leistungsorientierter) Lebensgestaltung. Die affektive neoliberale Gouvernementalität deutet also auf die Veränderung des Staates, des Sozialstaates und seiner Steuerungskompetenzen (nicht zuletzt auf einen Abbau staatlicher Regulierungskompetenz) hin, wie auch auf eine affektive Selbststeuerung und »Selbsterfindung« der Menschen. Diese affektive neoliberale Mobilisierung ließ eine widersprüchliche Mischung aus Entsicherung, Angst, Kontrolle, Disziplin und dem Wunsch nach Autorität entstehen.
Vor dem Hintergrund dieser affektiven Herrschafts- und Regierungsform entstanden ganz unterschiedliche soziale und politische Bewegungen: Herrschaftskritische soziale Gleichheitsbewegungen wie »Occupy« oder die feministische Bewegung »Ni Una Menos« 64 reagierten auf diese neoliberalen Umbauten mit affektiven Gegen-Mobilisierungen. Aber auch rechtspopulistische Bewegungen und Parteien nutzten den ambivalenten neoliberalen Emotionsüberfluss für ihre anti-migrantische Agenda und für Ungleichheitspolitiken.
Wendy Brown 65 verortet das Entstehen des Trumpismus in den USA in den »Ruinen des Neoliberalismus« – so der Titel ihres Buches. Aber die politische Rechte baut ihre Strategie nicht allein auf den Ruinen des Neoliberalismus auf – sie profitiert vielmehr von den neoliberalen Veränderungen, nutzt vor allem den neoliberalen affektiven Exzess für ihre politischen Strategien, die mobilisierten Emotionen und Affekte, von Angst, Scham, Ärger und Wut, aber auch vom Begehren nach autoritären (Auf-)Lösungen dieser widersprüchlichen affektiven Lagen. Rechtspopulistischen Akteuren ist es in den letzten zehn Jahren gelungen, diese ambivalenten Gefühlslagen antagonistisch (»Wir gegen die da oben« und »Wir gegen die ›Anderen‹«) zuzuspitzen und in eine »Politik der Angst« 66 zu integrieren. Zugleich wurden Menschen zu Hass gegen die als »Andere« Identifizierten ermächtigt und die Freude, ja die Lust am Ausgrenzen und Erniedrigen wurde geschürt. Heitmeyer bezeichnet dies als »rohe Bürgerlichkeit«.67 Die neoliberale affektive Gouvernementalität entfaltete also ihre zerstörerische, ihre demokratiezerstörende und autoritäre Form im rechtspopulistischen Regieren.
3. Affektives Regieren der COVID-Pandemie
In diese affektive Situation, in Österreich beispielhaft vorfindbar, brach gleichsam die COVID-Pandemie ein. Neoliberales affektives Regieren und die rechtspopulistische Verschärfung bilden daher die