Das letzte Bier (eBook). Tommie Goerz
meistens kamen die Erinnerungen von selber, da konnte er gar nichts tun.
Ja, der Wischer ist ein kluger Kopf gewesen. Der hat nichts gesagt, was nicht notwendig war. Nicht so wie der hier mit den grünen Haaren, der Dennis. Das hat ihm der Mörtel dann auch abgeschaut: einfach nichts zu sagen. Schweigen war immer das Beste, »sei Maul haldn«, wie er es nannte. Das ging doch auch alles niemanden etwas an und war ja auch schon so lange her. ʼ59.
Aber er war ja beim Wischer gewesen, hatte an den gedacht. Der Wischer. Der ist dann eines Tages nicht mehr gekommen. Einfach so, drei Tage lang. Und als sie dann bei ihm nachgeschaut hatten, hatte er tot am Küchentisch gesessen, nur vornübergekippt und noch eine halb volle Bierflasche vor sich. Die hatte er nicht mehr austrinken können, so viel Zeit hatte ihm der Tod nicht mehr gelassen. Eigentlich schade darum. Der war eine schöne Leich gewesen, so ruhig und friedlich und ganz. Nicht so zertrümmert und entstellt wie der Vater. Nicht die Augen so grässlich aufgerissen, dass man den Blick nie vergessen konnte. Und kein bisschen blutig, überhaupt keine Sauerei. Und so fürchterlich und endlos geröchelt hat er auch nicht.
Aber an Ruhe, geschweige denn auf seiner Bank ein Nickerchen zu machen, war für den Mörtel heute nicht zu denken, der grünhaarige Zwerg laberte ihn voll. Punkt und Komma und vor allem Pausen hatte der nicht gelernt. Hatten sie bei ihm in der Schule ausgelassen. Eineinhalb Seidla später aber hielt es der Mörtel nicht mehr aus. Stand einfach auf und ging hinaus, denn die ersten zwei Seidla kamen schon wieder, und dazu musste er über den Hof auf den Ort, das Örtchen. Den abseits liegenden Ort, den Ab-Ort, hier sagte man Abbodd. Den hatten sie jetzt neu gemacht, jetzt hatte der Fliesen und einzelne Becken. »Urinal« nannte man die, hatte die Mari gesagt, und er hatte »Original« verstanden. Auf Hochdeutsch konnte man das gar nicht verstehen, aber zwischen »Uhrinohl« und »Orchinohl« war nicht so ein großer Unterschied, wenn man nicht mehr so gut hörte. Früher hatte es da nur eine Dachrinne gegeben an der Wand und ein Blech dahinter, noch früher nur eine Rinne am Boden und Ölfarbe an den Wänden. War auch gegangen. Aber was ging es ihn an. Jetzt roch es halt nicht mehr so.
Auf dem Rückweg kam er an der Mari vorbei, die mit verschränkten Armen in der offenen Küchentür stand. Da raunte er ihr zu:
»Ihch bringnern umm. Ahmoll bringinern nu umm!«
Aber die Mari lachte nur kurz auf und sagte:
»Schmarr ned. An Drehg dussd.« – Was hieß: »Schmarre nicht. Einen Dreck tust du«, womit sie sagte: »Ach, rede doch nicht so einen Unsinn. Nichts wirst du tun, gar nichts, vor allem wirst du ihn nicht umbringen, niemals.« Grund genug, ihn sofort umzubringen, allein aus Trotz.
Auch dafür gibt es den Dialekt: dass man nicht so viel reden muss. Weil man im Dialekt mit sehr viel weniger Worten sehr viel mehr sagen kann – und auch noch punktgenauer. »An Drehg dussd«, damit war alles gesagt.
Als der Mörtel zurück in die Gaststube kam und sich setzte, fing der Dennis sofort wieder an. Da rief der Mörtel die Mari und bestellte ihm ein Bier und einen Obstler dazu.
»Einen Doppelten.« Also »An dobbldn«.
Ich mach ihn hie, dachte er sich, und wenn dafür meine ganze Rente draufgeht. Ich werde den jetzt immer so besoffen machen, dass er sich nicht mehr kennt. Und dass er irgendwann nicht mehr herkommt und mir meine Ruhe lässt.
»Prost, Dennis.«
»Prost, Mörtel. Danke. Hast du wohl heute Geburtstag?«
Der Mörtel brummelte nur irgendetwas, hob dann sein Glas und trank. Das hatte er damals auch erst einmal: einen Schnaps getrunken, einen doppelten. Aus der Flasche im Buffet. Und die Mutter hatte auf dem Stuhl gesessen und sich nur den Mund zugehalten, hatte gar nichts gesagt. Hatte tagelang nichts gesagt, da hatte er den Alten schon längst in die alte Sickergrube geschleift und hinuntergeschoben und Erde drauf. Da hatten sie den Kanal erst ganz frisch, und die Sickergrube brauchte eh keiner mehr.
