Esmeraldas Geheimnis. Karoline Toso
und seit sie nicht mehr wie früher als Esmeralda singend und tanzend auf Plätzen auftrat, drückte sie Freude oder Traurigkeiten durch die reiche Tradition der Psalmen aus. Sie, die berühmte Tänzerin, war als Hexe und Ketzerin zum Tode verurteilt worden und hatte im Kloster der Klarissen Schutz gefunden. Ein Leben lang war sie frei wie ein Vogel mit der Zigeunertruppe durchs Land gezogen, hatte sich mit ihrer Madre Sophie in Paris angesiedelt und ihre Leidenschaft zum Broterwerb gemacht, das Tanzen und Singen. Und wer war sie nun? Eine biedere, psalmodierende Duchesse mit einem Kind, das durch Schändung gezeugt worden war. Dieses Kind aber bedeutete nun ihr ganzes Glück. Wie viel Esmeralda steckte noch in ihr? Manchmal glaubte sie, ersticken zu müssen, wenn sie keine Räder auf der Wiese schlagen, keine Tänze, keine fröhlichen Gesänge darbieten konnte. Ihr Leben würde sie dafür riskieren, wieder frei durch die Lande zu ziehen, endlich wieder die geliebte Madre zu sehen, nachts unter freiem Himmel zu schlafen. Doch niemals wollte sie Claudines Glück dafür aufs Spiel setzen. Sogar der Kerker wäre ihr recht, wenn es ihrer Tochter nur gut ginge.
Schwester Maria Pilar blätterte noch in der Bibel, da stimmte die Duchesse den Psalm bereits auf Latein an. Claudine kannte ihn nur ansatzweise, weil ihr Latein noch nicht sattelfest war. Sie sang bekannte Passagen mit. Danach schwiegen sie. Die Schwester staunte über die leidenschaftliche Freude, mit der die Duchesse diesen Lobpreis gesungen hatte. Anschließend wurde dem Kind der gesungene Textteil erklärt. Es las einige Zeilen sogar selbst:
»Die Herrlichkeit des Herrn bleibe ewiglich.
Der Herr freue sich seiner Werke.
Ich will singen dem Herrn mein Leben lang.
Ich will loben meinen Gott, solang ich bin.«
Bald darauf war der Unterricht für diesen Tag beendet.
Baron de Bonarbre schlenderte am Gang vor dem Studierraum in Richtung Empfangsaal. Er hoffte, wie so oft, die kleine Prinzessin zu treffen, um ihr einen schönen Tag zu wünschen, vielleicht sogar ein wenig mit ihr zu plaudern. Durch sie war Duc Raphael viel gelöster, das Kind brachte eine neue Stimmung ins ganze Schloss. Julien de Bonarbre sehnte sich danach, mit dem Duc und dessen Tochter unbeschwert auf der Wiese zu spielen, sie Kleinigkeiten zu lehren, mit ihr zu singen. Darum beneidete er Anouk und auch den Schreiber Jean, die täglich Gelegenheit fanden, dem Kind zu begegnen, während er selbst nur aus einer sicheren Diskretion am Leben der Tochter seines Geliebten teilhaben konnte. Doch die Tür zum Studierraum stand offen. Am Tisch saß nur die strenge Nonne und wirkte ins Gebet vertieft. Kein Plaudern und Lachen tönte durch die Gänge. Das Kind würde sich verspäten, Julien durfte das aber nicht. Er betrat den Empfangssaal, wo Duc Raphael de Valois bereits wartete, ebenso der Schreiber Jean de Bouget, Madame Veronique de Valois, Pater Pedro von den Trinitariern und der Vogt von Chartres, Baron de Claireleau. Es ging um die Aufnahme einer wohlhabenden jüdischen Familie, die vorhatte, aus Valencia nach Chartres zu ziehen. Die örtliche Geistlichkeit wollte deren Ansiedlung verhindern, das Haus de Valois pflegte allerdings seit längerem geschäftliche Beziehungen zu den jüdischen Seidenhändlern, vor allem zur besagten Familie Jardinverde. Bei weiteren Verhandlungen wollte man den Pfarrherrn, aber auch Monsieur Jardinverde mit einbinden. Als Madame Agnès den Saal betrat, erhoben sich die Herren und begrüßten sie mit einer Verneigung. Freundlich nickend dankte sie. Nur ihre Schwiegermutter begrüßte die junge Duchesse mit einem Knicks.
»Guten Morgen, meine Liebe!«, antwortete diese. Ihr war die Familie Jardinverde ein besonderes Anliegen, da sie während ihrer Reisen gern in deren Villa in Valencia einige Tage verbrachte.
»Agnès, ich hoffe, Ihr könnt mich einmal nach Valencia begleiten, vor allem da Ihr ja erstaunlich gut Spanisch sprecht.«
Lächelnd errötete Agnès de Valois und tauschte einen kurzen Blick mit dem Schreiber Jean de Bouget, der vor nunmehr über fünf Jahren mit ihr nach Chartres gekommen war. Ihre Gedanken flogen zu den damaligen Turbulenzen, als sie sich für Agnès de Blancheforet, die Nichte der Äbtissin, ausgeben musste, um der Inquisition zu entkommen.
