Die tödlichen Gedanken. Stefan Bouxsein

Die tödlichen Gedanken - Stefan Bouxsein


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Jahren eine Klasse wiederholen mussten. Ich habe mich auf die Schüler beschränkt, bei denen die Benotung von Frau Jürgens Anteil an der Nichtversetzung hatte.«

      Siebels nahm das Blatt Papier entgegen und las:

      Norbert Stoll, nicht versetzt im Sommer 2011. Hat anschließend die Schulausbildung abgebrochen. Probleme im Elternhaus.

      Jessica Gruber, nicht versetzt im Sommer 2010. Im Sommer 2011 die Oberstufe ohne Abschluss verlassen. Drogenprobleme, Probleme im Elternhaus. Jessica Gruber hat eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen.

      Abdul Ökuz, nicht versetzt im Sommer 2010. Hat anschließend die Schulausbildung abgebrochen. Mehrere Vorstrafen wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung.

      Tina Maurer, nicht versetzt im Sommer 2009. Hat die Klasse wiederholt und 2011 erfolgreich das Abitur bestanden.

      Jens Gärtner, nicht versetzt im Sommer 2010. Erhebliche Probleme im schulischen Umfeld (Prügeleien mit Mitschülern, Drogenmissbrauch, etc.) Hat im Schuljahr 2011 kurz vor den Abiturprüfungen die Schule ohne Abschluss verlassen. Probleme im Elternhaus.

      Jana Kunz, nicht versetzt im Sommer 2008. Hat anschließend das Gymnasium gewechselt. Übergang zur Max-Beckmann-Schule. Beide Elternteile 2005 bei Autounfall tödlich verunglückt. Jana Kunz wurde von ihrer Großmutter aufgenommen.

      »Schicksale«, murmelte Siebels vor sich hin und reichte Till die Liste. »Tina Maurer können wir wohl streichen, wenn sie ihr Abitur schlussendlich doch in der Tasche hatte. Oder spricht etwas dagegen?«

      »Ich habe sie nur der Vollständigkeit halber auf die Liste gesetzt. Soweit ich weiß, studiert sie jetzt auch. Die anderen beiden Damen erscheinen mir auch keine geeigneten Kandidaten zu sein. Jana Kunz hatte nach dem Verlust ihrer Eltern verständlicherweise erhebliche Probleme mit ihrer Schulausbildung. Wie es mit ihr in der Max-Beckmann-Schule weitergegangen ist, weiß ich leider nicht. Jessica Gruber hatte auch ein problematisches Elternhaus. Ihre schulischen Probleme begannen nicht erst in der Oberstufe, sie hat sich seit der fünften Klasse mehr schlecht als recht durchgewurschtelt. Dass sie abgebrochen und eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen hat, war für sie eher von Vorteil. Sie ist in der Schule durch Drogenkonsum aufgefallen. Wahrscheinlich war sie dem Leistungsdruck nicht gewachsen.«

      Till hatte sich jetzt auch mit der Liste vertraut gemacht. »Die männlichen Kandidaten scheinen mit einem gewissen Aggressionspotential ausgestattet zu sein. Allerdings habe ich ein Problem mit der Art und Weise, wie Frau Jürgens umgebracht wurde.« Siebels setzte die Oberstufenleiterin über die genaueren Todesumstände ihrer Kollegin ins Bild.

      »Einem Abdul Ökuz oder Jens Gärtner würde ich eher ein Messer als Tatwaffe zutrauen«, spekulierte Till. »Klebstoff als Mordwaffe, das klingt in meinen Ohren nach einer Täterin.«

      »Norbert Stoll war eher ein verbaler Draufgänger«, erinnerte sich die Oberstufenleiterin. »Zu Gewalt neigte er nicht. Aber er war hinterlistig und unberechenbar. Also bei ihm würde ich eher auf Klebstoff als auf ein Messer tippen. Ehrlich gesagt, war ich sehr froh, als er die Schule verlassen hat. Aber ich möchte um Himmels willen keine falschen Anschuldigungen erheben.«

      »Wir sind Ihnen für Ihre Hinweise sehr dankbar. Alles andere können Sie uns überlassen. Es kommt niemand zu Schaden, der mit der Sache nichts zu tun hat, darauf können Sie sich verlassen«, beruhigte Siebels seine Gesprächspartnerin.

      »Würden Sie mich bitte noch einen Moment allein lassen, bevor ich die Versammlung eröffne. Ich muss noch mal in mich gehen und mir die richtigen Worte zurechtlegen.«

      Siebels und Till verließen das Schulgelände. Siebels zündete sich am Straßenrand eine Zigarette an. Till beobachtete die Schüler, die nun in größeren Grüppchen von allen Richtungen zur Schule trotteten. Aus dem Schultor heraus kam Frau Jäger in Begleitung eines Schülers. Till erkannte in dem dunkelhaarigen Jungen den Schläfer aus dem Bett der Lehrerin. Lukas Batton. Er machte Siebels auf die beiden aufmerksam. Lukas schaute betreten zu Boden, als er mit Frau Jäger vor den Beamten stand.

