Das letzte Bier (eBook). Tommie Goerz

Das letzte Bier (eBook) - Tommie Goerz


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im Wohnwagen womöglich doch noch einmal an den Hals gesetzt, aus genüsslicher Rache für die Zähne seiner kleinen Petra? Damit die Kärwasau am nächsten Tag mit einem Schädel erwachte, die sie so schnell nicht mehr vergessen würde? Könnte durchaus sein ... aber das ließ sich nicht mehr feststellen, ich fragte auch nicht nach. Die Antwort wäre ohnehin »Nein« gewesen und das Klima hinterher vergiftet. Der Mann war, das stand fest, so oder so an den Folgen seines übermäßigen Alkoholkonsums gestorben. Also stellte ich qua ärztlicher Verpflichtung den Tod fest, auch die vermutliche Todesursache, und der hinzugezogene zuständige Arzt pflichtete mir später nach Inaugenscheinnahme bei. Die zwei Polizisten, die gerufen worden waren, schüttelten nur den Kopf. »Desmol habders ja mol richtich eigrohm, euer Kärwasau«, sagte der eine nur kopfschüttelnd. »Dass ihr ah immer sovill saufm müsst.«

      Danach saßen wir, ein paar der Männer und ich, noch eine Zeit lang im Grauen Wolf, schweigend und betreten. Und während draußen der Schiffschaukelbremser von den Bestattern abgeholt wurde, sang der Meindl leise:

      »Doh holnsnern edds, doh fährder edds,

      randvoll worer, der Simpl,

      todgsuffm hadder si am End,

      edds isser voll im Himml.«

      Kein »Djiiijuhuuu!« folgte auf das Gstanzl, das er gerade gedichtet hatte, auch kein sehr leises. Die Männer tranken schweigend, und irgendwann sang auch der alte Gemeindeschreiber Egersdörfer noch eins.

      »Der Dood, der Dood, der kummd einfach,

      der sochd si dir ned oh,

      sonsd könnsdnern ja dervohlaafm,

      und er stennerd bleed doh.«

      Ob der Zeilmann seit dieser Nacht gut schlafen kann? Ich weiß es nicht. Die Kärwasau auf jeden Fall wird seither in Oberspring nicht mehr »eigrohm«, der schöne Brauch ist tot.

      Die Kärwalieder stammen teilweise aus eigener Sammlung, teilweise von www.kaerwalieder.de

      Ahmoll bringinern nu umm

      »Ich bring ihn noch um. Eines Tages bring ich ihn noch um!«

      Man muss sich das gesprochene Wort in dieser Geschichte in breitem, ja breitestem, so gemütlich klingendem – aber nur so klingendem! – Fränkisch vorstellen. Wie dickflüssiges Starkbier, etwa ein undurchsichtiger dunkler Urbock. Nur so entspricht es dem Tempo und der Wirklichkeit. Also ungefähr so:

      »Ihch bringnern umm. Ahmoll bringinern nu umm!«

      Nur noch langsamer.

      Aber so kann man nicht schreiben – beziehungsweise: Klar, als Autor könnte ich natürlich so schreiben, aber kein Mensch könnte oder wollte das dann lesen, denn er bräuchte dafür zu lange und es passte nicht in sein Zeitbudget. Oder es strengte ihn zu sehr an, er müsste sich zu sehr konzentrieren – und dann legte er die Geschichte weg. Auch wenn er es vielleicht bereuen würde, aber das weiß er ja zu Anfang nicht. Deswegen geht es jetzt hier schön gesittet auf Hochdeutsch weiter und zu, aber damit leider auch viel zu schnell. Auf Fränkisch ginge in der Geschichte alles seeehhr viiiel langsamer. Laangsaaamer.

      Sei’s drum.

      Mörtel genoss schon seit hundert Jahren bei der Mari in der Wirtsstube hinten im Eck im schönen Halbdunkel seinen Ruhestand vor sich hin, dienstags bis sonntags, weil montags war Ruhetag, da wurde geschlachtet und die Herrschaft hatte für Gäste keine Zeit, sie musste wursten und Fleisch klein schneiden für Schnitzel für die Woche und so. An allen anderen Tagen aber saß Mörtel dort und genoss mit einer an ein Naturgesetz mahnenden Regelmäßig- und Verlässlichkeit von früh um zehn bis abends um fünf, manchmal auch sechs Uhr nahezu bewegungslos seine sechs, sieben Seidla; das ist jetzt kein Dialekt, sondern die heißen so und wären mit »Seidel« nicht richtig übersetzt. Denn »Seidla«, das sind die alten, dünnwandigen, hohen und henkellosen Einhalbliter-Biergläser, und ein Seidla ist immer das Glas mit Bier, während ein Seidel nur eine Maßeinheit und damit nichts wert ist. Und am Abend ging er wieder schräg über die Straße hinüber in das alte, etwas heruntergekommene Haus in sein Zimmer, um dort erst die Wand und später die Zimmerdecke mit ihren schwarzen Spinnfäden anzusehen, bis die Erinnerungen gingen und der Schlaf kam. Und die Erinnerungen kamen immer öfter, und das war nicht gut. Es waren keine guten Erinnerungen. Der Mörtel saß also so vor sich hin und schwieg, und in seinen Kopf, da konnte man nicht hineinsehen. Kein Mensch außer dem Mörtel wusste, was sich da tat.

