Das letzte Bier (eBook). Tommie Goerz
doch so mild und lieblich wie der erste Frühlingstag. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Das Kirchengebäude war viel zu groß für den kleinen Ort. Trotzdem war es heute gut gefüllt. Verteilt über die harten Holzbänke saß unten das krumme Bauernvolk, jede Familie auf ihrem seit Generationen angestammten Platz, und drückte mit seinen schweren, dunklen Jacken das hölzerne Gestühl. Doch heute sahen sie nicht nur hoch, glotzten ihn nicht nur interesselos an, sondern sie sahen tatsächlich interessiert zu ihm auf. Sie waren verwundert. Denn von der Kanzel herunter hielt er nur äußerst selten seine Predigt, das tat er nur an den vier, fünf hohen Feiertagen. Heute aber war ein ganz normaler Sonntag im Kirchenjahr. Warum also war der Pfarrer hinaufgestiegen? Diese Frage stand dem Volk unten deutlich ins Gesicht geschrieben. Und auch das konnte er aus ihren Gesichtern lesen: die Erwartung klarer Worte, die Erwartung einer Anklage, zumindest eines eindringlichen Ins-Gewissen-Redens – also tatsächlich einer Predigt. Und das hatten sie verdient nach allem, was vorgefallen war.
Trotzdem würde es sie kalt lassen. Sägenschmiet hatte für seine Schäfchen keine Hoffnung mehr. Seine Schafe. Seine bockigen, störrischen, dummen Schafe. Nein, so durfte er nicht denken!
Er stand auf der Kanzel und schnaufte. Dreiundzwanzig enge Stufen hatte der steile Aufgang hinauf, das brachte ihn außer Atem. Er musste sie immer mitzählen, damit er sich nicht vertat und nicht ins Leere trat bei der letzten Stufe, denn durch Bauch und Talar war der Blick zu Boden unmöglich, zumindest bei dem aufrechten Gang, den er sich, um Kraft und Autorität zu demonstrieren, vor seiner Gemeinde auferlegt hatte. Boden und Stufen könnte er nur sehen, wenn er sich vorbeugte, doch das kam nicht infrage, das sah nicht kraftvoll aus. Und nichts ist peinlicher, ja lächerlicher, und raubt dir auch noch den letzten Funken Autorität, als wenn du die letzte Stufe übersiehst und tollpatschig und mit den Armen rudernd in die Kanzel hineinstolperst oder wenn du, wie es ihm bei einem seiner ersten Gottesdienste passiert war, dich beim Hinuntergehen schon ganz unten wähnst, dann aber, denn es kam noch eine Stufe, ins Leere trittst, erst strauchelst, dann der Länge nach hinschlägst, die Bibel zu Boden poltert, das Skript deiner Predigt sich in Einzelblätter auflöst und in alle Richtungen segelt und du verdattert vor der Gemeinde liegst. Nicht einer war ihm damals zur Hilfe gekommen, hilflos waren sie alle gewesen und hatten ihn dümmlich wie die Unschuldslämmer aus ihren Bänken heraus angeglotzt. Immerhin hatte keiner gelacht, er hatte auch kein verdächtiges Glucksen gehört, nicht einmal ein unterdrücktes, und in dieser Situation war er weiß Gott hellwach gewesen! Ja, damals hatte er sich der Lächerlichkeit preisgegeben, so hatte er es empfunden. Ob die Gemeinde deshalb so distanziert zu ihm war? Es schien ihm, als habe er seither einen Makel.
Pfarrer Sägenschmiet stand auf der Kanzel und sah hinunter. Und er sah in Gesichter, die sprachen. Komm du uns nur!, sagten sie, jedes einzelne mit versteinertem Blick, sag’s uns! Du kannst uns eh erzählen, was du willst! Unsere Dinge hier regeln wir immer noch selber und so, wie wir es für richtig halten, da kannst du uns mit deinem christlichen Nächstenliebegerede gestohlen bleiben! Du bist keiner von uns und wirst nie einer von uns werden. Ihre Blicke waren wie Gitterstäbe, ging es ihm durch den Kopf. Sie sperrten ihn aus.
Wie immer, wenn das Kirchlein so voll war, roch es nach allen möglichen Körperflüssigkeiten und nach Stall.
Über was hatte er eigentlich reden wollen heute? Was hatte er vorbereitet gestern, als er noch keine Ahnung hatte, was in dieser unsäglichen Nacht geschehen würde? Lustlos hatte er eine ganz normale, wie immer nutzlose Predigt geschrieben, die an den tumben Hirnresten dort unten vorbeirauschen und ungehört verhallen würde wie alles, was er in den letzten zwanzig Jahren gesagt hatte. Warum tat er das eigentlich alles? Für wen? Und warum gingen die, die dort unten saßen, überhaupt in die Kirche? Warum kamen sie hierher? Weil sie sich quälen wollten auf dem harten Gestühl? Weil sie eine Predigt hören wollten? Weil sie Gedanken hören und sich Gedanken machen wollten? Gar beten wollten, einmal innehalten und zur Besinnung kommen? Hirnloser Quatsch. Nein, die kamen nur in die Kirche, weil es dazugehörte. Weil es schon immer so war. Weil man nach der Kirche auf dem Vorplatz zusammenstand und über alles Wichtige redete. Weil man vor den vier Bier beim Frühschoppen im Steiner drüben in die Kirche ging, genauso wie man vor dem Sonntagsbraten daheim zum Steiner zu seinen vier Bieren ging. Kirche musste sein, das gehörte zum geregelten Sonntagsablauf. War keine Kirche, fiel der Tag auseinander und geriet aus den Fugen, und das durfte nicht sein, ja, so war das. Kirche ja – aber Gottesdienst? Nein, das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Man diente nur sich allein, keinem Gott. Man kam mit seinem Leben auch allein zurecht, da brauchte man keinen, der sich einmischte.