»Trink!«, forderte er den Dennis auf. Der trank.
»Ach Mari, lass uns doch gleich die Flasche da.«
Er goss dem Dennis ein.
»Trink!«
Der Mörtel trank, um zu vergessen, der Dennis sollte trinken, um nicht zu vergessen. Und der Dennis trank und sagte Danke. So ging das fünf-, sechsmal, er schenkte ihm immer wieder nach, sich nicht, dann trank der Dennis nicht mehr. Er lehnte ab, wischte sich über das Gesicht, stürzte hinaus und kotzte.
Schwankend kam er wieder herein.
»Komm, Dennis, setz dich her, wir trinken einen«, lud Mörtel ihn gleich wieder ein. Die Mari stand am Tresen in der Kittelschürze und grinste, wohl wissend, was geschehen würde. Der Dennis schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht mehr.«
»Doch, doch, das geht schon noch, du musst es nur probieren.«
So nahm der Dennis doch noch einen Schnaps. Natürlich einen doppelten. Und noch einen. Dann endlich wankte er hinaus, endgültig.
Dem Bürgermeister hatten sie dann erzählt, der Alte wäre fort. Vom Tisch aufgestanden und raus, das hatte er zuvor schon ein paar Mal gemacht und jetzt wieder. Mal schnell Zigaretten holen, so nannte man das damals. Sehr viele haben sich so aus dem Staub gemacht und das Leben, das sie nicht mehr ertrugen, aber auch sehr oft Frau und Kinder, hinter sich gelassen. Kaputte Seelen, gemetzelt und zerfetzt vom Krieg und dann zurückgekommen ins normale Leben. Typen, für die nichts mehr normal war und die sich selber nicht mehr aushielten. Nur früher war der Vater immer wieder gekommen, weil er etwas zum Saufen brauchte und auch »sein Weib«. Nur diesmal kam er nicht mehr zurück, kein Mensch hat ihn seither wieder gesehen. Nur dem Mörtel kam er in den letzten Wochen immer wieder ins Gedächtnis. Vor allem abends, wenn er im Bett lag und es langsam dunkel wurde und er an die Decke schaute, wo sich die schwarzen Staubfäden ganz langsam in der Luft bewegten. Dieser zermatschte Kopf, das Hirn, das Blut. Doch danach war es endlich wieder ruhig daheim, die Mutter und auch er wurden nicht mehr geprügelt, angeschrien und gequält.
»Vielleicht ist er ja in den Fluss«, sagte der Bürgermeister, der den Alten kannte und es gut fand, dass er weg war. Kein Mensch hatte je wieder ernsthaft nach ihm gefragt. Nur sein Kopf tauchte jetzt immer wieder auf, im Kopf vom Mörtel. Und das Geräusch, das die Stange damals gemacht hatte, dieses Knacken, Knirschen. Und dieser Geruch nach Metzgerei. Und auch das Röcheln, das so lang noch angedauert hat.
»Jetzt hast du’s ihm aber gezeigt«, lachte die Mari, »ich glaube, der kommt so schnell nicht wieder und lässt dich in Ruhe.«
»Das hoffe ich, sonst …«
»Ja, was sonst?«
»Dann bringin umm. Ahmoll bringinern nu umn. Irngdwann isamoll so weid!«
»An Drehg dussd«, lachte da die Mari nur und machte ihm ein Bier.
Dann saß der Mörtel wieder dort im Eck, sah vor sich hin und sagte nichts. Versuchte, ganz für sich zu sein und nichts zu denken.
Dabei half ihm das Bier.
Das Schweigen
Inspiriert von einer wahren Begebenheit.
Als die Glocken in dieser Nacht endlich schwiegen, kehrte wieder Frieden ein in Demuthshüll.
Pfarrer Sägenschmiet war fuchsteufelswild. Er kochte geradezu. Und in diesem Zustand sollte er jetzt eine Predigt halten? Das konnte nur schiefgehen. Er war die enge Wendeltreppe zur Kanzel hinaufgestiegen und blickte über seine Gemeinde, und seine Gemeinde blickte zu ihm auf. Nein, sie blickte nur hoch. Wenn sie doch nur einmal zu ihm aufblicken und seine Mahnungen nicht nur anhören, sondern erhören und beherzigen würde! Denen aber konnte man jahrelang ins Gewissen reden – nur um dann immer wieder festzustellen, dass da nichts war. Nicht die geringste Spur. Gewissen? Nein, nichts, nada. Nur Eigensinn, Eigennutz und abgrundtiefe Gefühllosigkeit, so kam ihm das manchmal vor. Kalkül und Egoismus, gepaart mit grenzenloser Durch- und Hintertriebenheit. Ein seltsamer Schlag Mensch war das hier in den engen Tälern der Fränkischen Schweiz. Zerklüftet wie die