Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments. Michael Schneider

Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments - Michael Schneider


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mit den genannten Gruppen der Zöllner und der Sünder steht. Jedenfalls ist das Tun des Schlechten, die Ausbeutung anderer das Gemeinsame, das hinter diesem Vorwurf der Freundschaft steht und von dem sich der Text abgrenzt:

      „He becomes the friend of sinners and tax collectors because of his joy in their common freedom – God’s future. When ‚respectable society‘ calls him a ‚friend of sinners and tax collectors,‘ however, it wants only to denounce and compromise him. In keeping with the law according to which ist ranks are organized, respectable society identifies people with their failings and speaks of sinners […] From this society speaks the law, which defines people always by their failings. Jesus, however, as the Son of Man without this inhuman law, becomes the friend of sinful and sick persons. By forgiving their sins he restores tot hem their respect as men and women.“1

      Eine weitere Abgrenzung, die eine besondere Pointe vor dem intertextuellen Hintergrund der griechischen Texte zur Freundschaft erhält, findet man in Mt 5,47:

      καὶ ἐὰν ἀσπάσησθε τοὺς ἀδελφοὺς ὑμῶν μόνον, τί περισσὸν ποιεῖτε; οὐχὶ καὶ οἱ ἐθνικοὶ τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν;

      Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

      Bemerkenswert ist zunächst die von maßgeblichen Zeugen überlieferte Lesart, die ἀδελφούς durch φίλους ersetzt. Ein liebenswertes (in Mt 5,47 auch: ehrerbietendes)2 Verhalten gegenüber den Gleichen, den Freunden, den Geschwistern innerhalb einer Freundschaftsbeziehung ist hier als typisches Verhalten der nicht zur eigenen Gruppe gehörenden Anderen (οἱ ἐθνικοὶ) vorgestellt – eine offensichtliche Kritik genau an der etwa bei Aristoteles entfalteten Freundschaftsethik.

      Der Matthäustext setzt hier eine bemerkenswerte Pointe, die sich vor dem Hintergrund der griechischen Texte noch einmal anders liest:

      „Selbst dann, wenn der ‚Nächste‘ sich seinerseits nicht als liebenswürdiger und solidarischer Mitmensch oder gar als Freund erweist, ist das Gebot gültig, so daß in der radikalen und demonstrativen Vollkommenheitsforderung der Bergpredigt, wie noch zu zeigen ist, die Einschränkung des Gebotes der Nächstensliebe auf bestimmte (pejorative) Formen der Freundschaftsliebe kritisiert und zur Feindesliebe entschränkt werden kann.“3

      Durch die Verwendung des Begriffs des ‚Nächsten‘ aus den alttestamentlichen Texten ist diese Entschränkung der Freundschaftsliebe schon angelegt: Auch der Fremdling, der unter euch wohnt (Lev 19,33f.), kann Nächster sein, auf den die liebende Zuwendung sich beziehen soll.

      Auch die durch den Folgevers (Mt 5,48) eingeforderte Vollkommenheit grenzt sich von der Reziprozitätslogik griechischer Freundschaftsethik und von einer Form der Gerechtigkeit innerhalb der Talionslogik ab. Die Vollkommenheit besteht gerade darin, sich – wie Gott selbst – den anderen zuzuwenden, auch und gerade dann, wenn ein asymmetrisches Verhältnis besteht und bestehen bleibt:

      ἔσεσθε οὖν ὑμεῖς τέλειοι ὡς ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος τέλειός ἐστιν.

      Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

      Diese Abgrenzung wird umso deutlicher, wenn man sich die Ausführungen im siebten Buch der Eudemischen Ethik etwas näher anschaut:

      >ὅτι γὰρ ὁ θεὸς οὐ τοιοῦτος οἷος δεῖσθαι φίλου, καὶ τὸν ὅμοιον ἀξιοῦμεν. καίτοι κατὰ τοῦτον τὸν λόγον οὐδὲ νοήσει ὁ σπουδαῖος: οὐ γὰρ οὕτως ὁ θεὸς εὖ ἔχει, ἀλλὰ βέλτιον ἢ ὥστε ἄλλο τι νοεῖν παρ᾽ αὐτὸς αὑτόν. αἴτιον δ᾽ ὅτι ἡμῖν μὲν τὸ εὖ καθ᾽ ἕτερον, ἐκείνῳ δὲ αὐτὸς αὑτοῦ τὸ εὖ ἐστίν.