Pfarrer Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Verschlagene Gesichter, rot geäderte Backen, kartoffelknollige Nasen, aufstehende Haarwirbel auf strubbeligen Köpfen, geknechtete Frauen mit niedergeschlagenem – züchtigem? Nein: gezüchtetem, von Züchtigungen geprägtem – Blick und herrischer Stolz bei den Männern, bucklige, inzüchtige Gestalten, wohin er auch sah. Schwielige Hände, oft auf Stöcke gestützt. Über was hatte er reden wollen? Aus dem Brief des Paulus an die Römer hatte er heute eigentlich lesen und predigen wollen. Aus Kapitel 15, wo es hieß:
Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben.
Das wollte er lesen? Dazu wollte er etwas sagen? Nein, heute musste er sich etwas anderes einfallen lassen. So gut die Stelle auch für heute gepasst hätte: Denen brauchte er nicht mehr ins Gewissen zu reden. Nächstenliebe? Menschlichkeit? Mitgefühl? Anderen helfen? Alles für die Katz.
Pfarrer Sägenschmiet stand auf der Kanzel und kochte innerlich. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. Dort unten saß der Weisel, ein Berg von einem Mann, von dem jeder wusste, dass – und wie – er seine Frau schlug und sie auch einsperrte, wenn ihm danach war. Der ihn von seinem Hof geschmissen hatte, brüllend und mit der Mistgabel in der Hand, als er ihn darauf angesprochen und zur Rede gestellt hatte.
Zwei Bänke weiter hinten saß der Mirschbergers Rudel, der gerade schamlos und vulgär in die Kirchenstille hinein ausgiebig hochzog, hervorwürgte und schluckte. Dessen Vater ihm, als er gerade ein paar Tage das Pfarrhaus bezogen hatte, gezeigt hatte, wie man mit Mäusen umging. Es hatte im Pfarrhaus gewimmelt vor Mäusen, und Sägenschmiet hatte mehrere Lebendfallen aufgestellt, die auch im Handumdrehen voll waren. Mit denen war er dann hinübergegangen in den Wald und hatte die kleinen Geschöpfe Gottes wieder ausgesetzt. Das hatte der alte Mirschberger von seinem Bulldog aus gesehen, nur mit dem Kopf geschüttelt und sich mit dem Finger an die Stirn geklopft. Als Sägenschmiet dann das nächste Mal die Fallen ausleeren wollte, war der Mirschberger gekommen und hatte sie ihm aus der Hand genommen. Hatte ihm mit einer Kopfbewegung wortlos zu verstehen gegeben, dass er mitkommen solle, war mit den Fallen hinüber zum Trinktrog der Kühe gegangen und hatte die Fallen eiskalt untergetaucht. Die Mäuse hatten nur kurz gestrampelt, ein paar Luftblasen abgesondert und waren dann tot. Sägenschmiet war entsetzt gewesen.
»So macht man das«, hatte der Mirschberger nur verächtlich ausgestoßen, so wie man ausspuckt, und war wieder gegangen. So achtlos ging man hier mit dem Leben, mit Gottes Schöpfung um. Und der junge Mirschberger, der Toni, der Sohn, der dort unten saß? War keinen Deut besser. Den alten Lugert hatte er damals einfach auf die Laderschaufel geworfen und hergefahren, als den auf dem Acker der Schlag getroffen hatte. Achtlos wie einen Kartoffelsack. Und die Mutter des Toni, die Frau des Rudel? Vegetierte daheim hinter geschlossenen Türen vor sich hin. Sie hatten sie eingesperrt und ließen auch keinen hinein. »Ins Gras beißen« solle sie endlich, hatte der Rudel einmal gesagt, »die ist doch zu nichts mehr gut. Frisst bloß und scheißt alles voll, weil sie nichts mehr halten kann.« Bis auf die Straße hinaus hörte man sie manchmal brüllen. Sie war hochgradig dement und hatte lebenslanges Wohnrecht und er auch die Pflegepflicht, so stand das im Übergabevertrag des Hofes. »Bei uns hat sich keiner einzumischen, und der geht’s nicht schlecht.«
Sägenschmiet stand auf der Kanzel und schwieg seine Gemeinde an. Sein Blick wanderte vom einen zum anderen. Da saß der Kranzlers Luggi, dessen Hof abgebrannt war vor etlichen Jahren. Blitzschlag hatte es geheißen, dabei war das Gewitter schon eine halbe Stunde vorbei gewesen, als sie die Flammen endlich bemerkten. Das ganze Dorf war gekommen zum Löschen und hatte geholfen, das Vieh aus dem Stall zu treiben,