Traumberuf Opernsänger. Gerd Uecker
und Interesse, Hochschätzung und Ablehnung als Grundlage für die Einschätzung fremder Menschen entstehen zum großen Teil dadurch, ob sich ein visuell-ästhetischer Eindruck, den wir bei der ersten Begegnung mit ihnen gewinnen, in unsere Bewertungsstrukturen, die wir in uns tragen, positiv, neutral oder negativ abgleicht.
So auch in der Oper. Diese hat uns in ihrer Geschichte stets eine visuelle Scheinwelt vorgestellt. Die Kraft und die Magie der Musik hat dann in dieser optischen Scheinwelt eine zweite Wirklichkeit, einen Kunstraum entstehen lassen, der seine eigenen Gesetze schuf und der theatrale Behauptungen aufstellte, die wir als Zuschauer uns zu akzeptieren auch bereitfanden und nach wie vor bereitfinden. Die visuelle Scheinwirklichkeit der Bühne ist, neben der musikalischen, ein konstitutives Element der Oper. Insofern liegt es nicht im Bereich des Nebensächlichen, auch den visuellen Erwartungshaltungen des Menschen von heute Aufmerksamkeit zu schenken. Das bedeutet für die Besetzungsbüros der Opernhäuser eben auch den Blick auf die körperliche Statur der Sänger. Das ist durchaus legitim – vor allem, wenn wir bedenken, dass beim Film alles andere undenkbar wäre.
Für junge Sänger heißt das aber, neben ihrer musikalischen und sängerischen Ausbildung auch ihr äußeres Erscheinungsbild stets kritisch zu beobachten. Eine »normale« Figur – was immer man darunter und mit welchen flexiblen Grenzen auch verstehen mag – wird in jedem Fall hilfreich für eine Sängerkarriere sein. Kommt man dann obendrein noch gewissen Idealvorstellungen von Schönheit entgegen, so kann man das nur als eine Gnade der Geburt betrachten und alles tun, so lange wie möglich aus diesem Kapital berufliche Zinsen zu ziehen. Dies gilt keineswegs nur für Sängerinnen. Auch bei den Herren gibt es Gestalttypen, die sich bühnenmäßig günstiger darstellen als andere. Eine aufrechte Körperhaltung, freier Blick, sicheres Auftreten, alerte Bewegungsfähigkeit und ein natürliches körpersprachliches Repertoire sollen jedem jungen Opernsänger als unverzichtbare Zielpunkte seiner Ausbildung gelten. Obendrein sind diese genannten Komponenten eines äußeren Erscheinungsbildes überwiegend erlernbar. »Far una bella figura«, sagt der Italiener, »eine gute Figur machen« – dies stellt sicher für die Lebensbewältigung als solche einen guten Rat dar. Aber eine gute Figur »haben« ist für Bühnenkünstler, egal ob Mann oder Frau, ebenso eine wichtige Voraussetzung für Akzeptanz und Erfolg auf dem Berufsweg. In der Oper die Qualität der Stimme gegen das äußere Erscheinungsbild eines Sängers oder einer Sängerin zu stellen, ist müßig und letztlich nur für Journalisten oder Musikkritiker noch ein Thema. Denn allemal finden überhaupt nur jene Sänger auf die Opernbühne, die eine akzeptable Stimme haben. Erfüllen sie dann noch wichtige äußere Kriterien ihres Auftretens, so ist das hilfreich und ein Geschenk für sie und das Publikum gleichermaßen. Und wenn sie wegen erkennbarer künstlerischer Qualitäten dann in die erste Liga des Sängermarktes aufsteigen können, so schadet es nicht, wenn sie dabei auch noch gut aussehen.
Psychische Voraussetzungen
Opernsänger sein, heißt einen Beruf auszuüben, der viele Stresssituationen kennt. Das ist keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal für diesen Beruf. Jedoch charakterisiert ihn das mehr als manchen anderen. Allein die Tatsache, vor einem großen Publikum auf der Bühne zu stehen und singen zu müssen, würde vielen von uns den Hals zuschnüren. Für einen Opernsänger wäre das fatal. Mit diesem Problem hat sich dieser jedoch, wenngleich unter anderen Voraussetzungen, durchaus auch auseinanderzusetzen: Das sogenannte »Lampenfieber« kennt jeder, der sich vor einem Publikum, gleich in welcher Funktion oder Weise, einmal präsentieren musste. Ich erinnere mich an einen Vormittag in der Dresdener Semperoper, als eine junge Dame vom Servicepersonal auf der Bühne im vollbesetzten Haus ein Tablett mit einem Glas Wasser an das noch unbesetzte Rednerpult bringen sollte. Sie war derart aufgeregt, dass sie, weil ihre Hand so stark zitterte, das Wasser während des Ganges zum Rednerpult verschüttete. Beim Publikum löste dies Gelächter aus, was für die junge Dame die Angelegenheit psychisch nur noch schlimmer machte.
