Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments. Michael Schneider

Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments - Michael Schneider


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Dieser grundlegende Gedanke ist bereits zu Beginn des Abschnitts 1166a angelegt:

      τὰ φιλικὰ δὲ τὰ πρὸς τοὺς πέλας, καὶ οἷς αἱ φιλίαι ὁρίζονται, ἔοικεν ἐκ τῶν πρὸς ἑαυτὸν ἐληλυθέναι. τιθέασι γὰρ φίλον τὸν βουλόμενον καὶ πράττοντα τἀγαθὰ ἢ τὰ φαινόμενα ἐκείνου ἕνεκα, ἢ τὸν βουλόμενον εἶναι καὶ ζῆν τὸν φίλον αὐτοῦ χάριν· ὅπερ αἱ μητέρες πρὸς τὰ τέκνα πεπόνθασι, καὶ τῶν φίλων οἱ προσκεκρουκότες.

      Das freundschaftliche Verhalten zu den Menschen, die uns nahestehen, und das, was für die Arten der Freundschaft bestimmend ist, scheint sich aus dem Verhalten zu uns selbst zu ergeben. Denn als Freund gilt, wer das Gute oder was ihm als solches erscheint, um des anderen willen wünscht und tut, oder wer um des Freundes willen wünscht, dass es diesen gibt und dieser lebt. So geht es Müttern mit ihren Kindern und Freunden, die sich zerstritten haben.

      […]

      τούτων δέ τινι καὶ τὴν φιλίαν ὁρίζονται. πρὸς ἑαυτὸν δὲ τούτων ἕκαστον τῷ ἐπιεικεῖ ὑπάρχει

      Durch eines dieser Merkmale bestimmt man auch die Freundschaft. Jedes davon findet sich beim Guten in Bezug auf sich selbst.

      Genauso wie unser Verhalten im Verhältnis zu uns selbst nach dem Guten strebt,4 sieht Aristoteles also Freundschaft als Grundlage für das Handeln für andere. Umgekehrt ist das persönliche Glück auch abhängig vom Schicksal der Freunde.

      Für das Verständnis der aristotelischen Freundschaftskonzeption, und damit auch einer enzyklopädischen Voraussetzung von Leserinnen und Lesern der neutestamentlichen Schriften im 1.Jahrhundert, lohnt sich ein weiterer Blick in Buch 8 und 9 der Nikomachischen Ethik. In dem auf den eben zitierten Textabschnitt folgenden (1169a) wird noch offensichtlicher, dass Freundschaft hier als Topos einer nach dem Guten strebenden Tugendethik verstanden wird:

       Der Gute soll sich selbst lieben (τὸν μὲν ἀγαθὸν δεῖ φίλαυτον εἶναι).

       Für den Schlechten besteht ein Zwiespalt zwischen dem, was er tun soll und dem, was er tatsächlich tut (τῷ μοχθηρῷ μὲν οὖν διαφωνεῖ ἃ δεῖ πράττειν καὶ ἃ πράττει·), während für den Guten Tun und Sollen zusammenfällt (ὁ δ' ἐπιεικής, ἃ δεῖ, ταῦτα καὶ πράττει·).

       Die Vernunft eines jeden Menschen wählt das für sie Beste (πᾶς γὰρ νοῦς αἱρεῖται τὸ βέλτιστον ἑαυτῷ) und der Gute gehorcht eben dieser Vernunft (ὁ δ' ἐπιεικὴς πειθαρχεῖ τῷ νῷ.).

       Der gute Mensch tut vieles für die Freunde und das Vaterland (καὶ τὸ τῶν φίλων ἕνεκα πολλὰ πράττειν καὶ τῆς πατρίδος) bis hin zur Inkaufnahme des eigenen Todes (κἂν δέῃ ὑπεραποθνήσκειν·).

