Das letzte Bier (eBook). Tommie Goerz
das Brüllen der Tiere anschreiend gefragt, »sind die schon alle gerettet?«
Da hatte der Kranzlers Luggi nur mit dem Kopf geschüttelt und hinübergedeutet auf das brennende Haus. Das Vieh war ihm wichtiger gewesen als die Alten – und allen anderen auch. »Die hätte man eh nicht mehr retten können«, sagten sie unisono, »das Haus stand doch schon lichterloh in Flammen.« Von der Versicherungssumme hat sich der Kranzler einen nagelneuen Hof gebaut, denn versichert sind die Bauern immer gut und »etwas Besseres als ein Hofbrand kann dir gar nicht passieren« hatte Sägenschmiet Wochen später beim Frühschoppen drüben im Steiner gehört.
Ja, er hatte heute Nacht, so gegen zwei war das gewesen, ein Poltern gehört, ein aufheulendes Schleppergeräusch und auch so ein Krachen, er konnte nicht sagen, wie lang, aber es hatte sehr massiv geklungen. Wie aus dem Ort, aus dem Zentrum sogar, aber er hatte sich keine Gedanken gemacht. Warum auch? Wenn etwas wäre, würden schon die Sirenen losheulen, wie bei jedem größeren Ereignis, und dann würden sie alle als Freiwillige ausrücken zur Feuerwehr, egal ob bei Unfall oder Brand. Das machten sie alle und gern: bei den Katastrophen ganz vorne mit dabei zu sein. Erste Reihe. Aber die Sirene war nicht gegangen, außerdem war er schlaftrunken, müde und überhaupt. Kurz darauf war es wieder still gewesen, nur ein Bulldog war noch vorbeigefahren, auch ungewöhnlich in der Nacht, und kurz darauf noch ein zweiter. Und Männerstimmen hatte er noch gehört, fiel ihm ein. Männerlachen. Er hatte sich also keine Gedanken machen müssen, alles schien in Ordnung, und er konnte sich umdrehen und einfach weiterschlafen.
Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Zielte, schleuderte bitterböse Blicke hinunter wie Lanzen und spießte einen nach dem anderen auf. Frontal, mitten ins Gesicht. Aber die Kerle wichen nicht aus, die schüttelten sich nicht einmal. Sein Blick blieb am Freundels Gerch hängen. Der hatte auch so seine Geschichte. Jeder hatte hier seine Geschichte. Der Freundel hatte sich, das war noch vor seiner, Sägenschmiets, Zeit gewesen und das hatte ihm sein Vorgänger, der alte Redlingshöfer erzählt, in den 1960er-Jahren Acker für Acker und Wald für Wald die ganzen Ländereien der alten Witwe Wicklein gekauft. »Für n Appel und n Ei«, wie man so sagte. Keiner hatte gewusst, woher er das Geld gehabt hatte. »Geliehen«, habe er damals gesagt, »und einen Teil davon hab ich geerbt.« Ein Onkel aus der Stadt war tatsächlich auch zuvor gestorben, es hätte also durchaus so gewesen sein und gestimmt haben können. Nur war im Jahr zuvor der alte Wicklein auf dem Weg nach Hause nachts spurlos verschollen. Hatte auf dem Viehmarkt in Pottenstein zehn Kühe verkauft, einen guten Preis dafür ausgehandelt, anschließend im Wirtshaus ordentlich einen getrunken, so wie man das eben machte, das gute Geschäft begossen und war dann das enge Bärental hinaufgelaufen, wo er seinen Hof hatte. Dort aber war er nie angekommen – und nicht nur der Wicklein war weg gewesen, sondern mit ihm auch sein gesamtes Geld. Man hatte nie jemandem etwas nachweisen können, aber dass der Freundel, der nie etwas gehabt hatte, im Jahr darauf plötzlich Äcker kaufen konnte, darüber hatte man schon geredet.
»Im Himmel kommt alles auf den Tisch«, hatte Sägenschmiet einmal wie beiläufig bei einem Schlachtessen drüben beim Freundels Gerch fallen lassen, da hatte der nur sein Messer in den Holztisch gerammt, dass es vibrierte, sich einen Schnaps eingeschenkt, Sägenschmiet zugeprostet und getrunken. Mehr nicht. Für Sägenschmiet war das wie ein Beweis gewesen.
Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Demonstrativ und laut. Was sollte er machen? Jeder hatte hier seine Geschichte, und jeder hatte auch eine dunkle, rabenschwarze. Doch das jetzt? Er hätte seinen »Schäfchen« einiges zugetraut, das aber nicht. Er dachte an die armen Seelen, die ihr Leben riskiert hatten, um am Leben zu bleiben. Um ein Leben leben zu können, das man auch Leben nennen konnte. Die Hunger, Not, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Elend entflohen waren, um in der Fremde, in einem fremden Land, ihr Glück zu versuchen. Aber die Bauernköpfe da unten? Die Eingeborenen? Denen war die Sau im Stall wichtiger als ein Mensch.