Gegen Lampenfieber ist letztlich kein Kraut gewachsen. Streng abzuraten wäre einem Sänger, gegen diese Form nervöser Anspannung Sedativa einzunehmen. Sie dämpfen nur und wirken sich negativ auf den Stimmapparat aus. Wenn man ausgeprägtes Lampenfieber hat, muss man als Opernsänger lernen, damit umzugehen, zu leben und zu arbeiten. Man muss es, wenn es nicht mit der Zeit ohnehin schwindet, akzeptieren und versuchen, es als einen positiven Zustand einer geistigen Spannung anzusehen. Erfahrungsgemäß legt sich eine oft sehr hohe Nervosität vor einem Auftritt meist nach einigen Minuten, wenn man dann auf der Bühne singt und agiert. Lampenfieber als ein leichtes Basisgefühl für jede Situation auf der Bühne ist etwas durchaus Positives, denn es hält den Geist und den Körper in einer Grundspannung, die wir normalerweise im Alltag nicht kennen und die Voraussetzung für alles Agieren auf der Bühne ist. Diesbezügliche Abgebrühtheit schlägt leicht um in scheinbar unbeteiligten Ausdruck, der vom Publikum sofort negativ vermerkt wird. Eiserne Nerven zu behalten, wenn einmal etwas schiefgeht, ist eine andere Sache: Da machen sich dann große Erfahrung und Berufsroutine im positiven Sinn bemerkbar.
Stress ist bei uns zu einem Modewort geworden, vor allem umgangssprachlich wird es oft verwendet, ohne dass Stress tatsächlich vorliegt.
Stress hat zwei Gesichter: Einmal befähigt er uns, besondere Herausforderungen besser zu meistern, zum anderen können durch ihn überdurchschnittliche Belastungen, sowohl körperlicher als auch psychischer Art, entstehen. Stress ist eine subjektive Befindlichkeit, mancher wird von einer Situation belastet, in der ein anderer noch keine Stressanzeichen an sich beobachtet. Das allgemeine Grundmuster der negativen beruflichen Stresssituation beim Opernsänger stellt sich letztlich dar als:
eine Befürchtung zu versagen,
eine Befürchtung, dass man Erwartungen nicht genügen könnte, weil dies oder jenes nicht optimal zur Ausführung gebracht würde (die Angst vor dem hohen Ton z. B.),
die Gewissheit, dass man eine Situation nicht mehr selbst beeinflussen oder steuern kann (die Vorstellung läuft, man kann nicht mehr aussteigen oder »entkommen«),
eine Angst, dass man sich unabwendbar und zeitnah einer besonderen Herausforderung zu stellen hat (die Minuten vor einem wichtigen Auftritt, das zeitnahe Datum für ein entscheidendes Vorsingen etc.) oder
die Situation, dass man ständig die quälende Frage mit sich herumträgt, ob man das Leistungspensum, das vor einem liegt, mit den eigenen zur Verfügung stehenden körperlichen und geistigen Ressourcen bewältigen könne.
Auch wenn er diese Situation für sich gerade gesucht und jahrelang darauf hingearbeitet hat, endlich auf der Bühne zu singen, steht der junge Opernsänger unter diesen nervlichen Belastungen, zu der auch noch andere Stressfaktoren hinzukommen könnten. Man will ja alles besonders gut machen. Dabei belastet die Vorstellung, dass man ja nichts mehr verbessern kann, wenn einmal ein Ton oder eine Phrase nicht wirklich geglückt oder ein Einsatz verpasst wurde. Auch kann das Wissen, dass man im Zusammenhang mit seiner Stimme nichts verbergen oder kaschieren kann, gerade in Situationen, in denen man sich vielleicht nicht in optimaler Form findet, nervlich belasten. Völlig natürlich ist es, dass einem jungen Opernsänger noch nicht jene Souveränität während der Darbietung eignet, die bei erfahrenen Kollegen dann interpretatorisch eine zusätzliche Qualität darstellt. Es liegt in der Natur der Sache, dass man als Anfänger auch in Hinblick auf die Schwierigkeiten der Partie nicht gleich jene Sicherheit erreicht hat, welche die Berufsjahre dann mit sich bringen. Ich kenne berühmte Opernsänger, die selbst nach der hundertsten Aufführung einer Partie immer noch vor gewissen Stellen ein Unsicherheitsgefühl verspüren oder Angst davor haben, wie dieser Ton oder jene Linie heute gelingen wird. In jedem Stimmfach gibt es gefürchtete heikle Stellen und gerade für den Anfänger gestalten sich solche manchmal als nervliches Purgatorium. Das belastende Moment dabei ist nicht die Stelle selbst, sondern die Minuten und die Angst davor.
Auch habe ich erlebt, wie junge Sänger manchmal sich psychisch belastet fühlen, wenn sie neben großen Stars oder berühmten Kollegen ihre kleine Rolle singen. Übertragungen im Rundfunk oder Fernsehen bringen gerade für den noch nicht erfahrenen Sänger besonderen nervlichen Druck mit sich.
Das »Sich-beweisen-Müssen«, sei es vor dem Publikum, der Theaterleitung oder der sängerischen Konkurrenz, ist