»Madame, was meint Ihr zu diesem Vorschlag?«, sprach Raphael sie an und lächelte, als er bemerkte, dass sie wieder einmal ihren Träumereien nachhing.
»Pardon, ich war wohl etwas in Gedanken. Um welchen Vorschlag handelt es sich?«
»Die Familie Jardinverde möchte den Palast des verstorbenen Marquis Alfons de Sanslieu erwerben. Ich hatte mich verbürgt, bei dieser Transaktion behilflich zu sein und Kontakt zum Erben de Sanslieu aufgenommen. Das war gar nicht so einfach wie gedacht.«
Der Duc unterbrach sich mit einem erinnernden Kopfschütteln und lächelte.
»Mein Vorschlag wäre es, alle Beteiligten, aber auch die Geistlichkeit von Chartres, zu einem Bankett auf unser Schloss zu laden, wo Monsieur Jardinverde seinen Wunsch übermitteln kann, dass er eine beträchtliche jährliche Summe für die Kathedrale von Chartres spenden möchte, auch wenn er als Jude deren Segen nur von außen betrachten kann.
»Warum denn das?«, wollte Agnès wissen.
»Na, weil dieser Geldsegen die hohe Geistlichkeit bestimmt milde stimmen wird.«
»Nein, ich meine, warum kann er die prächtige Kathedrale nicht auch von innen sehen? Im Sommer ist es wunderbar kühl darin. Dieser besondere Ort lässt Sorgen zur Ruhe kommen. Wenn man auch als Jude unseren liturgischen Feiern nicht beiwohnen kann, so darf doch jeder Mensch guten Willens den Raum betreten, oder nicht?«
Pater Pedro schluckte und lief rot an. Dem Vogt klappte der Mund vor Fassungslosigkeit auf.
»Madame, Ihr habt wieder einmal sehr gewagte Vorstellungen. Die Idee, Juden Zugang zu unseren geheiligten Räumen zu gewähren, könnte man fast als ketzerisch ansehen, wären sie nicht gerade aus dem Mund einer Duchesse gekommen«, versuchte Madame Veronique ihre Schwiegertochter diskret, aber so deutlich wie möglich in ihrem Eifer zu bremsen. Raphael teilte so manche Gedankengänge seiner Gemahlin, fand aber, dass die meisten davon unwirkliche Träumereien seien. Ginge es nach ihm, würde auch er jegliche Unterwerfung an Stand und enge Moral über Bord werfen, aber da waren Verbindlichkeiten. Als Duc musste er Recht und Ordnung in seinem Hoheitsgebiet gewährleisten. Für Wunschvorstellungen blieb kein Raum. Sie waren gut für angeregte Gespräche mit seiner außergewöhnlichen Gemahlin, aber nicht für die Realität. Er lächelte ihr zu und sagte laut: »Ich schlage vor, Monsieur Jardinverde vor einer weiteren Zusammenkunft im Schloss einen Besuch in seiner jetzigen Residenz abzustatten und diese Frage mit ihm zu klären. Womöglich liegt der Familie gar nichts am Besuch der Kathedrale, denn die Spende gilt ja vielmehr der christlichen Akzeptanz, Juden in unserem Gebiet Wohnrecht zu gewähren.«
Man vereinbarte einen Termin für solch einen Besuch und schickte die Nachricht durch einen Boten an Ruben Jardinverde. Danach wurden andere Notwendigkeiten besprochen. Agnès fragte sich, ob die Bestimmung gerecht war, von Juden so strenge Auflagen zu verlangen. Ihre Zigeunertruppe von damals war von der Bevölkerung auch oft abgelehnt worden. Und dennoch, die Darbietungen galten allen als etwas Besonderes, man applaudierte und warf den Gauklern Münzen zu. Sich anzusiedeln war allerdings nur in Paris möglich, wo sie unbemerkt im sogenannten ›Hof der Wunder‹ gelebt hatten. In einem Gebiet wie hier rund um Chartres allerdings wäre es nicht möglich, als Zigeuner in einem Haus zu leben, umgeben von braven Christen. Ihre Sehnsucht, die Madre wiederzusehen, Quasimodo auf seinem Glockenturm in der Notre-Dame zu besuchen, oder die Truppenmitglieder im ›Hof der Wunder‹, wurde so groß, dass ihr der Atem stockte und sich ein drückender Schmerz auf ihre Brust legte.
»Meine Liebe, wenn Euch nicht gut ist, könntet Ihr Euch die Beine im Park vertreten. Auch ich möchte ein wenig an die frische Luft, das Wichtigste dieser Besprechung ist ja schon erledigt. Wollt Ihr mich nach draußen begleiten?«, meinte Madame Veronique leise. Agnès nickte. Man erhob sich mit einer kleinen Verbeugung, als die Damen den Saal verließen.
Nach einigen schweigenden Augenblicken fragte Madame Veronique, was Agnès bereits befürchtet hatte: »Darf ich hoffen, dass Euer Unwohlsein auf ein erfreuliches Ereignis schließen lässt? Unsere liebe Claudine zählt bald fünf Jahre und wartet noch immer auf ein Brüderchen.«
Die sonst so verschlossene und kühl wirkende Frau errötete bei der Vorstellung, möglichst