      Weil Gott nämlich nicht so ist, dass er einen Freund braucht, erachtete es das Argument für richtig, dass auch der (dem Gott) Gleiche (keinen brauche). Indes, nach diesem Argument würde der hochwertige Mensch nicht einmal (etwas außerhalb seiner) denkend erfassen können. Denn nicht in dem Sinn (wie der Mensch) ist der Gott glücklich, sondern sein Glück ist höheren Ranges, so dass der Gegenstand seines Denkens kein anderer sein kann als er selbst. Der Grund aber davon ist, dass für uns das Glück eine Bezogenheit nach außen hat, für Gott aber gilt, dass er selbst allein sein eigenes Glück ist. (Abschnitt 1245b)

      Bei Aristoteles wird hier – durchaus in einer gewissen Spannung zu den oben zitierten Passagen aus der Nikomachischen Ethik – der kategoriale Unterschied zwischen Menschen und Göttern hervorgehoben: Menschen sind keine Götter! Und daher werden selbst die tugendhaftesten Menschen kein gottgleiches, und damit auch autarkes Leben ohne Freundschaften führen können. Gott4 ist sich in dieser Perspektive im mehrfachen Wortsinn selbst genug – wie oben bereits zitiert:

      οὐθὲν γάρ φασι δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν·

      Man sagt nämlich, dass die glückseligen und autarken Menschen keiner Freunde bedürften.

      In intertextueller Perspektive profiliert das erste Kapitel der Bergpredigt so eine Ethik, die in zwei zentralen Punkten der griechischen Freundschaftsethik gegenübersteht: Die matthäische Ethik fordert eine ‚höhere Gerechtigkeit‘ als sich nur innerhalb von Freundschaften auch freundschaftlich zu verhalten. Und sie begründet diese Ethik mit dem Verhalten Gottes, dessen wesentliches Kennzeichen gerade nicht eine Autarkie, sondern seine Zuwendung gegenüber den Menschen ist.

      Von dieser deutlichen intertextuellen Opposition ausgehend, gewinnen auch die Seligpreisungen zu Beginn von Mt 5 noch einmal eine andere Zuspitzung: Während im aristotelischen Freundschaftsideal gerade die weltabgewandten, autarken Menschen als μακάριοι verstanden werden, sind die μακάριοι bei Matthäus gerade die sich der Welt und dem Nächsten Zuwendenden: Trauer zu tragen (οἱ πενθοῦντες), Mitleid zu empfinden (οἱ ἐλεήμονες), Frieden zu stiften (οἱ εἰρηνοποιοί) und für eine andere Gerechtigkeit einzustehen und dafür verfolgt zu werden (οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης) sind wohl die deutlichsten Zeichen für diese matthäische Weltzugewandtheit.

      Und auch der in Mt 5,43 schon angeklungene und dann bei der Frage nach dem höchsten Gebot in Mt 22,39 komplett zitierte Vers aus Lev 19 unterscheidet sich von der aristotelischen Freundschaftsethik. Während Mt 22,39 (ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν.) Selbst- und Nächstenliebe auf eine Stufe stellt, betont Aristoteles – wie oben ausgeführt – den Vorrang der Selbstliebe bzw. Selbstfreundschaft (μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ / φιλητέον μάλισθ' ἑαυτόν).

      Schließlich sei noch bemerkt, dass sich die synoptische, insbesondere aber die matthäische Darstellung der Jünger mit Blick auf den Freundschaftstopos deutlich unterscheidet. Die Jünger sind gerade nicht, wie manche Unterrichtsentwürfe und Kinderbibeln5 vermitteln, ‚Jesu Freunde‘ – zumindest nicht in dem Sinn, wie Kinder und Jugendliche der Gegenwart Freundschaft verstehen.6 Gerade Mt 28,20 macht ja deutlich, dass das Modell einer Lehrer-Schüler-Beziehung nicht nur auf die Schülerinnen und Schüler im Matthäusevangelium bezogen werden soll, sondern die bleibende, gleichwohl asymmetrische, Beziehungsform mit dem Immanuel, auch über dessen irdisches Wirken hinaus, bezeichnet.

      2.3 Ein Ausblick ins Neue Testament und darüber hinaus

      Vielleicht


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