Catra Corbett: Wiedergeburt. Catra Corbett

Catra Corbett: Wiedergeburt - Catra Corbett


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zuvor nicht gehabt. Auch hatte ich niemals zuvor Blasen bekommen. Doch nun verwandelten die Schuhe meine Füße in zartes Hamburgerfleisch.

      Die Miene des Sanitäters verfinsterte sich, als er weiter an meinen Füßen zugange war. Obwohl er beim ersten Anblick meiner blasenübersäten Füße etwas erschrocken gewesen war, so war er ja Sanitäter bei einem Ultrarunnig-Wettbewerb und hatte wahrscheinlich schon viel Schlimmeres gesehen (das hoffte ich zumindest). Ich seufzte erleichtert auf, als die Flüssigkeit aus den bis zum Bersten vollen Blasen herausspritzte. Danach umwickelte er meine Füße mit Klebeband. Ja, dieses breite, silberne Klebeband, das man für Reparaturen im Haushalt verwendet, für undichte Wasserrohre oder kaputte Türgriffe. Bis zu jenem Moment wusste ich nicht, dass man damit auch nässende Blasen reparieren kann, doch das war nur eines der Dinge, die ich als Ultraläuferin noch zu lernen hatte. Das Klebeband fixierte die lose Haut der Blasen an meinen Füßen, und als ich aufstand, um zu sehen, wie es sich anfühlte, hatte ich das erste Mal seit Stunden wieder ein Gefühl der Erleichterung.

      Also nein, Kevin, das war’s noch nicht für mich.

      Wie die meisten Leute hatte ich mit dem Laufen begonnen, um gesund zu werden. Ich tauschte nächtelange Raves gegen morgendliches Laufengehen, und obwohl ich den Rausch des Tanzens bis zum Morgengrauen vermisste, war es keine Option für mich, meine Laufschuhe in die Ecke zu stellen. Wie viele begann ich damit, einmal um den Häuserblock zu laufen, was mich beinahe umbrachte. Am nächsten Tag ging ich wieder und merkte, dass ich es diesmal etwas weiter schaffte, bevor ich wieder beinahe tot umfiel. Ultramarathons entdeckte ich erst einige Jahre, nachdem ich zur Läuferin geworden war, und das eher zufällig. Diese unfassbar langen Rennen zogen mich in ihren Bann. Sie waren die Lösung, die ich gesucht hatte, um mein Leben umkrempeln zu können.

      Vier Jahre nachdem ich mit dem Laufen begonnen hatte, nahm ich an meinem ersten 100-Meilen-Rennen teil. Nur drei Monate zuvor hatte ich meinen zweiten 50-Meilen-Lauf im Napa Valley, in der Nähe meines Wohnorts im Norden Kaliforniens, hinter mich gebracht. Das Rennen hatte damals bei heftigem Regen stattgefunden, und ich war völlig durchnässt und zitterte am ganzen Leib, doch ich hatte Vertrauen in mich selbst. Ich wurde Letzte, aber viele weitaus erfahrenere Ultraläufer als ich hatten das Rennen aufgegeben. Ich war weitergelaufen. Also dachte ich, wenn ich bei miserablen Wetterbedingungen 50 Meilen laufen konnte, während ich (manchmal auch erfolglos) versuchte, den hüfttiefen Matschlachen auszuweichen, dann könnte ich auch 100 Meilen schaffen.

      Das nahm ich zumindest an.

      Den Rocky Raccoon wählte ich dann zufällig aus – ich las davon auf der Rückseite eines Ultraläufermagazins. Das war 1999, und zu jener Zeit gab es nur eine Handvoll 100-Meilen-Rennen im ganzen Land (mit Stand 2017 gibt es 17 100-Meilen-Läufe allein in Kalifornien). Ich hatte Glück, denn dieser UItratrail gilt als ein gutes Einsteigerrennen. Der Großteil des Laufes verläuft durch den Huntsville State Park, direkt im Norden von Houston. Nach fünf Runden durch Wald- und Sumpflandschaft hat man die 100 Meilen dann geschafft.

      Für Neulinge im Ultrarunning ist diese Strecke besonders geeignet, denn sie geht nicht über Hügel oder Berge und nicht einmal über besonders felsiges Terrain, wie der Name vermuten lässt. Der Großteil der Strecke ist flach und breit und führt über weichen Boden. Ein holzig modriger Geruch hing in der feuchtschwangeren Luft, und es fühlte sich an, als wäre ich im Dampfbad. Die 20 Meilen lange Schleife schlängelte sich durch dichte, verwachsene Wälder, die die Sonne blockten, durch matschige Sümpfe und entlang von Seen voller Kreaturen, denen ich in Kalifornien nie zuvor begegnet war. Am Eingang zum Gelände wurde man von einem Schild begrüßt, auf dem stand: „In diesem Park gibt es Alligatoren.“ Großartig!

      Ein weiterer Grund, warum diese Strecke bei Einsteigern so beliebt ist, ist das Rundenformat. Am Ende jeder Runde war da diese riesige Versorgungsstation in einem großen Zelt, so wie man es für spezielle Anlässe mieten kann. Dort konnten die Läufer essen und trinken, ihre Schuhe wechseln, sich umziehen, ihre wunden Stellen mit Vaseline behandeln und sich, natürlich, die kaputten und mit Blasen überzogenen Füße von einem Sanitäter mit Klebeband zusammenflicken lassen.