      Obwohl es für Aristoteles im Allgemeinen erstrebenswert scheint, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen, bleibt für ihn zunächst offene Frage, ob glückliche bzw. selige und autarke Menschen der Freundschaft bedürfen:

      ἀμφισβητεῖται δὲ καὶ περὶ τὸν εὐδαίμονα, εἰ δεήσεται φίλων ἢ μή. οὐθὲν γάρ φασι δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν· ὑπάρχειν γὰρ αὐτοῖς τἀγαθά· αὐτάρκεις οὖν ὄντας οὐδενὸς προσδεῖσθαι, τὸν δὲ φίλον, ἕτερον αὐτὸν ὄντα, πορίζειν ἃ δι' αὑτοῦ ἀδυνατεῖ· ὅθεν ὅταν ὁ δαίμων εὖ διδῷ, τί δεῖ φίλων;

      Eine Streitfrage ist es auch, ob der Glückliche Freunde braucht oder nicht. Man sagt nämlich, dass die glückseligen und autarken Menschen keiner Freunde bedürften, da sie ja schon alle Güter hätten; weil sie also autark wären, bräuchten sie zusätzlich nichts mehr, der Freund aber, der ein anderes Ich sei, verschaffe einem, was man von sich aus nicht erreichen kann. Daher auch das Sprichwort: ‚Wenn die Gottheit Gutes gibt, was bedarf es der Freunde?‘

      Gleichzeitig möchte Aristoteles auch den Glückseligen das Glück der Freundschaft nicht vorenthalten:

      ἔοικε δ' ἀτόπῳ τὸ πάντ' ἀπονέμοντας τἀγαθὰ τῷ εὐδαίμονι φίλους μὴ ἀποδιδόναι, ὃ δοκεῖ τῶν ἐκτὸς ἀγαθῶν μέγιστον εἶναι.

      Andererseits erscheint es unlogisch, dass man dem Glücklichen, wenn man ihm schon an allen Gütern Anteil gibt, Freunde vorenthält, was doch als das größte unter den äußeren Gütern gilt.

      Neben dieser grundlegenden Bestimmung von Freundschaft bietet die Nikomachische Ethik (jeweils in Abschnitt 1156a) unterschiedliche Differenzierungen der φιλία. Neben der tugendhaften Freundschaft, die auf das Gute zielt und somit als wahre φιλία bezeichnet werden kann, grenzt Aristoteles die Nutz- und die Lustfreundschaft ab:

      οἱ μὲν οὖν διὰ τὸ χρήσιμον φιλοῦντες ἀλλήλους οὐ καθ' αὑτοὺς φιλοῦσιν, ἀλλ' ᾗ γίνεταί τι αὐτοῖς παρ' ἀλλήλων ἀγαθόν.

      Diejenigen, die einander wegen des Nutzens lieben, lieben einander nicht als solche, sondern nur sofern ihnen Gutes vom anderen zuteilwird.

      ὁμοίως δὲ καὶ οἱ δι' ἡδονήν· οὐ γὰρ τῷ ποιούς τινας εἶναι ἀγαπῶσι τοὺς εὐτραπέλους, ἀλλ' ὅτι ἡδεῖς αὑτοῖς.

      Dasselbe gilt für jene, die wegen ihrer Lust lieben; denn sie lieben die Umgänglichen nicht wegen ihrer persönlichen Eigenschaften, sondern weil sie ihnen angenehm sind.

      Explizit grenzt Aristoteles noch einmal diese Freundschaftsformen um der Lust bzw. des persönlichen Nutzens wegen von der tugendhaften Freundschaft ab. Diese kann als vollkommen gelten, da die Freunde am Guten teilhaben (1156b):

      τελεία δ' ἐστὶν ἡ τῶν ἀγαθῶν φιλία καὶ κατ' ἀρετὴν ὁμοίων·

      Vollkommen ist die Freundschaft zwischen Menschen, die gut sind und in ihrer Tugend einander gleichen.

      Die wenigen Abschnitte aus der Nikomachischen Ethik ordnen den Freundschaftsdiskurs in eine Anthropologie ein, deren Ideale die großen Konzepte des Guten, des Vollkommenen, des Tugendhaften sind. Nicht umsonst betont der Text abschließend (Abschnitt 1177a), dass diese Ideale im Besonderen durch eine philosophische Existenz und weniger in anderen Lebensbereichen wie der Politik erreicht werden können.5 Insbesondere ist in der theoretischen bzw. philosophischen Existenz die o.g. Autarkie, die nicht mehr auf Freundschaft angewiesen


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