Traumberuf Opernsänger. Gerd Uecker
raschen geistigen Reaktionsvermögens. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit zeitgenössischer, neuer Musik und Kunst. Deren Strukturen und inhaltliche Dimensionen zu begreifen, ist nicht eine Angelegenheit der musikalischen Einstudierung allein, sondern auch eine Frage der Fähigkeit, sich intellektuell mit diesen Stoffen auseinandersetzen zu können. Nur durch eine Erkenntnis auch der inneren Strukturen von Musiktheater kann man als Opernsänger glaubwürdige und überzeugende Umsetzungen zustande bringen. Dies setzt die Fähigkeit zur künstlerischen Identifikation mit der Vorlage in dem Sinne voraus, dass über das reine Einstudieren hinaus eine geistige Durchdringung des Stoffes, ob mit oder ohne Anleitung, stattgefunden hat. Neben einer musikalischen fordert die Gattung auch eine rationale Intelligenz. Das gilt übrigens nicht nur für zeitgenössische Kunst. Auch eine Oper wie COSÌ FAN TUTTE z. B. kann man heute als Opernsänger nur dann wirklich künstlerisch durchdrungen zur Aufführung bringen, wenn man die tragische Abgründigkeit des Stoffes begreift und sie nicht nur als ein komisches, oberflächliches Rokokogetändel auffasst. Dazu muss man sich aber in den Stoff und die Rahmenbedingungen seiner Entstehung einarbeiten und wissen, dass diese Oper in ihrer Entstehungszeit das Modernste war, was Europa an musiktheatralischer Kunst im Sinne einer Avantgarde zu bieten hatte. Dass auch heute noch diese Oper von einer ungebrochenen Modernität ist, liegt darin, dass fast »unopernhaft« die Illusion »Liebe« junger Menschen auf beschämende und brutale Weise zerstört wird. Dies übernehmen heute andere gesellschaftliche Mechanismen als der durch seine »Aufklärung« blind und töricht gewordene Don Alfonso in der Oper.
Oper, wie Kunst im Allgemeinen, lebt in der Gegenwart und reflektiert diese an historischen Konfigurationen. Man kann in der künstlerischen Opernarbeit nur zu überzeugenden Leistungen kommen, wenn man wach in der Welt lebt, wenn man seine künstlerische Arbeit mit Interesse an den Vorgängen in der Welt dazu in Bezug setzt, sie immer »erdet« hinsichtlich ihrer Bedeutung in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Stoffe, die in der Oper abgehandelt werden, umfassen ein schmales Spektrum. Es sind die großen Themen und Fragen, die uns Menschen in unserem Leben begleiten: Liebe, Macht und Tod und alles, was sich an komplementären Gefühlsspektren und an gesellschaftlichen Bezügen darum rankt. Nur mit Wachheit in der Wahrnehmung und mit dem Mut, sich immer wieder den letzten Fragen zu stellen und sie mit der eigenen Arbeit an den Rollen und Stoffen in einer lebendigen Beziehung zu halten, wird sich eine überzeugende Sängerpersönlichkeit entwickeln können. Oper verführt durch die Musik manchmal ein wenig dazu, in der Darstellung das Gefühlsmäßige zu betonen. Die eigenen intellektuellen Fähigkeiten, die zur Durchdringung seiner inhaltlichen Vorlagen einzusetzen wären, sollte der Opernsänger daher nicht schonen.
Talent
Zu allem Fleiß, zusätzlich zu Disziplin, physischer und psychischer Stabilität sowie Intelligenz wird ein Opernsänger etwas brauchen, das er sich nicht erarbeiten kann: nämlich Talent.
Talent ist eine »Gabe«, eine Begabung, die in der Persönlichkeit angelegt ist und den Menschen befähigt, bestimmte anspruchsvolle Aufgaben mit einer manchmal fast lustbetonten Leichtigkeit und mit höherer Perfektion zu erfüllen als andere Menschen – die dazu eben kein »Talent« besitzen, könnte man hinzufügen. Kant sagt es auf seine Weise: »unter talent versteht man diejenige vorzüglichkeit des erkenntniszvermögens, welche nicht von der unterweisung, sondern von der natürlichen anlage des subjects abhängt« (Kant 10, 236, zitiert nach Grimms Wörterbuch). Man hat es also oder nicht. Hinzuzufügen wäre dieser Definition noch, dass es nicht nur auf die Erkenntnis ankommt – die natürlich Kant in erster Linie interessiert –, sondern auch auf die Fähigkeit, Aufgaben praktisch umzusetzen. Der »grüne Daumen« des Gärtners zum Beispiel zeigt dies sehr anschaulich. Talent und Begabung können in einem erblichen Zusammenhang stehen. Vorrangig aber tragen Außenbedingungen wie Familie, Schule, soziales Umfeld etc. dazu bei, diese überhaupt zum Vorschein zu bringen und zu entwickeln.