      Wenn man das Zelt betrat, forderte ein Schild diejenigen, die sich übergeben mussten, auf, sich links zu halten. Ich gehörte nicht zu dieser Gruppe. Zumindest noch nicht.

      Als ich aufstand und meine Füße wieder in die zu engen Schuhe zwängte, verschwanden die letzten Sonnenstrahlen hinter den Hügeln. Im Dickicht der Bäume war es bereits dunkel. Den Rest des Rennens würde ich in der Nacht laufen. Ich schaltete meine schwache Taschenlampe ein und sah ihren blassen Lichtkegel um die Bäume tanzen. Das erinnerte mich auf sonderbare Weise an mein altes Leben. Das Einzige, was noch fehlte, war der tiefe Beat der Tanzmusik, der durch meine Brust vibriert.

      „Viel Glück“, sagte der Sanitäter zu mir und versuchte dabei, seinen besorgten Blick zu verbergen. „Ich hoffe, das Klebeband hält.“

       Warum sollte das Klebeband denn nicht halten? Verwendet man es nicht so gut wie für alle Reparaturen?

      Nun, ich würde es sowieso bald herausfinden, und so machte ich mich auf meine nächste Runde.

      Runden zu laufen ist eher ungewöhnlich für so ein Langstreckenrennen. Meist bist du ganz allein da draußen in der Wildnis, vor allem bei Ultramarathons. Du kannst dich verirrt haben, am Verdursten sein oder irgendwo verletzt herumliegen, und die nächste Person, die dir helfen könnte, ist vielleicht mehrere Kilometer weit entfernt. Deswegen passen die Organisatoren immer auf, wenn du an einer Versorgungsstelle vorbeikommst. Wenn sie deinen Namen nicht von der Liste gestrichen haben, wissen sie, dass sie vielleicht nach dir suchen lassen müssen. Gelegentlich – speziell, wenn man schon ziemlich kaputt aussieht – fragen sie dich auch nach deinem Namen oder wiegen dich, um sicherzugehen, dass du nicht zu viel Gewicht verloren hast.

      Doch das hier waren 20-Meilen-Runden auf einem mit leuchtend orangen Schildern gut sichtbar markierten Kurs. Diese Schilder waren auch in der Dunkelheit gut zu erkennen und dienten als eine Art Sicherheitsnetz für Anfänger wie mich. Das bedeutete, dass Hilfe in der Nähe war oder dass es eine Raststelle gab, oder eine Wasserstation, bevor du dich wieder auf den Weg machst.

      Trotzdem, ein 100-Meilen-Lauf ist nie einfach. Zwar war der Weg gut geräumt, doch überall ragten Baumwurzeln aus dem Boden, die nur darauf warteten, dich in einem unaufmerksamen Moment zu Fall zu bringen. Und es ist schwierig, sich Stunde um Stunde auf denselben verdammten Weg zu konzentrieren. Irgendwann beginnst du, dich in deinen Gedanken zu verlieren, eine Art Schutzmechanismus, der dich davon abhält, über die nächste Meile nachzudenken – oder die nächsten 40. Stürze und die blutigen Knie und Ellenbogen, die man sich dabei holte, waren unvermeidbar.

      Das Klebeband wirkte als Dämpfung beim Auftreten für meine wunden Füße, und zum ersten Mal seit Stunden fühlte ich mich wieder besser. Ich konnte wieder laufen. Endlich fand ich Spaß daran. Ich hielt meine Taschenlampe vor mir, die ein fahles, gelbliches Licht abgab, doch es reichte gerade dazu aus, die Wurzeln und Steinbrocken zu erkennen, um nicht darüber zu stolpern.

      Als die Nacht schließlich hereinbrach, wurden die üblichen Geräusche bei einem Rennen immer dumpfer. Ich konnte das sanfte Trommeln der Laufschuhe am Boden hören, begleitet von einer Sinfonie zirpender Grillen, quakender Ochsenfrösche und summender Insekten. Das schwere Atmen der anderen Läufer klang wie eine leichte Brise, die durch die Bäume wehte. Ihre Stimmen waren gedämpft, so, als ob sie die Stille der Nacht nicht stören wollten. „Gute Arbeit“, sagten sie immer wieder, wenn sie vorbeiliefen.

      Zwei Läufer trabten an mir vorbei, die sich gegenseitig motivierten. Ich sah mich um und bemerkte überall kleine Gruppen von Läufern. Ich schien die Einzige hier zu sein, die niemanden hatte, der mit ihr lief.

      „Das sind sogenannte Pacer“, lächelte ein Läufer mir zu, als er an mir vorbeikam.

      Sein Pacer winkte mir zu.

      Pacer? Man durfte Pacer verwenden? Ich hatte keine Ahnung, aber es stimmte, bei 100-Meilen-Rennen darf man andere Läufer mitbringen, die mit dir laufen und vorwiegend dazu da sind, auf dich aufzupassen und dich davon abzuhalten, komplett zu verzweifeln.

      Ich bin ganz allein hier draußen, dachte ich mir.

      Als


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