Sein Blick wanderte weiter durch die nach Menschen und Stall stinkende Luft und blieb am nächsten hängen, dem Wagners Heinz vom Sägewerk hinten am Bach. »Ich weiß alles über euch«, sagte sein Blick, »und ich werde euch nichts mehr durchgehen lassen. Macht euch gefasst auf andere Zeiten!«
Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Er blitzte hinunter und sah, dass die Gemeinde verstand. Jeder Einzelne. Denn zumindest die Männer warfen sich verstohlen vereinzelte Blicke zu. Die Frauen nicht, die sahen nur zu Boden.
Am Wagners Heinz blieb sein Blick länger hängen. Ihn sah er besonders intensiv an. So, dass es auch alle merkten. Denn der Wagners Heinz hatte im Nachbarort ein Haus und darin seine zwei Töchter, beide inzüchtig und geistig zurück, aber ganz gut gebaut. Die ließ er nie aus dem Haus – aber die Männer alle hinein. »Mid am Sagg überm Gsichd …«, hatte er einmal einen Gesprächsfetzen aufgeschnappt, doch dann hatten die beiden geschwiegen, weil sie den Pfarrer bemerkt hatten. Für Sägenschmiet aber war seither die Sache klar. Jetzt würde er dagegen vorgehen. Die Männer des Ortes, jeder Einzelne, gingen oft hinüber zum Wagner. »Auf ein Bier«, sagten sie immer, so hieß das hier. Alle wussten davon und keiner.
Der Kranzler, der Mirschberger, der Freundel, der Wagner, der Weisel – sie alle waren heute Nacht dabei gewesen. Doch wenn man sie fragen würde, wüsste keiner etwas, garantiert. »Ich? War die ganze Nacht über im Bett«, würden sie sagen, »da können Sie meine Erna fragen, die kann Ihnen das bezeugen.« Oder »meine Lisa«, »meine Marga«, meine »Christa« und wie sie alle hießen. Und die würden das kopfnickend bestätigen. Mussten sie auch, denn sonst würde ihnen was blühen, nicht zu knapp. Die Frauen standen zu ihren Männern, das war schon immer so. Sie deckten sie und verteidigten sie und ließen nichts auf sie kommen. Aber Liebe war das nicht, eher Angst, und Angst macht ja auch gefügig.
Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg, jetzt schon minutenlang. Brüllte schweigend seine Gemeinde an, schoss den Männern seine Blicke in die Augen, nahm einen nach dem anderen ins Visier und feuerte dann, einzeln und sehr intensiv. Dolchte sie mit seinen Blicken. So geladen war er schon lange nicht mehr gewesen. Beinahe zehn Minuten dauerte das jetzt schon an. Erstes Hüsteln machte sich unten breit, unruhiges Rutschen auf den Bänken, vereinzeltes Tuscheln, Scharren mit den Füßen.
»Ruhe!«, brüllte Sägenschmiet in das Getuschel und schlug es entzwei. »Unterhalten könnt ihr euch nachher drüben beim Steiner bei eure vier Bier. Hier bestimme ich, und hier wird nicht gequasselt! Hier haltet ihr gefälligst das Maul!«
Ein Grummeln ging durch die Reihen, verebbte, dann war es wieder still. Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg.
»Und ihr kommt hierher zum Beten?«
Schweiß stand ihm auf der Stirn.
»Verlogenes Pack!« Seine Lust war riesengroß, sie zu beschimpfen, ja sogar sie zu bestrafen. Das war etwas völlig Neues, dachte er sich, vielleicht ist das ja der Ton, den sie brauchen.
»Wer war dabei?«
Die Gemeinde schwieg.
»Wer war dabei?«, wiederholte er seine Frage.
Die Gemeinde schwieg weiter.
»Kranzler?« Vielleicht musste er es so anpacken: den Leuten ins Gesicht. Der Kranzlers Luggi, ein Berg von einem Mann, räusperte sich, wurde rot.
»Raus!«
Der bewegte sich nicht.
»Raus, habe ich gesagt! Du beschmutzt Gottes Haus!«
Kranzler bewegte sich nicht, ein Raunen ging durch das Kirchlein.
»Scher dich zum Teufel!«
Sägenschmiet wischte sich über die Stirn.
»Mirschberger?«
Der drehte seine Mütze in der Hand, wurde klein.
»Drecksau!«, bellte ihn Pfarrer Sägenschmiet an.
»Freundel?«
Der Pfarrer wischte sich mit seinem Tuch über Stirn und Nacken, holte sich in die Wirklichkeit zurück. Wie gerne hätte er das genau so getan, doch er verscheuchte seinen Tagtraum, stand auf der Kanzel und sagte nichts. Schwieg seine Gemeinde in einer Lautstärke an, die sie noch nie gehört hatten.