      »Das ist Lukas Batton«, stellte Frau Jäger ihn vor.

      »Hallo, Lukas«, begrüßte Siebels ihn betont freundlich.

      »Hallo«, sagte Lukas schüchtern und schaute hilfesuchend zu seiner Biologielehrerin.

      »Hallo«, begrüßte ihn auch Till. »Ich war gestern Abend bei deinen Eltern.«

      Lukas bedachte Till mit einem skeptischen Blick.

      »Würden Sie uns einen Moment allein mit Lukas sprechen lassen«, bat Siebels Frau Jäger.

      Nachdem Frau Jäger sich zurück auf den Schulhof begeben hatte, und von dort aus das Geschehen um Lukas beobachtete, kam Siebels gleich zur Sache.

      »Du weißt ja bestimmt schon, was gestern Nacht passiert ist.«

      »Ja. Daniel hat mich angerufen, nachdem Sie bei ihm waren. Und Frau Jäger hat es mir vorhin auch erzählt.«

      »Weiß Frau Jäger auch, dass du seit einigen Wochen bei Frau Jürgens gewohnt hast?«

      Lukas schüttelte den Kopf. »Nein, außer Daniel wusste das niemand.«

      »Hast du sie umgebracht?«, fragte Till geradeheraus.

      Lukas bekam einen verängstigten Gesichtsausdruck. »Nein. Natürlich nicht.«

      »Wo bist du denn gewesen, als es passiert ist?«, wollte Siebels wissen.

      »Muss ich das sagen?« Lukas klang verzweifelt.

      »Besser wäre das«, erklärte ihm Till. »Sonst müssen wir davon ausgehen, dass du sie umgebracht hast. Du hast bei ihr gewohnt, es gibt keine Einbruchspuren, sie wurde in ihrer Wohnung getötet. Was würdest du an unserer Stelle wohl darüber denken?«

      »Sie war eine tolle Lehrerin. Sie hat versucht mir zu helfen, weil ich zuhause so viel Stress mit meinen Eltern habe«, holte Lukas zu einer Erklärung aus.

      »Das ist aber nicht die Antwort auf die Frage«, erwiderte Till.

      Lukas blickte starr auf seine Füße, als er antwortete. »Ich habe die letzte Nacht bei Frau Kremer verbracht. Das ist unsere Kunstlehrerin.«

      Siebels pfiff leise durch die Zähne und Till freute sich schon darauf, diese Neuigkeiten an Charly weiterzugeben.

      »Hast du gleich mit zwei Lehrerinnen was laufen?«, fragte Siebels erstaunt.

      »Nein, so ist das nicht«, wehrte Lukas ab. »Dagmar, also Frau Kremer, und Frau Jürgens sind ganz gut befreundet. Frau Jürgens hatte mich ja ursprünglich nur mal für eine Nacht bei sich wohnen lassen. Das war, als ich von zuhause abgehauen bin. Daraus sind dann ein paar Wochen geworden. Frau Jürgens hat das irgendwann Frau Kremer erzählt. Sie hat Angst bekommen, dass das rauskommt. Frau Kremer hat dann angeboten, mich auch für einige Nächte aufzunehmen, damit das nicht so auffällt bei Frau Jürgens.«

      »Ist Frau Kremer heute hier?«, hakte Siebels nach.

      Lukas nickte. »Sie wollte kurz nach mir aus dem Haus gehen und müsste jetzt bald kommen.«

      »Jetzt mal unter uns«, stieß Till ihn kumpelhaft an. »Da ist nix gelaufen zwischen dir und deinen Lehrerinnen? Oder doch?«

      »Das geht Sie doch gar nichts an«, schimpfte Lukas und wollte wieder zurück auf das Schulgelände.

      »Einen Moment noch«, hielt Till ihn zurück. »Einen schönen Gruß von deinem Vater soll ich ausrichten. Er wohnt ab heute im Hotel und möchte dich bei deiner Mutter zuhause wissen. Und ich würde dir raten, seinen Wunsch zu erfüllen. Jedenfalls solange wir am Ermitteln sind. Wäre nicht so gut, wenn das jetzt rauskommst, was du so treibst. Verstehst du mich?«

      »Ist jetzt eh egal. Das Schuljahr ist rum und ich bin sitzen geblieben. Da kann ich mir in den Sommerferien auch den Streit meiner Eltern antun.«

      »Nach der Versammlung müssen wir uns noch mal unterhalten«, sagte Siebels. »Und dann bringen wir dich nach Hause.«


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