      Im Grunde war dies das Leben, das er selbst gewählt hatte. Und auch wenn er zutiefst überzeugt war, dass man keine Wahl hat, war er, unlogisch genug, trotzdem davon überzeugt, eine gute Wahl getroffen zu haben. Denn mit sechs, sieben Seidla am Tag wurde die Welt doch halbwegs schön und erträglich …

      … solange diese kleine wichtigtuerische, nervige Stinkwanze mit ihrer grün gefärbten Haartolle nicht hier hereinkam und sich auch noch an seinen Tisch setzte …

      In diesem Moment aber ging die Tür auf, knarzte, und? Die kleine wichtigtuerische, nervige Stinkwanze mit ­ihrer grün gefärbten Haartolle kam herein. Also wieder so ein versauter Tag – was umso schlimmer war, als sich die Anzahl seiner Tage nach hinten raus ohnehin immer weiter verringerte. Wahrscheinlich gestaltete sich die für ihn noch zu erwartende Restzahl auch schon recht übersichtlich, aber das konnte keiner wissen. Und das gehörte auch mit zum Spiel: dass man erstens nicht wusste, wie lange das noch so gehen würde, und dass man zweitens nicht wusste, was dann danach kam und wer. Also wen man dann vielleicht alles wiedersehen oder wiedertreffen würde. Das machte ihm schon manchmal Angst. So trank er hier unten auf der Erde, wo er sich halbwegs auskannte, seine Seidla, wusste bei keinem, ob es nun schon das letzte war, und auch nicht, ob er sich derer noch in größerer Zahl würde erfreuen können. Beim alten Wischer war das genauso gewesen damals. Jetzt aber kam erst einmal diese Grünlocke mit den hochstehenden Haaren herein und wollte ihm bestimmt wieder etwas vom Leben erzählen. Ihm! Der hatte noch nichts erlebt, als dass man ihm den Arsch abgewischt und das Essen hingestellt hatte, der wohnte doch noch bei seiner Mutter, der arbeitete ja nicht einmal etwas. Kein Wunder, bei diesem Aussehen. So wollte den doch keiner haben. Aber tönte hier groß herum vom Leben, wollte ihm etwas erzählen, der Grünschnabel. Seit Wochen schon kam dieses nervige Stück Spätpubertät hier herein, setzte sich zu ihm – an seinen Tisch! –, fragte nicht einmal, sondern tat das, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, schüttete sich innerhalb kürzester Zeit zwei, drei Bier in das Loch unter der Nase, war dann besoffen und dachte, klugscheißen zu müssen. Auf großen Mann zu machen. Und machte dazu auch noch immer an diesem kleinen Ding herum, mit dem die heute alle telefonierten, Musik hörten, ­fotografierten und was weiß Gott noch alles. Mörtel verstand das ja alles nicht, aber er brauchte es auch nicht zu verstehen, er hatte es beinahe fünfundsiebzig Jahre lang nicht gebraucht und würde es bis an sein Lebensende auch nicht mehr benötigen. Internet – er wusste gar nicht, was das war. Aber Erinnerungen – das wusste er, was das war. Und auch, dass die, obwohl sie schon längst vergessen gewesen waren und gut aufgeräumt schienen, so plötzlich wieder hervorkamen und einen quälten. Tagsüber ging das ja meistens, da hatte er das Bier und die Stube und die Mari. Aber nachts kamen die Erinnerungen wie die bösen Geister. Dann konnte er die nur ertragen, denn fliehen konnte er ja vor ihnen nicht. Sie würden ihn doch immer wieder einholen.

      Zwei Tage war der jetzt nicht mehr da gewesen, und der alte Mörtel hatte schon gehofft, es werde wieder so wie früher und er könne in Ruhe vor sich hin sitzen und seine Seidla trinken, schön eins nach dem anderen, und hoffen, dass abends die Bilder nicht kamen, da ging die Türe auf und herein kam? Genau: die grün gefärbte Haartolle mit der Dummheit im Gesicht.

      »Bangg« sei das, also Punk, und das sei englisch, hatte er einmal erzählt, als der Mörtel so dumm gewesen war, ihn danach zu fragen. Nach seinen grünen Haaren und warum die so hochstanden und was das sollte. Nur – dann hatte diese kleine Rotznase erzählt und erzählt und erzählt und gar nicht mehr aufgehört, und am Ende hatte der Mörtel abends um sechs neun Bier gehabt, zwei mehr als das Maximum sonst, anders hätte er das nicht ausgehalten. Und dieses Grünhaar hatte gemeint, jetzt wäre er sein Freund. Mörtel war danach völlig


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