Ein Talent muss man erkennen. Es gibt Talente die schlummern, die sich nicht von selbst, ohne geweckt zu werden, offenbaren. Oft ist es nur ein Zufall, der das Talent eines jungen Menschen zum Vorschein bringt. Ein verständiges Beobachten der Eltern und Lehrer aber wird über kurz oder lang zu der Erkenntnis führen, ob und wo bei einem Kind oder Jugendlichen besondere Begabungen, die ja meist verknüpft sind mit Neigungen, festzustellen sind. Hinsichtlich des Singens ist das wohl auch nicht so schwer herauszufinden, denn oft geht die Freude zu singen und zu musizieren auch mit einem Talent für die Musik einher. In einem späteren Entwicklungsstadium, also zwischen 15 und 20 Jahren etwa, sollte klar sein, ob ein erkennbares – und nicht nur ein herbeigewünschtes – Talent vorliegt, das einer Gesangsausbildung, die eventuell zum Beruf des Opernsängers führen könnte, eine überdurchschnittlich günstige Vorbedingung gewährt oder nicht. Man sollte sich nicht scheuen, die Frage nach dem Talent bzw. der besonderen Eignung möglichst objektiv beurteilen zu lassen. Talent zeigt sich in der Regel dem Fachmann sehr schnell. Natürlich ist es nicht messbar. Aber die Leichtigkeit, mit der sängerische oder interpretatorische Anforderungen gemeistert werden können, verraten das Maß einer Begabung, legen über kurz oder lang offen, ob überdurchschnittlich gute Voraussetzungen als Eignung für den Sängerberuf vorliegen oder nicht. Die eigene Beurteilung, dass man Talent habe, wird nicht selten von Fehleinschätzungen begleitet. Man sollte sich tunlichst bei dieser Beurteilung auf die Ansicht außenstehender Fachleute, und zwar nicht nur auf die des eigenen Lehrers, verlassen.
Ein Talent darf man nicht verkümmern lassen. Was macht man nun mit einem Talent, wie geht man mit ihm um – in unserem Fall, wenn ein junger Sänger eine außerordentliche Begabung für das Singen zeigt? Auf jeden Fall sollte man es nicht verkümmern oder unbeachtet lassen. Ein Talent ist ein Geschenk, das den Menschen herausheben kann aus durchschnittlichen Leistungs- und Lebensprofilen, aus der anonymen Masse derer, die sich redlich bemühen und dennoch keine außergewöhnlichen und besonderen Ergebnisse oder Leistungen vorweisen können. Verbindet man Talent zu diesem Beruf mit dem ernsten Willen, das Beste aus dieser Begabung zu machen, so hat man einen unschätzbaren Vorteil gegenüber aller Konkurrenz, die sich auf diesem Felde tummelt. Man hat sozusagen bevorzugte Startbedingungen.
Ein Talent muss man entwickeln. Talent und Begabung liegen nicht als etwas Fertiges im Menschen vor, sie müssen entwickelt werden. Der schlimmste Feind des Talents ist die Faulheit. Nur Talent zu haben ist noch keine Erfolgsgarantie, vielmehr ist es als ein Katalysator und Treibsatz für investierte Energie zu sehen, die man einsetzt, um ein Ziel zu erreichen. Talent macht es dem Sänger leichter, die Anforderungen, die die Musik an ihn stellt, zu bewältigen. Manche sängerischen oder musikalischen Probleme, mit denen andere sich herumplagen müssen, stellen sich vielleicht gar nicht dem, der über sängerisches Talent verfügt. Das Talent geht Hand in Hand mit stetiger Bemühung um die beste Leistung, damit es überhaupt wirksam werden kann. Manchmal erlebt man einen Sänger, von dem man sagt: »unendlich talentiert, aber faul«. Der Entfaltung des Talents – denn es ist ja in den meisten Fällen »eingefaltet« in eine noch nicht ausentwickelte Persönlichkeit – muss man aktiv die nötigen Bedingungen schaffen. Fleiß steht da an erster Stelle.
Auf seinem Talent darf man sich nicht ausruhen. Man darf sich auf sein Talent nicht einfach nur verlassen, schon gar nicht sich darauf zurückzuziehen in der Meinung: »Ich habe ja Talent, es wird alles schon deshalb gut gelingen!« Sich auf ihm auszuruhen, brächte herbe Enttäuschung mit sich.
Ein Talent muss gefördert werden. Steht es fest, dass eine besondere Begabung vorliegt, sollte man sie auch vorzeigen in dem Sinne, dass sie von außen gefördert werden kann. Hier empfiehlt sich eine umfassende Information z. B. darüber, wo es Unterstützung für die Gesangsausbildung gibt, wo Stipendien vergeben werden, welche Stiftung vielleicht insbesondere die Ausbildung und Fortbildung talentierter junger Sänger fördert. Man sollte aktiv diese Kontakte suchen und dann auch entsprechend pflegen. Die »persönlichen Netzwerke«, wie man heute dazu sagt, die man für sich bei dieser Gelegenheit aufbauen kann, bilden für den späteren Berufsweg immer einen positiven Hintergrund. Sich schon in einem frühen Stadium der Gesangsausbildung vor einer Jury oder vor anderen Auswahlgremien zu präsentieren, um eventuell in den Genuss besonderer Förderung zu gelangen, bringt wertvolle Erfahrung und schärft den Blick für eine realistische Selbsteinschätzung.
Man soll also durchaus