Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments. Michael Schneider

Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments - Michael Schneider


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sind Ziel und zugleich Ausdruck eines Lebens in εὐδαιμονία. Freundschaft bezeichnet somit eine Haltung und ein bestimmtes Verhalten gegenüber den Anderen, aber auch gegenüber sich selbst.

      Näher an der Entstehungszeit der neutestamentlichen Schriften ist Ciceros Laelius. De amicitia6 zu verorten. Dieser Text formuliert grundlegend thetisch in Abschnitt 20:

       Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benivolentia et caritate consensio.

      Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als Übereinstimmung in allen göttlichen und menschlichen Dingen, verbunden mit Sympathie und Liebe.

      Das Streben nach Gutem, nach Vollkommenem und die Vorstellung der Freundschaft als eine Form der Liebe wie bei Aristoteles tritt hier zugunsten eines weitgehenden consensio in nahezu allen vorstellbaren Lebensbereichen zurück. Allerdings schließt diese Übereinstimmung innerhalb des Freundschaftsverhältnisses nicht aus, dass differente Positionen kritisiert werden und auch der Freund selbst kritisiert werden kann.

       Haec igitur prima lex amicitiae sanciatur, ut ab amicis honesta petamus, amicorum causa honesta faciamus, ne exspectemus quidem, dum rogemur; studium semper adsit, cunctatio absit; consilium vero dare audeamus libere. Plurimum in amicitia amicorum bene suadentium valeat auctoritas, eaque et adhibeatur ad monendum non modo aperte sed etiam acriter, si res postulabit, et adhibitae pareatur.

      Das also soll als oberstes Gesetz der Freundschaft gelten, dass wir von Freunden nur Ehrenhaftes fordern, nur Ehrenhaftes Freunden zuliebe tun, ja dass wir damit gar nicht abwarten, bis wir darum gebeten werden. Wir halten uns stets bereit, da gibt es kein Zögern; auch freimütig unseren Rat zu erteilen sollen wir uns keineswegs scheuen. Größtes Gewicht soll in einer Freundschaft das Ansehen wohlmeinender Freunde haben, dieses Ansehen soll eingesetzt werden, um nicht nur offen, sondern auch, wenn es sein muss, mit Nachdruck zu ermahnen, und wo es geltend gemacht wird, soll man ihm auch gehorchen. (Abschnitt 44)

      Überhaupt scheint es bei Cicero ein wesentliches Merkmal der Freundschaft zu sein, sich gegenseitig auf Fehler hinzuweisen, dort die Wahrheit zu sagen, wo der Freund im Irrtum ist (Abschnitte 88f.):

       nam et monendi amici saepe sunt et obiurgandi, et haec accipienda amice, cum benevole fiunt. […] Molesta veritas, siquidem ex ea nascitur odium, quod est venenum amicitiae, sed obsequium multo molestius, quod peccatis indulgens praecipitem amicum ferri sinit; maxima autem culpa in eo, qui et veritatem aspernatur et in fraudem obsequio impellitur.

      Freunde müssen öfter ermahnt und auch zurechtgewiesen werden, und das hat man freundschaftlich hinzunehmen, wenn es in wohlwollender Absicht geschieht. […] Unangenehm ist die Wahrheit, zumal wenn aus ihr Hass entsteht, ein wahres Gift für die Freundschaft, doch Nachgiebigkeit ist noch unangenehmer, weil sie durch Nachsicht mit Verfehlungen den Freund in sein Unglück rennen lässt. Die meiste Schuld aber liegt bei dem, der zuerst die Wahrheit nicht hören will und sich dann durch die Nachgiebigkeit zum Selbstbetrug verleiten lässt.

      Ciceros Position zur Freundschaft umfasst also durchaus das Aussprechen ‚unangenehmer Wahrheiten‘. Innerhalb der Freundschaftsbeziehung besteht sogar die Pflicht, Kritik offen zu verbalisieren, um eine Meinungs- oder Verhaltensänderung zu erreichen und somit vor einem noch größeren Unglück zu bewahren. Eine solche Kritik scheint Cicero insbesondere dann angebracht, wenn sich die Pflichten gegenüber Freunden und die Pflichten gegenüber dem Staat widersprechen. Durchaus in Unterscheidung zu Aristoteles ist der Freundschaftsdiskurs klar im Politischen angesiedelt (Abschnitt 40):

       Haec igitur lex in amicitia sanciatur, ut neque rogemus res turpes nec faciamus rogati. Turpis enim excusatio est et minime accipienda cum in ceteris peccatis, tum si quis contra rem publicam se amici causa fecisse fateatur.

      Das soll uns also als unverbrüchliches Gesetz in der Freundschaft gelten, dass wir etwas Unehrenhaftes weder erbitten noch es auf Bitten hin tun. Schändlich und keineswegs annehmbar ist nämlich die Entschuldigung – schon bei anderen Verfehlungen, besonders aber bei solchen gegen den Staat –, wenn jemand erklärt, er habe um des Freundes willen so gehandelt.

      Freundschaft ist schließlich eine Form des Beziehungsverhaltens, die nicht aus Schwäche, sondern gegenseitiger Stärke resultiert. Die ‚wahre Freundschaft‘ basiert auch bei Cicero auf der hohen Tugend der Wahrheit und des freien Willens:

       Saepissime igitur mihi de amicitia cogitanti maxime illud considerandum videri solet, utrum propter imbecillitatem atque inopiam desiderata sit amicitia, ut dandis recipiendisque meritis quod quisque minus per se ipse posset, id acciperet ab alio vicissimque redderet, an esset hoc quidem proprium amicitiae, sed antiquior et pulchrior et magis a natura ipsa profecta alia causa. Amor enim, ex quo amicitia nominata est, princeps est ad benevolentiam coniungendam. Nam utilitates quidem etiam ab iis percipiuntur saepe qui simulatione amicitiae coluntur et observantur temporis causa, in amicitia autem nihil fictum est, nihil simulatum et, quidquid est, id est verum et voluntarium.

      Je öfter ich also über die Freundschaft nachdenke, desto mehr scheint mir das folgender reiflicher Überlegung wert: Sucht man Freundschaft nur aus Schwäche und Bedürftigkeit, damit im Geben und Empfangen von Wohltaten ein jeder das, was er von sich aus weniger vermag, von einem anderen erhält und dafür Gegenleistungen erbringt? Oder ist dies zwar ein charakteristisches Merkmal der Freundschaft, aber es gibt doch noch einen anderen Grund, der ursprünglicher und edler ist und mehr der menschlichen Natur entstammt? Die Liebe nämlich, amor, von der der Ausdruck Freundschaft, Freundesliebe, amicitia, gebildet wird, ist ja der erste Antrieb, ein Band gegenseitiger Sympathie zu knüpfen. Vorteile gewinnt man auch oft von denen, die man mit erheuchelter Freundschaft umwirbt und nur bestimmter Umstände wegen achtet. Bei einer echten Freundschaft aber ist nichts erdichtet, nichts erheuchelt, und alles beruht auf Wahrhaftigkeit und freiem Willen.7 (Abschnitt 26)

      Für das griechische wie das lateinische Denken, wären φιλία und amicitia wohl zutreffend mit ‚Freundschaftsliebe‘ zu übersetzen, da sie jeweils semantische Aspekte der deutschen Begriffe ‚Freundschaft‘ und ‚Liebe‘ miteinander verbinden. Und auch schon im Lateinischen selbst zeigt sich die Verbindung bereits in der etymologischen Verwandtschaft von amor, amicitia und amare.8

      1.3 Freundschaft in alt- und zwischentestamentlichen Texten

      Ein kurzer Blick in alt- und zwischentestamentliche Texte lohnt zunächst einmal aufgrund einer Fehlanzeige: Das hebräische Alte Testament kennt im Grunde weder einen Begriff für ‚Freund‘, noch für ‚Freundschaft‘, der vergleichbar wäre mit φίλος und φιλία. Gerade im Vergleich zu den philosophischen bzw. politischen Reflexionen in der griechischen und lateinischen Literatur fällt auf, dass die hebräischen heiligen Texte Israels keinen Diskurs über das Abstraktum der Freundschaft führen. Dort, wo Übersetzungen der Texte vom Freund oder von Freundschaft sprechen, verwendet das Alte Testament zumeist den Begriff רֵעַ, oft übersetzt mit ‚Nächster‘, aber auch im Sinne von ‚Nachbar‘ oder weiter gefasst ‚Mitmensch‘.1 Das Wort kann aber auch vom Eigenen abgrenzen und den Anderen bezeichnen, der in einer zunächst nicht weiter bestimmten Weise nahe, aber doch jenseits einer Grenze verortet wird.

      כִּ֣י יְסִֽיתְךָ֡ אָחִ֣יךָ בֶן־אִ֠מֶּךָ אֹֽו־בִנְךָ֨ אֹֽו־בִתְּךָ֜ אֹ֣ו׀ אֵ֣שֶׁת חֵיקֶ֗ךָ אֹ֧ו רֵֽעֲךָ֛ אֲשֶׁ֥ר כְּנַפְשְׁךָ֖ בַּסֵּ֣תֶר לֵאמֹ֑ר

      ᾿Εὰν δὲ παρακαλέσῃ σε ὁ ἀδελφός σου ἐκ πατρός σου ἢ ἐκ μητρός σου ἢ ὁ υἱός σου ἢ ἡ θυγάτηρ σου ἢ ἡ γυνὴ ἡ ἐν κόλπῳ σου ἢ ὁ φίλος ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς σου λάθρᾳ λέγων […]

      Wenn dich dein Bruder,


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